Lukaschenko sitzt die Proteste aus
Vier Wochen nach den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland geht die Protestbewegung gegen angeblich gefälschte Wahlen weiter. Doch die Bewegung stagniert. Eine massenhafte Streikbewegung gibt es nicht und es fehlt ein klares politisches Programm
Am 30. August zog ein drei Kilometer langer Demonstrationszug durch Minsk und forderte den Rücktritt von Präsident Aleksander Lukaschenko. Es gibt auch Kundgebungen von Frauen, die ganz in Weiß und mit Blumen in der Hand demonstrieren. Auch Studenten gingen auf die Straße. Die Polizei schritt zum Teil sehr brutal ein.
Die Streikbewegung die vor drei Wochen begann, ebbt ab. In der Regel beteiligen sich an den Streiks nur ein paar hundert Arbeiter, bei Belegschaften von mehreren tausend Menschen. Lukaschenko hatte angeordnet, bestreikte Unternehmen zu schließen und nur noch Arbeiter einzustellen, die nicht streiken.
Es scheint, Lukaschenko sitzt mit seiner Mischung aus harter Repression und Aussitzen am längeren Hebel. Und der Protestbewegung fehlt es an einem politischen und sozialen Programm, mit dem sie die Arbeiterklasse davon überzeugt, dass es notwendig ist, weiter zu kämpfen. Außer der Forderung nach dem Rücktritt von Lukaschenko und fairen Wahlen hat die Opposition inhaltlich nichts anzubieten. Zudem ist die Opposition gespalten, was das Verhältnis zu Russland betrifft.
Protestbewegung bleibt friedlich
Dass die Demonstranten friedlich bleiben, ist ein deutlicher Unterschied zum Maidan in Kiew, wo schon am 1. Dezember 2013 die Kiewer Stadtverwaltung von maskierten Nationalisten gewaltsam besetzt wurde.
Doch die Proteste in Weißrussland sind zweifellos den Farbenrevolutionen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ähnlich. Deutlich zu beobachten ist, dass die Proteste perfekt organisiert sind und es an Geldmitteln für Großaktionen nicht mangelt. Zwei Staaten - Polen und Litauen - treten - stellvertretend für den Westen - als Paten der Protestbewegung auf. Litauen, Lettland und Estland verhängten Reisebeschränkungen für 30 weißrussische Amtsträger.
Russischer Außenminister: "200 ukrainische Nationalisten in Weißrussland"
Die Demonstranten in Minsk und anderen Städten machen keine Anstalten, wie in der Ukraine, Gebäude zu besetzen und Zeltlager aufzubauen. Doch der russische Außenminister Sergej Lawrow fürchtet, dass ukrainische Nationalisten die Situation durch "Provokationen" eskalieren könnten. Am 2. September erklärte Lawrow auf einer Pressekonferenz in Moskau, auf der auch der weißrussische Außenminister Wladimir Makej auftrat, man wisse, dass sich bereits 200 ukrainische Nationalsten in Weißrussland befinden. Diese Nationalisten seien auf Übungsplätzen im westukrainischen Gebiet Wolhynien und im ostukrainischen Gebiet Dnjepropetrowsk trainiert worden. Es handele sich um Mitglieder der paramilitärischen Organisationen Nationaler Korpus, Rechter Sektor, C14 und "Dreizack Stepan Bandera". Beweise für seine Behauptung legte der Minister nicht vor.
Doch es gibt Hinweise, dass die ukrainischen Nationalisten die weißrussische Opposition unterstützen. Der bekannte ukrainische Rechtsradikale Andrej Bilezki, der 2016 die paramilitärische Organisation Nationaler Korpus und 2014 das Asow-Bataillon gründete, erklärt Mitte August auf seinem Telegramm-Kanal, man werde den weißrussischen Brüdern helfen. Mit pathetischen Worten erinnerte Bilezki daran, dass weißrussische Nationalisten 2013/14 den Maidan in Kiew unterstützten. Viele "mutige Weißrussen" hätten auch mit ihm in der Ost-Ukraine gegen die Russen gekämpft. "Darum stehen wir, Ukrainer, gegenüber euch (Weißrussen) in der Schuld", erklärte der Asow-Gründer. Von der weißrussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja hält Bilezki indes nichts. Sollte sie an die Macht kommen, werde Weißrussland "nicht weniger in die russische Zange kommen, wie unter Lukaschenko".
Auch dem Vorsitzenden der rechtsradikalen ukrainischen Partei Swoboda, Oleh Tjagnibok, ist die weißrussischen Protestbewegung nicht radikal genug. Er erklärte, nur mit einer "nationalen Haltung" und "guter Organisation" könne der Protest in Weißrussland in eine Revolution wie in der Ukraine münden.
Putin ist zu Hilfe für Lukaschenko bereit
Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte am 27. August, Russland werde, wenn Minsk darum bittet, eine Spezialeinheit nach Weißrussland schicken. Die Einheit werde im Rahmen der "Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit" (ODKB) entsandt. Dem Militär-Bündnis eurasischer Staaten gehört neben Russland und anderen Ländern auch Weißrussland an. Der russische Präsident erklärte, die Spezialeinheit werde nur eingesetzt, wenn es in Weißrussland zur Besetzung von Gebäuden, Bränden und anderen Gewalttaten kommt.
Der Koordinationsrat der Protestbewegung erklärte den Einsatz ausländischer Truppen in Weißrussland für "nicht zulässig". "Wir sehen keinen Grund für die Annahme, dass die Situation in Weißrussland außer Kontrolle gerät", heißt es in einer Erklärung. In Weißrussland gäbe es "ausschließlich friedliche Aktionen".
Der polnische Einfluss in ehemals polnischem Gebiet
Weißrussland ist im Unterschied zur Ukraine ein relativ homogener Staat. 83 Prozent der Einwohner sind nach einer Umfrage von 2009 Weißrussen, acht Prozent Russen und drei Prozent Polen. Die Homogenität ergibt sich insbesondere durch die Sprache. Von acht Millionen Weißrussen sprechen 5,5 Millionen zuhause Russisch, wie 2009 bei einer offiziellen Umfrage ermittelt wurde .
Doch in den Gebieten im Westen Weißrusslands, die vor 1939 zu Polen gehörte, könnte die weißrussische Staatlichkeit erschüttert werden. Das zeigen die Ereignisse in der Stadt Grodno. Die Stadt mit ihren 380.000 Einwohnern liegt im Nordosten von Weißrussland an der Grenze zu Litauen und Polen und gehörte von 1919 bis 1939 zu Polen. Die Hälfte der Einwohner sind Katholiken.
In Grodno erzielte die weißrussische Opposition bis zum 19. August enorme Erfolge. Sie veranstaltete Demonstrationen mit bis zu 40.000 Teilnehmern. Der Erzbischof der russisch-orthodoxen Kirche kritisierte das Verhalten der örtlichen Polizei gegenüber den Demonstranten als "Aggression" und "Bosheit". Der Leiter der Polizei von Grodno entschuldigte sich öffentlich. "Ich schäme mich für das Vorgehen einiger Polizisten. Aber wir hatten keine andere Wahl." Der größte Betrieb am Ort, das Düngemittelwerk Grodno-Asot, streikte.
Die Stadtverwaltung machte enorme Zugeständnisse an die Demonstranten. Sie erklärte sich bereit, zusammen mit der Opposition einen Konsultationsrat zu gründen. Zwei Plätze in der Innenstadt von Grodno wurden der Opposition für Kundgebungen zur Verfügung gestellt.
All diese Zugeständnisse wurde zurückgenommen, nachdem Präsident Lukaschenko am 19. August die Stadt Grodno besucht und den Gouverneur Andrzej Poczobut abgesetzt hatte. Sein Nachfolger wurde der ehemalige weißrussische Gesundheitsminister, Wladimir Karanika. Lukaschenko erklärte: "Wir haben Grodno unter Kontrolle genommen." In der Stadt seien schon "polnische Flaggen getragen" worden. An einer Kundgebung mit Lukaschenko beteiligten sich mehrere tausend Menschen.
Lukaschenko warnt vor Einmarsch von Polen und Litauen
Ende August behauptete Lukaschenko, Polen wolle das im Nordwesten von Weißrussland gelegene Gebiet Grodno militärisch besetzen, deshalb müsse er "die Hälfte der Armee in Einsatzbereitschaft halten". Die liberale russische Nesawisimaja Gaseta schrieb, mit der Erklärung vom drohenden polnischen Einmarsch versuche Lukaschenko, die Aufmerksamkeit von den Protesten im Land abzulenken.
Auch der Politologe Vadim Truchatschow vom Russischen Rat für internationale Politik meint, die Behauptung, Polen wolle sich westliche Gebiete von Weißrussland einverleiben, sei falsch. "Polen kann die Rolle des Schützers der Verfolgten spielen und auf diese Weise zumindest in einem Teil der Bevölkerung Weißrusslands die polnische Solidarität und danach die polnische Identität festigen." Die Festigung der polnischen Identität diene nicht dem Ziel das westliche Gebiet Weißrusslands zu annektieren. Warschau brauche "ein gehorsames und noch besser ein Marionetten-Regime in Minsk, um Polen die Gestalt einer Regionalmacht zu geben und damit das Gewicht Polens in der Europäischen Union zu erhöhen".
Lukaschenko hatte die Gefahr einer Instabilität im Westen des Landes sofort erkannt. Am 22. August besuchte er in Militäruniform einen Truppenübungsplatz im Gebiet Grodno, wo er erklärte, in Weißrussland drohe eine Farbenrevolution mit ausländischer Unterstützung.
Der weißrussische Präsident ordnete Militärmanöver an. Im Gebiet Grodno gab es seit den weißrussischen Präsidentschaftswahlen zwei Militärübungen. Vom 17. bis zum 20. August gab es nicht weit von dem neuen weißrussischen Atomkraftwerk eine Militärübung mit Luftabwehrraketen. Und am 31. August ging im Gebiet Grodno ein viertägiges Militärmanöver zu Ende, bei dem das "Stoppen und Vernichten von fremden Spähtrupps und bewaffneten Einheiten des Gegners" geübt wurde. Bei der Übung wurden Truppen, Panzer und Hubschrauber eingesetzt.
Wie Vertreter des Generalstabes von Weißrussland und Russland mitteilten, ist für dieses Jahr auf weißrussischem Territorium noch das weißrussisch-russisch-serbische Manöver "Slawische Brüderschaft 2020" geplant.
Katholische Kirche auf der Seite der Protestierenden
Zehn Prozent der Einwohner von Weißrussland sind Katholiken. Die katholische Kirche, welche sich auf die Seite der Protestbewegung stellte, versucht Lukaschenko zu disziplinieren. Am 31. August wurde dem katholischen Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, der sich zu einem Arbeitsbesuch in Polen aufhielt, ohne Begründung die Einreise nach Weißrussland verweigert. Kondrusiewicz ist weißrussischer Staatsbürger.
Der weißrussische Präsident erklärte, Kondrusiewicz habe "in Polen einen bestimmten Auftrag erhalten". Er habe "nicht nur eine Staatsbürgerschaft". Der Erzbischof erklärte, seine Kirche mische sich nicht in die Politik ein, habe aber das Recht "die Ereignisse vom moralischen Standpunkt aus zu beurteilen". Seiner Kirche drohe die "internationale Isolation". Immer öfter "höre man", dass in Weißrussland "ein Bürgerkrieg droht".
Finanzielle Hilfe aus der EU
Dass Polen, die Instabilität von Weißrussland zur Ausweitung des eigenen Einflusses nutzt, wird von Warschau nicht verheimlicht. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat angekündigt, weitere elf Millionen Euro zur Unterstützung "der weißrussischen Medien und der Zivilgesellschaft" zur Verfügung zu stellen. Die Europäische Kommission hat weitere drei Millionen Euro "für die Opfer der Repression" und "zur Unterstützung der Zivilgesellschaft" in Weißrussland bewilligt. . Von Polen aus sendet seit 2007 der von der polnischen Regierung finanzierte Sender "Belsat", der die weißrussische Opposition unterstützt. Ein weiteres wichtiges Medium der Opposition ist der YouTube-Kanal Nexta, der von einem weißrussischen Blogger von Polen aus betrieben wird.
Mit Beginn der Protestbewegung in Weißrussland hat Polen Maßnahmen ergriffen, um Weißrussen - vor allem Jugendlichen - die Einreise nach Polen zu erleichtern. So wurde die Vergabe von Visa und der "Karte des Polen" erleichtert. Mit der "Karte des Polen" wird die Arbeitsaufnahme in Polen erleichtert.
Russland fürchtet weiteres Heranrücken der Nato
Jede vom Westen unterstützte Farbenrevolution, die den Einfluss Russlands in seiner Nachbarschaft verringern soll, hat ihren eigenen, landesspezifischen Charakter. Es ist unwahrscheinlich, dass die Farbenrevolution in Weißrussland, wenn sie friedlich bleibt, zu einem Bruch mit Moskau führt. Zum einen ist die Opposition in der Frage der Beziehungen zu Russland nicht einig, zum anderen wird Russland alle Mittel in Bewegung setzen, damit es nicht zu einem Bruch mit Weißrussland kommt.
Alles, was ein weiteres Heranrücken der Nato an Russlands Westgrenze möglich macht, wird Moskau zu verhindern suchen. (Ulrich Heyden)
veröffentlicht in: Telepolis