Kreml tauscht Koch gegen Kellner
Politikverdrossenheit vor der Duma-Wahl
Die Politikverdrossenheit in Russland ist groß und hat nach der Bekanntgabe des Rollentausches zwischen Premier Wladimir Putin und Präsident Dmitri Medwedew bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2012 neue Nahrung bekommen. Nach einer Ende September durchgeführten Umfrage des unabhängigen Lewada-Meinungsforschungsinstituts wird sich an der Zusammensetzung der Duma nach den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011 nichts wesentlich ändern.
Außer den vier jetzt schon in der Duma vertretenen Parteien schafft wahrscheinlich keine Partei den Sprung in die Volksvertretung. Von der politischen Führung kritisierte - ungewöhnlich genug - nur der langjährige und angesehene Finanzminister Alexei Kudrin die Rochade. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Noch-Präsidenten Medwedew vor laufenden Fernsehkameras musste Kudrin seinen Hut nehmen. Vor ihm hatte bereits Medwedews Wirtschaftsberater, Arkadi Dworkowitsch, den angekündigten Ämtertausch kritisiert: "Es gibt keinen Grund zur Freude", schrieb er auf Twitter, es sei nun der Zeitpunkt gekommen, "auf den Sportkanal umzuschalten".
Enttäuschte Mittelschicht Insbesondere in der städtischen Mittelschicht macht sich starke Enttäuschung darüber breit, dass sich der als liberaler geltende Medwedew Putins Machtwillen untergeordnet hat. Aber diese Enttäuschung führt bisher nicht zu verstärkter politischer Aktivität. Die Tatsache, dass die Mittelschicht praktisch nicht in den politischen Prozess integriert ist, birgt für den Kreml auch Gefahren. Deshalb wurde auf Initiative des Kreml 2008 die Partei "Rechte Sache" gegründet. Doch selbst in diesem Sommer, als die Partei von dem prominenten Unternehmer Michail Prochorow geführt wurde, kam die "Rechte Sache" bei Meinungsumfragen nicht über drei Prozent. Das Problem der kleinen liberalen Parteien in Russland ist, dass ihnen die Zeit unter Präsident Boris Jelzin noch wie ein Klotz am Bein hängt. Unter Jelzin hatten liberale Politiker großen Einfluss auf die Regierungspolitik. Aber große Teile der Bevölkerung verarmten und einige Glücksritter wurden über Nacht steinreich.
Auch die Kreml-Partei "Einiges Russland" genießt trotz hoher Umfragewerte wenig Vertrauen. Die Partei, die vom Nicht-Mitglied Putin geführt wird, gilt in Meinungsumfragen bei vielen Bürgern als "Partei der Diebe und Gauner". Nach einer Lewada-Erhebung waren sich nur 22 Prozent der Befragten hundertprozentig sicher, dass sie zur Wahl gehen werden. Nur 38 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass es bei den Wahlen keine Fälschungen geben wird. "Einiges Russland" wird nach den jüngsten Umfragen bei den Duma-Wahlen wieder mit 57 Prozent als stärkste Partei abschneiden, gefolgt von der Kommunistischen Partei (16 Prozent), den populistischen Liberaldemokraten (zwölf Prozent) und der sozialdemokratischen Partei "Gerechtes Russland" (sechs Prozent). Weil die Popularität von "Einiges Russland" in den letzten Monaten stark nachgelassen hatte, hat Putin im Mai eine "Volksfront" gegründet. Dieser Vereinigung traten 500 gesellschaftliche Organisationen bei, Verbände von Frauen, Afghanistan-Veteranen und Autoliebhabern. Von den 600 Kandidaten, die "Einiges Russland" zu den Duma-Wahlen aufstellt, kommen 180 von der "Volksfront". Mit der personellen Auffrischung erhofft sich Putin, den Popularitätsverlust von "Einiges Russland" zu stoppen.
Prozenthürden
Die kleinen liberalen Parteien, die zur Wahl zugelassen sind, werden den Einzug in die Duma verfehlen: Der sozialliberalen "Jabloko"-Partei werden drei Prozent, der Kreml-Schöpfung "Rechte Sache" zwei und den links-national "Patrioten Russlands" ein Prozent prognostiziert.
Neun rechte und linke Parteien wurden nicht zugelassen. Dazu gehört auch die Partei "Für Russland ohne Willkür und Korruption" (Parnas), mit den Oppositionspolitikern Boris Nemzow, einst Vize-Premier unter Präsident Jelzin, Wladimir Ryschkow, bis 2007 liberaler Duma-Abgeordneter sowie Michail Kasjanow, bis 2004 Putins Ministerpräsident. Wegen der Nichtzulassung von Parnas hat Nemzow zum Wahlboykott aufgerufen.
veröffentlicht in: Das Parlament