25. August 2023

Machtvertikale wieder intakt (Junge Welt)

Näher kommt man nicht heran. Dafür häufen sich wilde Vermutungen um Prigoschins Absturz (24.8.2023) Foto: Anton Vaganov/REUTERS
Foto: Näher kommt man nicht heran. Dafür häufen sich wilde Vermutungen um Prigoschins Absturz (24.8.2023) Foto: Anton Vaganov/REUTERS


Moskauer Presse spekuliert über Prigoschins Tod. Putin würdigt Leistungen von »Wagner«

Von Ulrich Heyden, Moskau

Der Absturz des Geschäftsflugzeugs mit Kommandeuren der russischen Militärfirma »Wagner« an Bord wirft Fragen auf. Die sterblichen Überreste von »Wagner«-Chef Jewgeni Prigoschin und »Wagner«-Kommandeur Dmitri Utkin sind mittlerweile allerdings von Soldaten der Truppe identifiziert worden.

Zur Unglücksursache befragte die Zeitung Moskowski Komsomolez Luftfahrtexperten, die zu der Auffassung kamen, dass man es nicht mit einem Pilotenfehler zu tun habe, sondern mit äußerer Einwirkung auf das Flugzeug. Dafür spreche, dass Trümmerteile drei bis fünf Kilometer von der Aufschlagstelle entfernt gefunden wurden. Es sei davon auszugehen, dass im Flugzeug eine Bombe explodierte oder die Maschine von einer Rakete getroffen wurde. Eine ukrainische Täterschaft könne nicht ausgeschlossen werden. In Russland wurden bereits mehrere bekannte Opponenten Kiews Opfer ukrainischer Anschläge.

Der Chefkommentator der Moskauer Massenzeitung Moskowski Komsomolez Michail Rostowski, vermutete, dass es kein Zufall war, dass sich der Flugzeugabsturz am 23. August, genau zwei Monate nach dem Prigoschin-Putsch am 23. Juni ereignete. Der »Wagner«-Chef sei nach dem Putschversuch »seiner Bestrafung entkommen«, aber »seinem Schicksal konnte er nicht entkommen«. Verantwortlich für dessen Tod seien »konkrete Personen, deren Namen wir vielleicht irgendwann oder nie erfahren«. Es sei durchaus vorstellbar, dass auch russische Kräfte hinter dem Tod des »Wagner«-Chefs stecken können. Prigoschin – so der Kommentator – habe versucht, »die Geschichte umzudrehen, in die Art der 1990er Jahre, als starke Persönlichkeiten (manchmal Feldkommandeure, manchmal Hofschranzen) stärker waren als die zentrale Macht«. Der »Wagner«-Chef habe sich ab einem bestimmten Moment der russischen Machtvertikale »gleichwertig gefühlt«. Durch den Aufstand im Juni sei »das System der Lenkung des Landes aus der Balance gebracht« worden. Die Machtvertikale in Russland funktioniere aber nur, wenn es eine »von allen anerkannte Autorität an der Spitze der Machtpyramide gibt«. Werde die nicht anerkannt, ist »die Handlungsfähigkeit des Staats unter den Bedingungen der außerordentlichen Angriffe von seiten des Westens in Frage gestellt«.

Laut Nesawissimaja Gaseta besuchte der russische Präsident Wladimir Putin am 19. August Rostow am Don. Dort hatten sich die »Wagner«-Aufständischen am 23. Juni Zugang zum Stab der »Spezialoperation« verschafft und ein Gespräch mit Generalstabschef Waleri Gerassimow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu gefordert. Der russische Präsident hörte sich bei seinem Besuch die Berichte des Generalstabschefs und anderer hoher Militärführer an. Sein Besuch, schrieb das Blatt, »symbolisiert die Wiederherstellung der normalen Funktionsweise der militärischen Organe«. Dass der Generalstabschef persönlich an der Besprechung teilgenommen hat, zeigt nach Einschätzung von Nesawissimaja Gaseta, dass Putin »Gerassimow und andere hohe Armeeführer auf ihren Posten belassen will«.

Generalstabschef Gerassimow und Verteidigungsminister Schoigu waren von Prigoschin in zahlreichen Videos von der Front in Bachmut wegen angeblich ausbleibender Munitionslieferungen beschimpft worden. Weder die Militärführung noch der Kreml nahmen zu diesen Attacken damals Stellung. Dass sich durch diese öffentliche Kritik sowie durch den Tod von 15 russischen Soldaten während des Putschversuches in der russischen Armeeführung negative Gefühle gegen Prigoschin angesammelt haben, ist wahrscheinlich.

Putin sprach am Donnerstag abend den Angehörigen der beim Flugzeugabsturz Umgekommenen sein Beileid aus und würdigte die Leistungen der bei vielen Russen verehrten Truppe. Vermutlich bereut die russische Militärführung, die »Wagner«-Gruppe mit weitreichenden Vollmachten und Finanzmitteln ausgestattet zu haben. Prigoschins Ambitionen wurden nicht rechtzeitig erkannt, obwohl seine kriminelle Vergangenheit ein Grund zur Vorsicht hätte sein müssen.

veröffentlicht in: Junge Welt

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