„Kasachstan ist aus sicherheitspolitischen Gründen extrem wichtig für Russland“ (Krass und Konkret)
Transkript des Gesprächs mit Ulrich Heyden über die Proteste in Kasachstan und die Hintergründe.
In Kasachstan finden gewalttätige Proteste statt. Offenbar sind manche der Protestierenden auch bewaffnet und es gibt Schießereien mit der Polizei. Der Präsident hat Russland und, wie man sagt, die russische Mini-Nato aufgefordert, ins Land zu kommen und die Regierung zu unterstützen. Die Proteste sind angeblich wegen der Erhöhung der Gaspreise losgegangen. Das klingt ganz nachvollziehbar. Weiß man denn, wer sich daran neben den einfach Unzufriedenen beteiligt?
Ulrich Heyden: Es gibt keine Führer, zumindest sind sie nicht öffentlich bekannt. Der kasachische Präsident Tokajew hat in seiner Ansprache erklärt, dass die Aufständischen vernichtet werden, der Aufstand soll zermalmt werden. Er hat sich ausdrücklich abgegrenzt von Forderungen aus dem Ausland, mit der Protestbewegung einen Dialog zu führen, und gesagt, das seien Terroristen, die im Ausland ausgebildet worden sind. Er hat aber keinen Namen genannt, wer dahinter stehen soll. Russische Experten nennen die Türkei und Großbritannien, aber auch da gibt es keine konkreten Angaben. In Kasachstan gibt es 70 ausländische Nichtregierungsorganisationen, also vom Ausland unterstützte Nichtregierungsorganisationen. Tokajew hat auch die Presse angegriffen, die Massenmedien hätten einen negativen Einfluss und würden die terroristische Bewegung, wie er sagt begünstigen.
Das ist so ungefähr der Tonfall, aber es gibt, wie gesagt, keinen Namen. Also wer sind die Führer? Es gibt ein Gerücht, dass Kämpfer aus Kirgistan mit der Aufgabe, diese Unruhen anzuzetteln, eingeschleust worden seien. Die Protestwelle fand ja im ganzen Land auf einen Schlag in zahlreichen Städten statt.
Ich dachte, es ging im Westen los und hat sich dann verbreitet.
Ulrich Heyden: Ja, genau. Im Westen ging es los, wo die Zentren der Ölproduktion am Kaspischen Meer sind. Da gab es vor zehn Jahren schon mal Unruhen, als Ölarbeiter streikten. Dabei gab es auch Tote. Interessant ist die soziale Situation. Der Durchschnittslohn in Kasachstan beträgt 500 Euro. In dieser westlichen Region, wo die Öl- und Gasproduktion konzentriert ist, liegt der monatliche Durchschnittslohn bei 1000 Euro. Das sind keine üppigen Löhne. Aber man muss sagen, aus Kasachstan kommen nur 64.000 Arbeitsmigranten nach Russland. Das ist ein Gradmesser, wie groß die Armut in einem Land ist. Aus Kirgistan, Tadschikistan oder Usbekistan kommen im Unterschied dazu mehrere Millionen Arbeitsmigranten nach Russland.
Die soziale Situation in Kasachstan war sehr angespannt in den letzten Jahren, in diesem Jahr gab es eine Inflation von über 10 Prozent, offiziell, glaube ich, werden acht Prozent angegeben. Die Preiserhöhungen für Gas waren ein Zündfunke. Jetzt gibt es zahlreiche Verschwörungstheorien, wer hinter den Aufständen steckt. Auffällig war, dass russische Experten gleich nach Beginn des Aufstands die kasachische Regierung für diesen unbedachten Schritt der Gaspreiserhöhung kritisiert haben. Praktisch wurden die Subventionen zurückgenommen und dann wurde das Gas über die Börse gehandelt, wodurch die Preise nach oben schnellten. Es soll Absprachen zwischen kasachischen Firmen über den Preis gegeben haben.
Wie verhält sich denn die Opposition im Lande zu den Aufständen? Hört man da irgendwas?
Ulrich Heyden: Also da habe ich bisher nichts gehört. Es wurde gesagt, die Opposition sei bunt gescheckt, also von Anhängern der Scharia bis hin zu westlich orientierten Intellektuellen und Leuten, die im Internet unterwegs sind, junge Menschen, aber auch viele noch sagen ärmere Jugendliche.
Ich meinte eigentlich die politisch organisierte Opposition, sofern es die überhaupt gibt.
Ulrich Heyden: Da habe ich jetzt wenig Ahnung. Ich weiß nur, dass die wichtigsten Oppositionsführer im Ausland sind, darunter auch Oligarchen, die mal Minister waren. Einer lebt in Kiew oder Paris, von wo er angeblich über Facebook die Proteste koordiniert haben soll. Auch eine dunkle Geschichte. Es ist schon lange so, dass auch unter dem langjährigen Präsidenten Nasarbajew immer wieder Oligarchen gab, die in Konflikt mit ihm geraten und dann emigriert sind. Aber über eine richtige, also legale Opposition ist mir nichts bekannt. Gibt es die? Keine Ahnung. Aber in dieser zugespitzten Situation, wo der Präsident die Presse kritisiert, dass sie den Terroristen Hilfestellung leistete, ist es kaum vorstellbar, dass überhaupt eine legale Opposition tätig ist.
Gibt es denn eine freie Presse?
Ulrich Heyden: Also eine freie Presse gibt es. Die Namen sind mir jetzt nicht bekannt, aber es gibt Medien, die berichten und vom Präsidenten scharf kritisiert werden. Das ist ja schon ein Zeichen, dass eine gewisse Freiheit der Presse vorhanden ist.
Ich glaube, etwa ein Viertel der Bevölkerung ist russisch oder russischsprachig?
Ulrich Heyden: 3,5 Millionen von 18 Millionen sind russisch, sogar ethnische Russen, die Hälfte der Bürger Kasachstans sprechen russisch und russisch ist auch eine der beiden offizielle Sprachen, wobei das Kasachische stärkeres Gewicht hat und Russisch in den Schulen auch nur eine Stunde in der Woche unterrichtet wird.
Es gibt auch Kritik von russischen Medien, die sagen, dass die Russen nicht so stark wie in der Ukraine unter Druck sind, aber es herrscht schon gewisses Unwohlsein darüber, dass Kasachstan den kasachischen Nationalisten, die es auch gibt, schon seit vielen Jahren zu viel Raum gibt. Bei Demonstrationen soll es auch antirussische Slogans gegeben haben, aber da ist nichts bekannt, aber im ganzen Land war vor allen Dingen der Hass gegen Nasarbajew, der 30 Jahre Präsident war, und gegen seine Familie vorherrschend. Es wurden Straßenschilder mit seinem Namen zerstört und Denkmäler gestürzt.
Nasarbajew war nach seinem Rücktritt noch Vorsitzender des Sicherheitsrats, eine wichtige Funktion in Kasachstan. Tokajew hat ihn jetzt da rausgeschmissen. Gibt es da jetzt Konflikte zwischen der aktuellen Regierung und dem alten Herrschaftssystem?
Ulrich Heyden: Das ist schwer zu sagen. Nach Gerüchten haben zwei Leiter des Geheimdienstes ihren Posten verloren. Einer davon ist ein Verwandter von Nasarbajew. Das hat sich nicht bestätigt, aber der Vorsitzende des Geheimdienstes wurde abgesetzt (und des Hochverrats angeklagt). Dann wurde von einem früheren Informationsminister die Behauptung aufgestellt, dass der Geheimdienst nicht nur verschlafen, sondern einfach zugeguckt hat, wie diese Gruppen, die terroristisch vorgehen, Ausbildungslager betreiben, in denen sie sich vorbereiten. Er hat damit den Geheimdienst direkt angegriffen, der Tokajew in Gefahr gebracht habe.
Du sprichst von Terroristen. Terroranschläge gab es ja offenbar nicht. Es gab zwar Brandanschläge und Schießereien, also Auseinandersetzungen, aber kann man wirklich von einer Terrororganisation sprechen?
Ulrich Heyden: In dem Sinne, wie wir gewöhnlich Terror definieren, also mit Anschlägen auf friedliche Menschen nicht. Es gab aber eine Art von Terror, zumindest in Almaty und einigen anderen großen Städten. Eine Bereitschaft, erst mal friedlich zu demonstrieren, war irgendwie nicht sichtbar, sondern es war eigentlich sofort gewalttätig. Zentrale Gebäude wurden besetzt und angesteckt, in Almaty zum Beispiel das Gebäude des Geheimdienstes. Die Stadtverwaltung ist komplett ausgebrannt. Almaty ist die größte Stadt mit zwei Millionen Einwohnern,früher war es die Hauptstadt. Im russischen Fernsehen wurden besonders drastische Bilder gezeigt. Aber da war eben zu sehen, wie besonders militante Demonstranten mit Stöcken schlugen, das sah doch irgendwie trainiert aus. Gut, es gab massenweise Plünderungen. Zum Beispiel wurde gezeigt, wie ein Baufahrzeug in einen Supermarkt gefahren ist und diesen so für Plünderer geöffnet hat.
Im Vergleich zur Ukraine gab es diese Eskalation. Was sich in der Ukraine über Wochen hinzog, passierte hier in vier Tagen, also sozusagen von null auf hundert. Es wurden nicht auf Transparenten Forderungen gemacht, es wurde einfach nur gerufen, der alte Präsident, immer noch Vorsitzender des Sicherheitsrates war, müsse weg. Es wurde etwas angesteckt und mit Knüppeln prügelnd vorgegangen, Polizisten wurden entwaffnet und ihr Waffen eingesammelt. Polizisten oder Mitglieder von Sondereinheiten mussten auf die Knie und sozusagen Buße tun, nicht wenige Polizisten sollen übergelaufen sein.
Nach dem Gesamtbild war die Macht schwach oder sah so aus, weil auch die Zahl der Demonstranten wesentlich höher war als die der Sicherheitskräfte. Die konnten gegen diesen massiven plötzlichen Auftritt eigentlich nichts machen.
Das unterschied sich dann auch von Belarus, wo es letzten Sommer ja auch viele Proteste und Demonstrationen gab, aber dort war die Macht nie wirklich gefährdet.
Ulrich Heyden: Auch da waren die Polizisten in der Minderheit gegenüber den großen Massenaufmärschen, aber es gab nicht so einen Gewaltausbruch wie hier. In den autoritären Staaten Zentralasiens, die jedenfalls keine westliche Demokratie haben, fällt schon auf, dass dieser Faktor, dieses eruptive Gewalt, sehr typisch ist. In Kirgistan gab es drei gewalttätige Umstürze 2005, 2010 und 2020, bei denen Präsidenten gestürzt wurden. In Usbekistan – genauer in Abidschan – gab es 2005 einen angeblichen Massenaufstand, der mit brutaler Gewalt gestoppt wurde.
Die Anwesenheit jetzt von russischen Soldaten und von anderen Staaten wie Armenien, Tadschikistan und Weißrussland hat psychologischen Charakter. Wie groß das Kontingent ist, ist bislang nicht bekannt. Ich schätze mal, das sind 1500. Ungefähr 70 Flugzeuge flogen von Moskau nach Kasachstan, natürlich auch mit militärischem Gerät, Funkwagen etc. beladen. Demonstriert wird damit die Unterstützung für die kasachische Macht, man zeigt: Wir sind vor Ort. Die russischen Truppen werden angeblich nicht in Kampfhandlungen eintreten, sondern nur die Infrastruktur sichern, sich im Hintergrund halten und nur bei Provokationen antreten. Man kann natürlich mit diesen 1500 Soldaten auch nicht Zehntausende im ganzen Land im Schach halten.
Erst einmal geht es nur um psychologische Wirkung. Vielleicht ist es auch ein Vorauskommando, man weiß es nicht. Noch ist eine Ausgangssperre in Almaty und in vielen anderen Städten verhängt, die Leute werden aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Das Internet funktioniert nicht. SMS funktioniert, aber man kann sich nur per Festnetz anrufen. Auch das ist aber schwierig. Auf den Straßen liegen Leichen und es ist Verwüstung sehen.
Kann man sagen, was Russlands Ziel ist? Den herrschenden Präsidenten stützen, für Ruhe und Stabilität zu sorgen? Es ist ja auch etwas seltsam, dass ausgerechnet jetzt im Vorfeld der Gespräche mit den USA und der Nato diese Proteste in Kasachstan stattfinden.
Ulrich Heyden: Das kommt für Russland sehr, sehr ungünstig, weil natürlich alle Welt davon redet. Natürlich ist Kasachstan eine unabhängige Republik, und ich habe noch nicht den großen Aufschrei gehört, wie Russland dazu kommt, dahin Truppen zu schicken. Man hat schon eine gewisse Berechtigung gesehen, dass Russland auf Bitten von Tokajew Truppen hinschickt. Aber für Russland herrscht höchste Alarmstufe. Das wird natürlich nicht so gesagt, aber es ist faktisch so, weil Kasachstan zwischen Russland und den asiatischen Staaten Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Afghanistan liegt und sozusagen einen Puffer gegen das Einsickern von Extremisten aus Afghanistan oder auch von solchen aus dem Land selbst ist, die in Syrien gekämpft haben und die jetzt zurückgekommen sind. Also Kasachstan ist aus sicherheitspolitischen Gründen extrem wichtig für Russland, es ist ein Gürtel der Stabilität.
Jetzt steht Russland vor dem Problem, wie man diese Macht stabilisieren kann. Russland hat eine 7500 Kilometer lange Grenze zu Kasachstan, die überhaupt nicht zu überwachen ist. Das ist, glaube ich, die längste Grenze zwischen zwei Staaten auf der ganzen Welt. Der Weltraumbahnhof Baikonur ist immer noch wichtig für die russische Raumfahrt. Dazu kommt, dass das Land neben Weißrussland für das Modell einer Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft und für andere politischen Institutionen, mit denen Russland versucht, seine Nachbarn zu vereinen, das wichtigste Standbein ist.
Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Tokajew sich von Russland absetzen will, im Gegenteil holte er ja die russischen Truppen. Aber natürlich sind die Russen sehr besorgt, dass damit eine antirussische Stimmung entsteht. Die russischen Liberalen wiederum sagen, das sei vorprogrammiert, wenn Russland da Truppen hinschickt, das werde die Unzufriedenheit der Kasachen anstacheln. Das sei wie in Afghanistan. Und es wird auch tote russische Soldaten geben. Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, hat gleich betont, das habe einen ganz anderen Charakter. Die Entsendung von Soldaten könne man mit Afghanistan überhaupt nicht vergleichen. Allerdings fängt jede Entsendung erst einmal klein an, und man sagt natürlich immer, das habe nur begrenzten Charakter. Aber wir wissen aus Afghanistan für Russland und den Westen, dass daraus Konflikte entstehen können, die sich über Jahre hinziehen.
Russland kann sich so etwas eigentlich nicht auch noch aufbürden. Wobei Russland erstaunlich schnell reagiert hat. Innerhalb von Stunden haben sie es geschafft, das erste Mal seit dem Bestehen dieses Militärbündnisses eine gemeinsame militärische Aktion zu beschließen. Es gab schon viele Krisen in Zentralasien mit Gewalt, auch in Armenien und Aserbaidschan, wo diese Einigkeit nicht hergestellt wurde. Aber jetzt, das muss man sich mal vorstellen, hat auch der Ministerpräsident von Armenien, Nikolai Paschinjan, der selbst ein Produkt einer bunten Revolution und eher westfreundlich ist, bekanntgegeben, dass das Militärbündnis, Truppen, darunter auch 100 Armenier, glaube ich, nach Kasachstan schickt. Das ist natürlich wiederum für Russland ein kleiner Triumph, dass diese Gemeinschaft so eine schnelle organisierte Aktion realisiert hat. Ob das wirklich nachhaltig ist, ob man wirklich die Regierung stützen kann, ist eine andere Frage.
Die Regierung sieht schwach aus. Und was hat Tokajew gemacht? Er hat erst einmal die Regierung und den Geheimdienstchef entlassen. Eigentlich müsste die Macht in einer Krisensituation gerade zusammenstehen, aber jetzt ist es so, dass viele Köpfe gerollt sind, was die Protestbewegung null interessiert hat. Man muss jetzt wirklich genau gucken, was sich da abspielt. Für mich ist das noch sehr offen und kann sich in beide Richtungen entwickeln. Das kann erst mal zur Ruhe kommen, aber die Aufständischen haben sich schon im Westen von Almaty verschanzt. Da gibt es Bezirke, die sie noch kontrollieren. Die scheinen Kampferfahrung zu haben und es kann durchaus sein, dass sie sich nicht widerstandslos ergeben. Das könnte in einen Partisanenkrieg münden. Eine äußerst gefährliche Situation.
Wir sprechen vielleicht nächste Woche noch mal über die Lage in Kasachstan, wenn die Entwicklungen klarer sind. Zum Abschluss: Gibt es Hinweise darauf, dass Islamisten tätig sind?
Ulrich Heyden: Zumindest die russischen Medien haben das sehr stark thematisiert, allerdings eher allgemein. Man sagte, die militanten Demonstranten sind mutmaßlich radikale Rückkehrer aus Syrien. Er wurde berichtet, dass bis zu drei Polizisten geköpft wurden, was man auch den Islamisten zugeschrieben hat. Allerdings ist der Islam in Kasachstan gemäßigt, aber vor dem Hintergrund dieser doch verschlechterten sozialen Situation ist die Angst vor Erstarken des radikalen Islamismus in Kasachstan nicht völlig unbegründet.
Es ist sehr schwer, die Lage von außen zu beurteilen. Aus Russland wird in dieser zugespitzten Situation vielleicht auch einfach aus einer Angst heraus dieser Faktor sehr stark betont, ohne das im Einzelnen benennen zu können. Es gibt ja keine Namen, es wird von 1000 Verletzten, 60 Menschen auf der Intensivstation und 50 Toten gesprochen. Aber alles ist noch sehr, sehr vage, es ist eine sehr instabile Situationen und eine schlechte Faktenlage.
Das Gespräch wurde am Freitagabend geführt.
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