Mit dem realitätsnahen Film, der in einer durchschnittlichen Moskauer Mittelschule spielt, will der russische Pervi Kanal (Erster Kanal) die Jugendlichen aus dem Internet zurückholen. Die fast nur mit Handkamera gedrehten Szenen sind den Handy-Videos vieler Schüler ähnlich und wirken authentisch. Die Internet-Foren sind prompt voll begeisterter Kommentare und Blogs über Realitätsnähe und Spannung der Serie, von der bisher 20 Folgen zu sehen waren.
Anja platzt vor Sehnsucht
Zugleich hagelt es gegen das Werk der 25-jährigen Nachwuchsregisseurin Waleria Gaj Germanika empörte Proteste, sie kommen von Beamten aus dem Erziehungsministerium, vom Sprecher der Russisch-Orthodoxen Kirche und der KP, deren Duma-Deputierter Wladislaw Jurtschik wettert, diese Sequenzen seien eine „Provokation und ein Anschlag auf unsere Jugend“. Seine Fraktion verlange daher, die Sendung Schkola abzusetzen.
Wie erwähnt ist Anja Nosowa für Waleria Gaj Germanika eine Protagonistin dieser Momentaufnahmen schulischen Lebens. Die 15-Jährige geht in die Klasse 9a einer Moskauer Mittelschule, lebt bei ihren Großeltern, die das Mädchen ständig zurechtweisen. Seit zwei Jahren schon, erzählt der Film, muss Anja wegen einer Lungenschwäche dem Unterricht fernbleiben. Seither unterrichtet sie der strenge Großvater Anatoli Germanowitsch Nosow, ein renommierter und mit vielen Auszeichnungen bedachter Schulbuchautor, in den eigenen vier Wänden. Dort platzt Anja vor Sehnsucht nach Freiheit, fühlt sich „eingekerkert“, sinnt nach Flucht und Rache, driftet von diesem Wunsch beseelt ins Internet und chattet dort unter dem Namen Marla. Als sie sich bei diesen Online-Treffs in Ilja, einen selbstständigen und entschlossenen Jungen verknallt, lässt der sich überreden, dem erziehungsbesessenen Großvater eine Lektion zu erteilen.
Eigentlich ist Ilja ein sehr verantwortungsvoller Schüler. Nach der Schule verdient er Geld, um eine Krebsoperation für seine Mutter zu bezahlen. Doch wenn es darum geht, gegen Autoritäten zu rebellieren, braucht man ihn nicht lange zu bitten. Als in der Schule der 70. Geburtstag von Anatoli Germanowitsch Nosow gefeiert wird, rezitiert Ilja ein Gedicht des sowjet-kritischen Schriftstellers Josif Brodski. Der gewünschte Effekt tritt augenblicklich ein. Der angesehene, aber gefürchtete Pädagoge erregt sich heftig, bekommt einen Schlaganfall und liegt am Boden. Später prahlt Anja vor ihren Mitschülern, sie habe alles inszeniert, was denen, die sonst für jede Attacke auf Lehrer zu haben sind, dann doch zu weit geht. Sie lassen Anja wie eine Verfemte im Regen stehen. Für die beginnt ein Leidensweg aus Mobbing und Ächtung.
Als der Großvater halb gelähmt im Hospital liegt, entscheidet Anja gegen den Willen ihrer Großmutter, wieder regelmäßig in die Schule zu gehen. Ihre Rückkehr bereitet sie gut vor. Sie stylt sich im Emo-Stil, lässt sich die Haare schwarz färben, trägt knallig blau und schwarz grell. Ihre Rückkehr in die Klasse 9a wird zwar zum Triumph, doch Anja bleibt Außenseiterin. Und das ist es nicht allein – Arseni Iwanowitsch, der junge Chemielehrer für die 9a, versucht eifrig, das Mädchen zu überreden, nicht in der Schule zu bleiben, sondern wie gehabt daheim zu lernen, solange sie noch nicht wieder richtig gesund sei. Anja widerspricht aufgebracht, ihr fehle absolut nichts. Da droht der Chemielehrer, Nackt-Bilder von Anja, die er im Internet gesehen und auf seinem Computer gespeichert hat, öffentlich zu machen.
Nun dreht Anja den Spieß um. Heulend klagt sie dem Schuldirektor, einem überlasteten, entscheidungsschwachen Mann, Arseni Iwanowitsch habe sie mit einem Getränk gefügig gemacht und zu Nacktaufnahmen gezwungen. Der Direktor ist geschockt, die Lehrerkonferenz führt eine Diskussion über die Entlassung des Chemielehrers, ringt sich aber nicht dazu durch.
Schuld und Sühne
Dann kommt der Großvater aus dem Krankenhaus nach Hause. Anatoli Germanowitsch sitzt im Rollstuhl, kann nur noch grummeln, versucht aber Anja weiter zu kontrollieren, öffnet Schränke und durchwühlt mit der noch intakten Hand ihre Sachen.
Anja hat währendddessen eine Idee. Um die Schikanen in der Schule zu beenden, erklärt sie dort eines Tages, „mein Großvater ist gestorben. Heute Morgen hat er nicht mehr geatmet“. Für kurze Zeit erstirbt jedes Mobbing, dann freilich stellt sich heraus, der Großvater lebt. Wenig überraschend wendet sich nun auch der Letzte von Anja ab. Michail, ein schüchterner Knabe, hatte bis dahin beharrlich um die Mitschülerin geworben, die ihn ebenso hingebungsvoll erniedrigte. Anjas großer Traum bleibt der energische, selbstständige Ilja, nur lässt der gerade kein Mädchen an sich heran. In seiner Not sucht der schwächliche Michail Zuflucht in einem Fitnessstudio, um seine Muskeln wachsen zu sehen, übernimmt sich und bricht unter den Hanteln bewusstlos zusammen. Die Parabel fällt krachend mit der Tür ins Haus, auch das gehört zu dieser Serie.
Nun gibt es niemanden mehr, der Anja liebt. In ihrer völligen Einsamkeit erwachen bei dem Mädchen plötzlich warme Gefühle für den Großvater. Hin- und her gerissen zwischen Hass und Liebe, Schuld und Sühne umarmt sie den Gelähmten in seinem Rollstuhl und klagt ihm ihr Leid. „Keiner liebt mich, Djeduschka. Was soll ich machen?“ Gerührt streichelt ihr Anatoli Germanowitsch über den Kopf.
Wer gegenüber den Lehrern am frechsten auftritt, genießt in der 9a höchstes Ansehen. Immer wieder müssen die meist betagteren Pädagogen den Unterricht unterbrechen und Schüler vor die Tür schicken. Nur die 25-jährige Physiklehrerin Natalja Nikolajewna wird von allen respektiert. Die junge Dame scheint noch nicht vom Schulalltag verbittert. Zum Unterricht kommt sie, wie es ihr Spaß macht, in hautengen Kleidern oder ebensolchen Jeans. Vor allem für die Jungen ist der Physikunterricht die reinste Freude. Der 15-jährige Sergej verknallt sich in die kokette Natalja und arrangiert Nachhilfe bei seiner Lehrerin. Doch schon nach den ersten Stunden bekommt Sergej Konkurrenz von seinem Vater, einem wirtschaftlich erfolgreichen Russen aus der neuen Mittelschicht. Es beginnt ein Romanze. Damit die Mutter nichts erfährt, bekommt Sergej vom Vater ein üppiges Schweigegeld, womit wieder ein Subthema genannt wäre. Geld spielt in der Moskauer Mittelschule eine tragende Rolle. Ständig gibt es irgendwelche Couverts, die Eltern den Lehrern zuschieben, auf dass dem eigenen Sprössling die erhoffte Bestnote zuteil werde.
Schließlich hält sich im Mikrokosmos der 9a auch der Schüler Timur aus Dagestan auf, der von Wadim, der offenbar an Komplexen leidet, weil sein Vater dem Wodka verfallen ist, nach Kräften terrorisiert wird. Erst will er den Dagestaner zwingen, hochprozentigen Alkohol zu trinken. Als der sich weigert, beschimpft Wadim Timurs Mutter, die in der Schulküche arbeitet, sie sei eine „ausgekochte Diebin“.
In einem Vier-Augen-Gespräch mit Wadim gibt daraufhin der junge Geschichtslehrer Juri Nikolajewitsch zu erkennen, wo er steht. „Was soll aus Russland werden. Wir Russen werden immer weniger“, stöhnt er und gibt Wadim den Tipp, gegen den Kaukasier „intelligenter“ vorzugehen. Er solle doch einen Zwischenfall provozieren, dann ließe sich unter Umständen dafür sorgen, dass Timur und seine Mutter von der Schule fliegen. Wadim schöpft neue Hoffnung und zettelt im Speisesaal der Schule eine Schlägerei an, doch scheitert Anstifter Juri Nikolajewitsch im Kollegium mit seinem Vorschlag, Timur zu relegieren. „Wir wollen hier keinen Faschismus“, meint einer der Lehrer. Verzweifelt predigt Juri seinen Kollegen, es gäbe „einen Unterschied zwischen Patriotismus und Faschismus“. Die Beschwörung nützt nicht viel, der Schulleiter will keinen Skandal, niemand fliegt von der Schule – alles bleibt, wie es ist.
Um so mehr lässt Wadim nicht davon ab, gegen „den Kaukasier“ zu stänkern. Inzwischen hat er einen rasierten Kopf und trägt ein Messer mit sich herum. Als Fedja, sein kleiner Bruder kurzzeitig verschwindet, behauptet Wadim, „der Kaukasier“ haben ihn mit seiner geheimen Bande entführt. Bald stellt sich freilich heraus, Fedja ist aus der elterlichen Wohnung geflohen, weil sein Vater nicht nur ständig trinkt, sondern ihn brutal schlägt. Seine größte Schmach erlebt Wadim auf offener Straße, wo er von seinem Vater geschlagen und beschimpft wird. „Du bist meine Scheiße!“
Gackernde Kiffer
Für die Zuschauer ist die auf 60 Sendungen angelegte Fernsehserie in zweierlei Hinsicht gewöhnungsbedürftig. Der Erste Kanal war bisher bekannt für seichte Shows und Soaps, amerikanische Krimis und russsiche Koch-Kunst. Was die Zuschauer jetzt geboten bekommen, verschreckt und erschüttert, weil sich herausstellt, dass die Eltern aus der Serie größtenteils unfähig sind, mit ihren Kindern normale oder überhaupt irgendwelche Kontakte zu pflegen. Entweder gilt ein hartes Regiment oder das andere Extrem – die Nachgeborenen sind sich selbst überlassen.
Die Kamera-Führung aus der Hand ist für russisches Fernsehen revolutionär. Dem Zuschauer werden Episoden gereicht, von denen die Erwachsenenwelt nichts weiß oder wissen will: gackernde Kiffer in einem Kellereingang, ein Mädchen, das zum ersten Mal im Leben ein Präservativ auseinander zieht, und immer wieder die furchterregenden Münder der Lehrer, denen Nah- und Großaufnahmen nicht erspart bleiben.
Ganz oben in der russischen Machthierarchie wird Schkola bisher mit erstaunlicher Gelassenheit bedacht. Bildungsminister Andrej Fursenko merkt an, die Sendungen seien „sehr nah an der Realität“, würden aber nur „die halbe Wahrheit“ wiedergeben, weil man „allein das Negative“ zu sehen bekomme. Premier Wladimir Putin zeigt sich ebenfalls ungerührt liberal. „Vielleicht ist die Wirklichkeit nicht immer genau so, aber für den Regisseur schon.“ Wegen der Filme „in Hysterie zu verfallen“, sei „nicht sinnvoll, sondern schädlich.“ Die Presseabteilung des Ersten Kanals erklärt lapidar, es habe keinen Sinn, die Augen vor der Realität an Moskauer Schulen zu verschließen.
Derzeit pausiert die Serie. Man brauche den Sendeplatz für die Berichterstattung aus Vancouver, teilt der Sender mit. Bald solle es weitergehen. Die Schkola-Fans zittern und fürchten, nach den Olympischen Spielen könnte alles vorbei sein.
veröffentlicht in: der Freitag