Das senkrecht abstürzende Flugzeug
Am Mittwoch um 18:30 Uhr ereignete sich nordwestlich von Moskau im Gebiet Twer nahe dem Dorf Kuschenkino, ein Flugzeugabsturz. Ein Geschäftsflugzeug vom Typ Embraer-135 stürzte ab. Das Flugzeug gehörte der privaten Firma MNT-Aero. Augenzeugen nahmen den Absturz auf ihren Handys auf. Eine Aufnahme wurde im russischen Fernsehen gezeigt. Darauf war zu sehen, dass das Geschäftsflugzeug senkrecht nach unten stürzte.
In der Nacht auf Donnerstag veröffentlichte die russische Behörde Rosavia die Passagierliste. Danach befanden sich an Bord der Maschine sieben Passagiere und drei Besatzungsmitglieder. Auf der Liste standen die Namen vom Chef der privaten Wagner-Truppe, Jefgeni Prigoschin, und dessen Stellvertreter, Dmitri Utkin.
Die Leichen aller zehn Flugzeuginsassen wurde gefunden, meldeten russischen Medien am Donnerstag. Teilweise seien die Toten ohne Kopf, hieß es. Nur eine genetische Untersuchung könne Aufschluss über die Identität der Leichen bringen. Die Identität der Leichen festzustellen könne Tagen dauern, schrieb die Nesawisimaja Gaseta.
Doch das ist nicht die einzige Ungewissheit. Es wurde bekannt, dass auf gleicher Strecke noch ein zweites Geschäftsflugzeug in der Luft war, dass nach Angaben von Flightradar24 nach St. Petersburg und dann wieder zurück nach Moskau flog. Es gibt die Vermutung, dass Prigoschin in diesem zweiten Flugzeug saß.
Am Donnerstag zeigte das russische Fernsehen, wie russischer Ermittler die weiträumig abgesperrte Absturzstelle des Flugzeuges untersuchten. Etwa 20 Journalisten waren angereist, um von vor Ort zu berichten.
Bereits in der Nacht auf Donnerstag hatten die Ermittlungen im Schein von großen Lampen begonnen. Die Flugschreiber wurden am Tag nach dem Unglück noch gesucht.
Die Trümmer der Maschine sind in einem Umkreis von vier Kilometern verstreut. Das Heckteil der Maschine wurde weitab des Flugzeugrumpfs gefunden. Der „Kommersant“ berichtete, Grund des Absturzes könne eine Explosion im Heck des Flugzeugs gewesen sein.
Nach Angaben der Beobachtungsstelle für Passagierflugzeuge Flightradar24 flog die Maschine von 18:10 bis 18:19 in 8,5 Kilometer. Kurz vor dem Absturz stieg sie „unkontrolliert nach oben“ und erreichte eine Höhe von 9,15 Kilometern. Dann sackte sie auf 8,9 Kilometer ab, worauf der vertikale Sturz der Maschine zur Erde begann.
Das brennende Wrack der abgestürzten Maschine.
Die russischen Behörden ermitteln anlässlich des Absturzes der Prigoschin-Maschine wegen „nicht sachgemäßer Nutzung eines Fluggerätes“. Ob auch über andere meiner Meinung nach mögliche Absturzursachen ermittelt wird — etwa den Beschuss durch eine ukrainische Drohne oder eine Bombe im Jet — ist nicht bekannt. Der ukrainische Präsident Selenskij betonte, man habe mit dem Tod des „Terroristen“ nichts zu tun.
Zum Leiter der Ermittlungen wurde Iwan Sibul aus der Zentrale des russischen Ermittlungskomitees ernannt. Sibul hat bereits in anderen Fällen ermittelt, wo es um Unfälle mit Geschäftsflugzeugen ging. So leitete er 2014 die Ermittlungen wegen dem mysteriösen Zusammenstoß einer Schneeräummaschine mit einem Privatjet auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo. In dem Privatjet saß der Chef der französischen Öl-Firma Total, Christophe de Margerie, der mit dem russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedjew über Investitionen in Russland gesprochen hatte und bei dem Zusammenstoß auf dem Moskauer Flughafen getötet wurde. Mitarbeiter des Flughafens wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Inzwischen sind sie alle wieder auf freiem Fuß.
Die russischen Medien berichteten über den Flugzeugabsturz vom Mittwoch sehr zurückhaltend. Auf Beschuldigungen westlicher Politiker, nach denen Putin „wahrscheinlich“ die Verantwortung für die Katastrophe trage, reagierten die großen russischen Medien nicht.
Der Kreml-nahe Politologe Sergej Markow meinte, die zurückhaltende Berichterstattung russischer Medien über den Flugzeugabsturz sei der Beweis dafür, dass der Flugzeugabsturz für den Kreml ein unvorhersehbares Ereignis war.
Für viele russische Patrioten ist Prigoschin, weil „er sein Leben für Russland riskiert“ und das Verteidigungsministerium wegen schlechter Munitionslieferung kritisierte, ein Held. Man trauert um ihn. In St. Petersburg und Nowosibirsk wurden spontan Gedenkstätten mit Kerzen und Wagner-Abzeichen errichtet.
Gerüchte und Vermutungen überfluten die Telegram-Kanäle. Ein der Wagner-Truppe nahestehende Telegram-Kanal, Grey zone, behauptete, das Flugzeug sei von der russischen Luftabwehr abgeschossen worden. Die Anhänger von Wagner vermuten, dass hinter dem Flugzeugabsturz russische Militärs stehen, die sich für den Wagner-Putsch im Juni haben rächen wollen, oder ausländische Kräfte.
„Aber bisher glauben nur wenige, dass das Oberhaupt von ´Wagner´ gestorben ist“, kommentierte die Nesawisimaja Gaseta, die weiter schreibt: „Prigoschin ist bekannt für seinen Hang zum großen Auftritt und Äußerungen an der Grenze des Anstands. Deshalb neigen seine Feinde und seine Sympathisanten zu der Annahme, dass der Flugzeugabsturz die Imitation eines Todes sein könnte.“
Nach dem gescheiterten Putsch-Versuch, bei dem zahlreiche Soldaten der russischen Streitkräfte starben, hatte der Kreml auf eine Verfolgung von Prigoschin verzichtet. Man einigte sich auf einen Kompromiss. Die Wagner-Truppe wurde aus dem Gebiet im russisch-ukrainischen Grenzbereich abgezogen und teilweise nach Weißrussland verlegt. Das russische Verteidigungsministerium versuchte Wagner-Soldaten für die Armee zu gewinnen.
Trotz des Putschversuches agierte Prigoschin weiter als Unternehmer und nahm an Veranstaltungen teil. Am 29. Juni nahm der Wagner-Chef an einem Treffen mit Putin und Kommandeuren seiner Sicherheitsfirma im Kreml teil. Außerdem besuchte Prigoschin den Russland-Afrika-Gipfel am 27. Juli in St. Petersburg.
Am Montag meldete sich Prigoschin in seiner ersten Video-Botschaft seit dem Putsch-Versuch Ende Juni zu Wort, diesmal „aus Afrika“. Der Unternehmer gab die Wiederaufnahme der Tätigkeit von „Wagner“ in Afrika bekannt. In dem Video ist Prigoschin vor einer Savanne-ähnlichen Landschaft zu sehen. Der Unternehmer in Kampfausrüstung und mit Gewehr erklärte, es sei 50 Grad heiß. Weiter sagte Prigoschin, „die private Sicherheitsfirma Wagner macht Russland noch größer auf allen Kontinenten und Afrika wird noch freier.“ Man werde den „Islamischen Staat“ und al-Qaida und andere „Banden“ in Afrika verfolgen.
Westliche Politiker und Kommentatoren großer Medien meinten zu wissen, das Putin hinter dem Flugzeugabsturz stehe. Fakten konnten sie aber nicht nennen. Es blieb bei allgemeinen Vermutungen. In Russland passiere doch nichts „ohne den Willen von Putin“, erklärte der US-Präsident Joe Biden.
Tatsächlich scheint es nicht völlig unlogisch, dass ein Staat, der sich in einem Konflikt mit der gesamten Nato befindet, nicht zimperlich mit Leuten im eigenen Land umgeht, die sich ihm in den Weg stellen. Schon im Tschetschenien-Krieg gingen die russischen Sicherheitskräfte massiv vor. Die Präsidenten der 1991 ausgerufenen tschetschenischen Republik „Itschkerija“ Dudajew, Jandarbijew und Maschadow, wurden während der beiden Tschetschenienkriege von russischen Sicherheitskräften liquidiert.
Aber die Behauptung deutscher Medien, die Macht von Putin sei schon so wackelig, dass die Person Prigoschin für Putin eine latente Gefahr sei, ist durch Fakten nicht belegt.
Ja, es gibt in Russland Oligarchen, die den Ukraine-Krieg gerne beenden und mit dem Westen wieder ein Verhältnis aufbauen wollen, dass Gewinne verspricht. Doch bisher hat sich keiner dieser Oligarchen aus der Deckung gewagt. Und es gibt auch keinen einzigen konkreten Hinweis darauf, dass ein von russischen Oligarchen gelenkter Umsturz kurz bevorsteht.
Prigoschin hat zwar in Russland eine große Popularität. Er hat diese Popularität aber nicht, weil er gegen Putin ist, sondern weil er die russische Militärführung öffentlich für eine schleppende Versorgung mit Munition kritisiert hat.
Mit dieser Kritik traf Prigoschin einen wunden Nerv. Viele Russen haben nicht verstanden, warum Russland in die Ukraine nicht entschiedener, mit mehr Gerät und Soldaten intervenierte und warum sich die russische Armee aus den eroberten Gebieten um Kiew, Charkow und Cherson zurückgezogen hat. Viele Russen – so kann man es in Telegram-Kanälen lesen und auch im Gespräch mit Russen hören – waren von Anfang an für ein militärisches Vorgehen, bei dem auch große Städte erobert werden und es Militärschläge gegen die Residenz des ukrainischen Präsidenten gibt.
Russland steht keine leichte Zeit bevor. Aber das Kalkül der Nato, Russland mit dem Krieg in der Ukraine, der seit 2014 läuft, langsam auszuzehren, haben die meisten Russen durchschaut.
veröffentlicht in: Overton-Magazin