5. May 2021

Mit Blumen durch den Metalldetektor – Tausende gedachten am 2. Mai in Odessa der Toten des Brandes im Gewerkschaftshaus (Nachdenkseiten, Mai 2021)

Vit Hassan (alle Bilder)
Foto: Vit Hassan (alle Bilder)

05. Mai 2021 um 13:12 Ein Artikel von Ulrich Heyden | Verantwortlicher: Redaktion

Während das Gedenken an die Opfer der Nationalisten von den Behörden schikaniert wurde, konnten zeitgleich Anhänger der Rechtsextremen ungehindert durch die Stadt marschieren. Von Ulrich Heyden, Moskau.

Auf dem Asphalt vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa lagen am 2. Mai 2021 neun lange Reihen mit Blumen. Damit gedachten Bürger aus Odessa den 42 Menschen, die am 2. Mai 2014 in und vor dem Gebäude starben: erstickt, verbrannt, erschossen oder totgeprügelt.

Alle 42 Toten gehörten zum Anti-Maidan. Eine Horde von ukrainischen Ultranationalisten hatte das Gewerkschaftshaus, in das sich Regierungskritiker geflüchtet hatten, mit Molotow-Cocktails in Brand gesteckt und war gleichzeitig mit Knüppeln in das Gebäude eingedrungen, um Jagd auf „Separatisten“ zu machen (dazu der Film „Lauffeuer“ von Ulrich Heyden und Marco Benson ) .

Fast wie an einem Familiengrab

Immer wieder gingen Frauen durch die Blumenreihen und ordneten die einzelnen Sträuße. Es war fast wie vor einem Familiengrab. Nur, dass diese Familie Tausende, ja Zehntausende Mitglieder hat. Es sind die Menschen in Odessa, die von der Regierung eine Antwort fordern. Sie soll endlich die Täter und Hintermänner des Brandanschlages vom 2. Mai 2014 finden und vor Gericht stellen.

Die Blumen wurden sorgsam geordnet. Doch alle ahnten, dass dieses farbenfrohe Bild, dieser Ausdruck von Seelenschmerz schon Stunden später verschwinden wird. Und genauso war es.

In der Nacht auf den 3. Mai säuberten Unbekannte – vermutlich ukrainische Nationalisten – den Platz vor dem Metallzaun. Keine einzige rote Tulpe blieb verschont. Es war wie die nochmalige Säuberung Odessas von „Terroristen“, „Separatisten“ und „Moskau-Freunden“. Ebenso wurden die Menschen, die sich am 2. Mai 2014 ins Gewerkschaftshaus geflüchtet hatten, von den Nationalisten und auch von führenden ukrainischen Politikern, wie Julia Timoschenko, genannt.

Journalist: „Kontrollen waren strenger als am Flughafen“

Wer am 2. Mai 2021 zum Gewerkschaftshaus ging, um Blumen für die 42 Toten niederzulegen, wusste, dass er sich einer strengen Prozedur unterziehen musste. Der Platz war hermetisch von Polizisten abgesperrt und Zugang gab es nur an einer Stelle durch einen Metalldetektor. Frühmorgens schnüffelten Spürhunde die um den Platz liegenden Parkflächen „nach Sprengstoff ab“, wie die Polizei sagt.

Vit Hassan, ein Journalist aus Tschechien, der extra zu den Gedenkfeierlichkeiten nach Odessa gefahren ist, erzählt mir am Tag danach, „die Kontrollen waren strenger als am Flughafen“.

Der ukrainische Präsident Wolodymir Selenski hatte letztes Jahr noch via Facebook sein Beileid für die Toten von Odessa ausgesprochen. Doch in diesem Jahr schwieg der ukrainische Präsident zum 2. Mai. Doch bekannte Politiker der in der Rada vertretenen Russland-freundlichen „Oppositionsplattform“ legten vor dem wuchtigen Gebäude Blumen nieder.

Kurz vor 16 Uhr ließen Aktivisten vor dem Gewerkschaftsgebäude wie jedes Jahr weiße Tauben und schwarze Luftballons in die Luft steigen. Die Menschen riefen, „wir vergessen nicht, wir verzeihen nicht.“

Vit Hassan berichtet, die Stimmung sei „sehr emotional“ gewesen:

„Einige Menschen weinten. Für mich war das ein sehr starker Eindruck. Ich fotografierte eine Fau, die Blumen niederlegte. Sie war 80 Jahre alt. Sie beugte sich zum Asphalt und stand dabei auf einem Bein. Das schaffe noch nicht mal ich, mit meinen 44 Jahren. Ich war sehr beeindruckt. Ich fotografierte die Szene. Es war mein schönstes Foto aus Odessa.“

In Gruppen von 20 Personen zur Gedenkfeier

Die Polizei ließ die Menschen nur mit Verzögerung, in Gruppen von 20 Personen, auf das Kulikow-Feld vor dem Gewerkschaftshaus. Die Polizei begründete diese Strenge mit Corona-Sicherheitsregeln. Aber die Trauernden kennen dieses Spiel. Die Macht fürchtet nichts so sehr, wie Menschenansammlungen vor dem Gewerkschaftshaus. Man fürchtet eindrucksvolle Bilder, die ihren Weg auch in ausländische Medien finden.

In Anspielung auf den Marsch der Nationalisten, der zeitgleich ohne Sicherheitsabstände durch die Stadt zog, witzelten die Menschen mit verbittertem Unterton, „bei den Nationalisten wirkt das Virus nicht?“

Der „Marsch der Schützer von Odessa“

Um kurz nach zwölf Uhr mittags, während Hunderte vor dem Gewerkschaftshaus Blumen niederlegten, begann ein paar Straßenzüge weiter auf dem Kathedralen-Platz der „Marsch der Schützer von Odessa“. Teilnehmer waren Ultranationalisten und Faschisten. Sie zogen zum Schewtschenko-Park in Hafen-Nähe.

Der Kathedralen-Platz hat für die Rechten historische Bedeutung. Von diesem Platz startete am 2. Mai 2014 die Demonstration der Fußballfans und Ultranationalisten „Für eine einige Ukraine“, von der sich im Laufe des damaligen Nachmittags ein Teil abspaltete, zum Gewerkschaftshaus lief, dort Zelte niederbrannte und mit Knüppeln in das Gewerkschaftshaus eindrang, in das sich vor dem herannahenden Mob Regierungskritiker geflüchtet hatten.

Gruselkabinett

Beim Marsch der Nationalisten gab es keinerlei Corona-Sicherheitsabstand. Er wurde angeführt von einem schwarzen Pickup, an dessem Heck eine große Flagge mit einer „Wolfsangel“ flatterte. Mehrere ukrainische nationalistische Organisationen nutzen die Wolfsangel exakt in der Form, wie sie von der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ benutzt wurde.

Um 14 Uhr kommt die Meldung durch die Agenturen, dass in Odessa ein Mann wegen des Tragens kommunistischer Symbole verhaftet und ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Der „Marsch der Odessa-Schützer“ zieht derweil ungehindert durch die Stadt.

Der Journalist Vit Hassan sichtete auf dem Marsch viele Koloworat-Symbole. Koloworat, das ist eine Mischung aus Sonne und Hakenkreuz. Das Symbol stammt angeblich aus der slawischen Mythologie.

Es ist ein Gruselkabinett, das da durch die Straßen der 1794 von Katharina der Großen gegründeten Stadt zieht. Teilnehmer waren Veteranenverbände der „Antiterroristischen Operation“ gegen die Volksrepubliken Lugansk und Donezk. Teilnehmer waren außerdem Mitglieder der „Nationalen Gegenwehr“, der Partei „Swoboda“ und des „Nationalen Korpus“.

Namhafte Führer rechtsradikaler und nationalistischer Organisationen waren zu dem Marsch extra angereist. Unter den Demonstranten war Andrej Bilezki, Gründer des „Nationalen Korpus“, und der Leiter der „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN), Nikolai Kochaniwski. Vertreten waren auch Mitglieder der vom ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gegründeten Partei „Europäische Solidarität“ und Mitglieder des „Maidan Selbstschutz“ aus Kiew.

Der Journalist Vit Hassan hat den Marsch der Nationalisten fotografiert. Er sah einen Mann, dessen Kopf mit 12 Hakenkreuzen tätowiert war, und er sah die schwarz-roten Flaggen des Rechten Sektors und Personen mit White-Power-Tattoos.

Tschechischer Journalist: „Wer am Tag der Trauer demonstriert, will provozieren“

Auf zwei- bis viertausend Teilnehmer schätzt der Journalist Vit Hassan den Marsch der Nationalisten:

„Nazistische Musik wurde nicht gespielt. Stattdessen hörte man die Scorpions aus den Lautsprechern. Immer hörte man den Ruf ´Den Helden Ehre, Ehre den Helden´. Und dann ´Wir wollen Frieden. Odessa gehört uns.´ Viele Teilnehmer waren in Militärklamotten erschienen. Wer am Tage der Trauer um die Toten vom Gewerkschaftshaus demonstriert, will provozieren. Wenn man in Tschechien mit Hakenkreuzen gesehen wird, dann wird man in einer Sekunde verhaftet“.

Doch offenbar gelten in der früher weltoffenen Stadt Odessa seit 2014 andere Regeln.

Festnahme des tschechischen Journalisten durch Geheimdienstbeamte

Vit Hassan berichtet, er sei am Rande der Nationalisten-Demo, während er fotografierte, von zwei Männern in Zivil festgenommen worden. Die beiden Männer erklärten nicht, warum die Festnahme erfolgte und für welchen Dienst sie arbeiten:

„Sie nahmen mich mit Gewalt an den Armen und führten mich zu einem Polizeiauto. Sie erklärten nicht, warum. Auf der Polizeiwache guckten sie alle 500 Fotos in meiner Kamera an. Sie wollten auch meine Facebook-Seite sehen. Außerdem wollten sie sehen, welche Ukrainer ich mit meinem Handy angerufen habe. Sie machten Fotos von meinen ukrainischen Kontakten. Außerdem fotografierten sie meine Fotos von meinem spanischen Journalisten-Kollegen, mit dem ich in Odessa war. Sie verhörten mich eine halbe Stunde, warum ich nach Odessa gekommen bin. Das Verhör war freundlich, aber die Festnahme war grob. Die erste Frage war, ob ich Waffen in meiner Tasche habe. Dabei war klar, dass ich von der Presse war. Ich hatte einen Helm mit der Aufschrift Presse.“

Journalist aus Odessa: Ohne Aufklärung liegt die Schuld beim Staat

Juri Tkatschow, ein bekannter Journalist aus Odessa, schrieb auf dem Telegram-Messenger:

„Solange die Organisatoren der Tragödie vom 2. Mai nicht gefunden, genannt und bestraft werden, wird die Schuld für das Geschehene beim ukrainischen Staat liegen. Wenn jemand denkt, dass das alles vorbeigeht und vergessen wird, wird das nicht so sein. Solche Dinge bleiben in der Geschichte für Jahrhunderte.“

Dem ist nur hinzuzufügen, dass die Bundesregierung auch einen Teil der Verantwortung dafür trägt, ob das Massaker von Odessa aufgeklärt wird. Es gäbe viele Möglichkeiten, auf ukrainische Politiker in dieser Hinsicht Druck auszuüben. Doch bisher wurde keines dieser Mittel angewandt.

In Berlin will man auch nicht verstehen, dass das Massaker von Odessa nicht nur Bedeutung für das Verhältnis von Deutschland zur Ukraine, sondern auch für das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hat. Nach meinem Eindruck ist der Großteil der Russen entsetzt, dass Deutschland, „das Land der Demokratie“, zum Massenmord an Russland-freundlichen Aktivisten in Odessa schweigt. In den letzten Jahren reagierten meine russischen Gesprächspartner zudem verwundert darauf, dass unser Odessa-Film „Lauffeuer“ nicht im deutschen Fernsehen gezeigt wurde.

Titelbild und Beitragsbilder: Vit Hassan

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

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