15. December 2008

Kleine Erfolge russischer Linker

ND-Interview mit dem Duma-Abgeordneten Oleg Schein (Gerechtes Russland)
Oleg Schein (36) ist stellvertretender Vorsitzender der Fraktion »Gerechtes Russland« in der Staatsduma. Die auf Initiative des Kremls gegründete Partei war bei den Duma-Wahlen im Dezember 2007 auf acht Prozent der Stimmen gekommen. In der Sozialistischen Internationale hat sie Beobachterstatus. Schein, von Beruf Geschichtslehrer, wurde durch den Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft in seiner Heimatstadt Astrachan bekannt. Für ND sprach Ulrich Heyden in Moskau mit dem Abgeordneten.

ND: Aus dem Kreml hört man, Russland sei auf die internationale Finanzkrise gut vorbereitet. Was sagen Sie?

Schein: In den letzten drei Jahren waren die Öl- und Gaspreise um das Sechsfache gestiegen. Leider wurden diese Mittel nicht genutzt, um die Landwirtschaft und den Produktionssektor zu entwickeln. Die umfassenden staatlichen Hilfen, die die Regierung jetzt angewiesen hat, kommen oft nicht im produzierenden Sektor an, sondern fallen wegen der Korruption Leuten in die Hände, die wichtige Positionen in den Verwaltungen haben.

Welche Auswirkungen hat die Finanzkrise tatsächlich?

In Russland spürt man bis heute sozusagen den Atem der Krise. Reale Veränderungen wird die Gesellschaft erst im Frühjahr oder Sommer nächsten Jahres erfahren. Bereits jetzt ist die Bauindustrie betroffen. Und die Aufträge der Stahlhütten im Ural sind schon um 40 bis 60 Prozent zurückgegangen.

Welche Vorschläge macht Ihre Fraktion?

Unsere Fraktion ist dagegen, den Banken Geld zu geben. Stattdessen fordern wir Steuersenkungen für den produzierenden Wirtschaftssektor. Haushaltslöcher können mit den Reserven gestopft werden, die das Finanzministerium in den letzten Jahren angelegt hat.

Es gibt bereits Streiks von Gastarbeitern aus Zentralasien, denen der Lohn vorenthalten wird. Erwarten sie weitere Proteste?

Das ist der Anfang. Die Situation kann sich sehr ungünstig entwickeln, deshalb muss die Streikgesetzgebung geändert werden. Laut derzeitigem Gesetz müssen 67 Prozent der Belegschaft einem Streik zustimmen. Das hatte zur Folge, dass im letzten Jahr von 1100 Streiks faktisch nur zwei legal waren. Wir wollen durchsetzen, dass alle Gewerkschaften in einem Betrieb – unabhängig von ihrer Größe – das Recht erhalten, über einen Tarifvertrag zu verhandeln und einen Streik auszurufen. Letztlich wird die Zahl der Streiks dann sinken, denn der Raum für Verhandlungen wird erweitert.

Der Gewerkschaftsdachverband FNPR fordert die staatliche Quote für Gastarbeiter aus Zentralasien und dem Kaukasus zu senken.

Wir sind gegen die Senkung der Gastarbeiterquote. Stattdessen fordern wir, Unternehmen zu schließen, die Gastarbeiter illegal beschäftigen, und die Löhne der ausländischen Kollegen den Löhnen der russischen Arbeiter anzugleichen.

Unbekannte haben Ihrer Frau Carine Clément, die sich in Moskau unter anderem für soziale Initiativen im Wohnbereich engagiert, kürzlich eine Flüssigkeit ins Bein gespritzt. Fast zur gleichen Zeit wurde andere Oppositionelle wie der Ford-Gewerkschafter Alexej Etmanow und der Umweltaktivist Michail Beketow überfallen. Wer steckt hinter diesen Vorfällen?

Die Untersuchung Carins ergab bisher nichts Schlimmes. Ich glaube nicht, dass es ein Zentrum gibt, das diese Überfälle geplant hat. Es gibt einfach eine zunehmende Tendenz der Kriminalisierung in der Gesellschaft. Der Grund ist die Korruption, die Monopolisierung der Macht durch das bürokratische System und das Gefühl, dass Straftaten nicht verfolgt werden. Die Sicherheitsorgane und die örtlichen Behörden haben sehr enge Beziehungen zur Geschäftswelt.

Experten sind der Meinung, dass von einer Krise in Russland in erster Linie Nationalisten und Faschisten, nicht aber Linke profitieren.

Das Problem ist komplizierter. Ich komme aus Astrachan, einer multinationalen Stadt im Süden. Dort haben wir nach gewaltsamen Konflikten zwischen Kalmücken und tschetschenischen Flüchtlingen eine Bürgerwehr gebildet, der alle Nationalitäten der Stadt angehören. Sie hat den Streit geschlichtet. Leider verbreiten Kreml-nahe Jugendorganisation wie die »Junge Garde« und einzelne Gewerkschaftsführer ausländerfeindliche Parolen. Man kann Probleme zwischen Angehörigen unterschiedlicher Nationalitäten aber nicht mit Parolen lösen. Auch die alte Losung von der Völkerfreundschaft hilft nicht weiter. Das Wichtigste sind jetzt Aufklärungsprogramme in den Schulen. Die Schüler müssen etwas über die Kultur der kaukasischen Völker erfahren.

Das liberale Moskauer Analyse-Zentrum »Panorama« schrieb, sie seien der einzige Trotzkist in der Duma.
Das ist eine Übertreibung. »Panorama« unterteilt Marxisten in Stalinisten und Trotzkisten. Nach dieser Logik bin ich tatsächlich kein Stalinist.

Gibt es in Russland Ansätze für eine Zivilgesellschaft?

Im Gegensatz zu der im Westen verbreiteten Meinung gibt es solche Ansätze in Russland durchaus. Das von meiner Frau geleitete »Institut kollektive Aktion« hat in meinen Augen eine Brückenfunktion zu zahlreichen unabhängigen Gewerkschaften, Anwohner-Initiativen und Umweltgruppen. Die sozialen Bewegungen in Russland haben durchaus auch Erfolge. Im Frühjahr beispielsweise hat die unabhängige Lokführergewerkschaft durch einen Streik im Moskauer Umland Lohnerhöhungen von 30 Prozent durchgesetzt. Letztes Jahr haben sich die Anwohner-Initiativen auf einem landesweiten Kongress zusammengeschlossen, um durchzusetzen, dass Mehrfamilienhäuser von den Bewohnern selbstständig verwaltet werden können. Damit will man korrupte staatliche Wohnungsverwaltungen umgehen.

"Neues Deutschland"

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