10. September 2020

„Mord in Russland“ – Eine Replik auf Jürgen Trittin

360b / Shutterstock
Foto: 360b / Shutterstock

10. September 2020 um 11:30Ein Artikel von Ulrich Heyden | Verantwortlicher: Redaktion

Jürgen Trittin, der einmal zum linken Flügel der Grünen gehörte, erklärte in einer Talkshow bei Anne Will zum Fall Alexej Navalny, wer in Russland „ernsthaft Opposition betreibt, muss um sein Leben fürchten.“ Das sei „im Interesse des Systems“. Was ist da dran? Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

„Wir haben es zu tun mit einem System, in dem der politische Mord an Oppositionellen Tradition hat, und da hilft der Verweis auf das Cui bono nicht weiter. Sondern es passiert immer wieder (…) Und dieses System lautet, ich muss, wenn ich ernsthaft Opposition betreibe, um mein Leben fürchten. Das ist die Botschaft, die davon ausgeht. Und das ist im Interesse übrigens des Systems.“

Dies ist ein Zitat von Jürgen Trittin aus der Talk-Show von Anne Will vom 6. September, bei der es um die angebliche Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Navalny ging.

Hat Putin Angst vor der Opposition?

Mit seinen Äußerungen unterstellt Trittin, das politische System in Russland könne sich nur mit Hilfe von Morden und Vergiftungen halten. Ohne derartige Methoden der Machtsicherung bekomme die Opposition und unzufriedene Massen in Russland Oberwasser und würden versuchen – wie in der Ukraine – das System Putin zu stürzen.

Ich will nicht bestreiten, dass es bei Wahlen in Russland gelegentlich zu Unregelmäßigkeiten kommt. Auch in den USA gibt es Unregelmäßigkeiten. Aber es gibt keine Beweise dafür, dass Putin und die Regierungspartei Einiges Russland Wahlen nur auf Grund von Fälschungen gewinnen.

Erstaunlich ist, dass Trittin, der sich als „Russland-Experte“ bezeichnet, immer nur über Putin und die liberale Opposition mit ihrem „Führer“ Navalny spricht. Die viel breiter aufgestellte Zivilgesellschaft in Russland – von Ökologen, über Anwohnerinitiativen bis hin zu Linken und Liberalen – hat Trittin nicht im Blick. In Talkshows zitiert der ehemalige Bundesumweltminister immer nur seine liberalen Freunde in Moskau, deren Hauptthemen das Andenken an die Opfer des Stalinismus und der möglichst baldige Sturz von Wladimir Putin ist.

Ein Blick in den russischsprachigen Bereich von YouTube genügt, um sich ein Bild zu machen von der enormen Breite und Lebendigkeit der russischen Zivilgesellschaft. Dort posten russische Journalisten, Blogger und Oppositionelle täglich neue Videos, in denen sie kritisch Stellung nehmen zur Müll-Politik, zur Kommerzialisierung des Bildungs- und Gesundheitsbereiches oder zu den Einsätzen der russischen Sicherheitsfirma „Wagner“ in internationalen Krisenherden.

Bekannte russische Linke wie der Leiter der Lenin-Sowchose Pawel Grudinin oder die Video-Blogger Konstantin SjominMaxim Schewtschenko und Boris Kagarlitzky sammeln über ihre YouTube-Kanäle ein Auditorium von mehreren hunderttausend Zuschauern. Auch der ehemalige Diplomat Nikolai Platoschkin, der letztes Jahr die Bewegung „Neuer Sozialismus“ gründete und seit Anfang Juni wegen seiner Gegnerschaft zu den Verfassungsänderungen unter Hausarrest steht, ist per YouTube zwar nicht zu sehen, aber immerhin zu hören.

Morde an Journalisten unter Boris Jelzin werden ausgeblendet

Die Masche von Trittin und anderen, die Russland zur besonderen Gefahr für Deutschland und Europa hochstilisieren wollen, ist, dass sie Ereignisse wie „Korruption“, „Repression“, „Militäreinsätze“ aus dem Zusammenhang reißen und positive Entwicklungen in der russischen Gesellschaft wie den rasanten Ausbau der Moskauer U-Bahn oder die Versorgung von Militärangehörigen mit modernen Wohnraum generell ausblenden. So entsteht ein angsteinflößendes Bild.

Die Behauptung von Trittin, es gehöre zum russischen System, „Oppositionelle und Journalisten“ umzubringen, funktioniert nur, wenn er verschweigt, dass die Zahl der Morde an Journalisten im nachsowjetischen Russland unter Putin deutlich zurückgegangen ist. Während von 1993 bis 1999 unter Präsident Boris Jelzin 93 Journalisten Opfer von Mord, Schießereien und Terrorakten wurden, waren es in den Jahren 2000 bis 2009 unter Wladimir Putin und Dmitri Medwedew 114 und in den Jahren 2011 bis 2018 unter Putin 27 Journalisten.

Dazu muss man sagen, dass ein großer Teil der Journalisten Opfer der beiden Tschetschenienkriege (1994 bis 1996 und 1999 bis 2003) wurden. Eine weitere große Gruppe von Ermordeten sind Journalisten von regionalen Medien, die Opfer von Machtkämpfen innerhalb der regionalen Eliten wurden.

In die Amtszeit von Boris Jelzin fallen die Morde an dem Journalisten Dmitri Cholodow, dem Fernseh-Moderator Wladislaw Listjew und der liberalen Politikerin Galina Starowoitowa.

Der Westen hat Jelzin wegen dieser Morde in Russland keine Ultimaten gestellt, wie es jetzt im Fall Navalny geschieht. Warum? Der Westen wollte Jelzin schützen, denn dieser machte Russland zu einem schwachen Staat, der westlichen Konzernen zur Ausplünderung offenstand.

1995 – Der Mord erste Journalisten-Mord, der Wellen schlug

Die Hintergründe des ersten Journalisten-Mordes im nachsowjetischen Russland, der große Wellen schlug, möchte ich hier beschreiben. Es wird deutlich, dass die Journalisten in der Übergangsphase vom Staats-Sozialismus zum wilden Kapitalismus zwischen die Fronten gerieten. Sie waren Vorboten der neuen, demokratischen Gesellschaft. Doch sie wurden von der Macht nicht geschützt.

Am 17. Oktober explodierte in der Redaktion des Massenblattes „Moskowski Komsomolez“ im Arbeitszimmer von Dmitri Cholodow eine Bombe, die den 27 Jahre alten Journalisten tötete. Cholodow hatte sich auf Korruptionsfälle in der russischen Armee spezialisiert und beschuldigte unter anderem auch Verteidigungsminister Pawel Gratschow der persönlichen Bereicherung.

Die russische Armee befand sich in den 1990er Jahren in einem kläglichen Zustand. Der Staat hatte kein Geld für die Soldaten. Die Kasernen wurden nur unregelmäßig beheizt. Regelmäßig fiel wegen nichtbezahlter Rechnungen der Strom aus. Die Wehrpflichtigen wurden von ihren Vorgesetzten auf Bauplätze und in die Landwirtschaft geschickt, damit sie dort Geld verdienten. Häufig verkauften Vorgesetzte auf dem Schwarzmarkt alles an Armeeausrüstung, was nicht niet- und nagelfest war.

Die Menschen reagierten auf Zeitungsberichte über Korruption in der Armee unterschiedlich. Die einen lobten den Mut des Journalisten Cholodow, die anderen meinten, mit seinen Berichten nütze er dem Westen, der eine schwache russische Armee will.

Die Zeitung „Moskowski Komsomolez“ verdächtigte Verteidigungsminister Pawel Gratschow als Drahtzieher des Anschlags auf den Journalisten. Der Minister, berichtet das Blatt unter Bezug auf die Ermittlungen, habe für Spezialoperationen geschulten Mitgliedern der Luftlandetruppen den Auftrag gegeben, Cholodow zum Schweigen zu bringen. Sechs Angehörige der Luftlandetruppen saßen wegen dem Mord an Cholodow vier Jahre in Haft, wurden aber 2001 freigesprochen, aus der Haft entlassen und später für ihre Haftzeit entschädigt. Wer den Journalisten nun wirklich umgebracht hat und wer den Auftrag gab, ist bis heute offen.

Präsident Jelzin stellte sich hinter den Verteidigungsminister

Präsident Boris Jelzin stellte sich nach dem Mord an dem Journalisten Cholodow hinter Verteidigungsminister Gratschow und wies alle Verdächtigungen, dieser könne den Mord angeordnet haben, zurück. Jelzin erklärte, Gratschow habe im Oktober 1993 „die Demokratie in Russland geschützt“. Gemeint war die Beschießung des Obersten Sowjet – dem damaligen russischen Parlament – mit Panzern am 4. Oktober 1993.

Die Mitglieder des Obersten Sowjet hatten sich in dem Gebäude verbarrikadiert. Sie widersetzten sich den Anordnungen von Jelzin. Seine marktradikale Politik wollten sie nicht mittragen. Durch den Panzerangriff wurden sie zur Aufgabe gezwungen. Sie kamen in Untersuchungshaft.

Im Dezember 1993 ließ Jelzin die Russen dann über eine neue Verfassung abstimmen, die das Parlament entmachtete und dem russischen Präsidenten weitreichende Vollmachten gab.

Die westlichen Medien und auch die „taz“, das Hausblatt der Partei „Die Grünen“, verteidigten die Beschießung des russischen Parlaments und die anschließende Verhaftung der Abgeordneten, die für die „taz“ nur „Alt-Kommunisten“ und „Nationalisten“ waren, die kein besonderes Mitleid verdienten.

Der Mord am Fernseh-Chef Wladislaw Listjew 1995

Der zweite Mord an einem Journalisten, der im nachsowjetischen Russland besondere Aufmerksamkeit erregte, war das tödliche Attentat auf Wladislaw Listjew am 1. März 1995. Dieser Mord an dem 38 Jahre alten Geschäftsführer des russischen Fernsehkanals ORT ist bis heute nicht aufgeklärt.

Der Fernsehkanal ORT gehörte 1995 zu 51 Prozent dem Staat. Der Kanal kontrollierte damals 90 Prozent des russischen Fernseh-Marktes. 36 Prozent der Aktien gehörten dem Oligarchen Boris Beresowski. Der hatte Wladislaw Listjew zum Generaldirektor des Fernsehkanals ernannt.

Es wird vermutet, dass Listjew, der Moderator verschiedener populärer Unterhaltungssendungen war, ermordet wurde, weil er Geschäftsleuten, die damals mit Mafia-Methoden arbeiteten, in die Quere kam.

Neun Tage vor dem Attentat hatte Listjew ein Moratorium für jegliche Reklame auf dem Fernsehkanal verhängt. Der Grund war, dass es mit den Firmen, die Reklame-Zeiten bei dem Fernsehkanal kauften, zu keiner Einigung über den Preis gekommen war und Listjew wollte mit seinem Moratorium offenbar Zeit für weitere Verhandlungen erzwingen.

Wer stand hinter dem Mord an Listjew? Es werden verschiedene Hintermänner genannt. Die einen sagen, es sei der Oligarch Boris Beresowski gewesen, die anderen sagen, es war Sergej Lisowski, Besitzer einer der Firmen, die bei ORT Reklamezeiten kauften.

Der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja 2006

Jürgen Trittin nannte als Beweis für die systematische Ermordung von Journalisten und Oppositionellen in Russland die Namen Anna Politkowskaja und Boris Nemzow. Doch bis heute konnte noch niemand einen schlüssigen Grund nennen, welchen konkreten Nutzen diese Morde für Putin haben sollten. Dass es in beiden Mordfällen Verurteilungen gegen die Täter gab, vergaß Trittin zu erwähnen.

Politkowskaja, die sich mit ihren Reportagen aus dem Tschetschenienkrieg und der harten Kritik am „System Putin“ einen Namen machte, wurde am 7. Oktober 2006 vor ihrer Wohnung erschossen.

Im Mai 2014 verurteilte ein russisches Gericht fünf Tschetschenen wegen des Mordes an der bekannten Journalistin zu Haftstrafen zwischen 13,5 Jahren und lebenslänglich. Ein ehemaliger Moskauer Polizeioberst wurde zu elf Jahren Haft verurteilt, weil er den Mördern half, den Wohnort und die Lebensweise von Politkowskaja auszukundschaften.

Über das Motiv der Tätergruppe kann man nur spekulieren. Tatsache ist, dass Politkowskaja in ihren Reportagen Tschetschenen, die bei der Rückeroberung Tschetscheniens auf der Seite der russischen Armee kämpften, schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigte. Die Beschuldigungen gegen diese Tschetschenen könnten das Motiv für einen Mord aus Rache gewesen sein.

Der Mord an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow 2015

Wegen dem Mord an dem liberalen Oppositionspolitiker Boris Nemzow, der am Abend des 27. Februar 2015 auf einer Brücke nicht weit vom Kreml erschossen wurde, verurteilte ein russisches Gericht fünf Tschetschenen.

Über das Motiv gibt es nur unklare Angaben. Einer der Tschetschenen soll erklärt haben, Nemzow habe in einem Blog den Islam beschimpft. Für die Tat bekamen die Tschetschenen angeblich eine Belohnung von 280.000 Euro von Ruslan Muchutdinow, einem ehemaligen Mitglied der tschetschenischen Militäreinheit „Nord“. Muchutdinow wurde zur internationalen Fahndung ausgeschrieben.

Die wichtigste Zeugin des Nemzow-Mordes war Anna Durizkaja, ein Model aus Kiew. Sie ging an dem tragischen Abend mit dem Oppositionspolitiker nicht weit vom Kreml über die Brücke, auf der Nemzow erschossen wurde. Anna Durizkaja wurde bei dem Mord nicht verletzt, was nach Aussage eines ehemaligen FSB-Beamten erstaunlich ist, da Zeugen bei solchen Anschlägen in der Regel ebenfalls „beseitigt“ werden.

Der Moskauer Soziologe Boris Kagarlitzky vermutete, dass der Mord an Nemzow von russischen Oligarchen in Auftrag gegeben wurde, um Putins Herrschaft zu schwächen. Der Soziologe spielte auf Oligarchen an, die Kritik an der Rückholung der Krim haben und auf eine Wiederbelebung der Geschäfte mit dem Westen hoffen.

Das angebliche Ziel „Einschüchterung“ wurde verfehlt

Sollten die Morde darauf zielen, kritische Journalisten einzuschüchtern, so haben sie ihre Wirkung gänzlich verfehlt. Dreimal wöchentlich erscheint bis heute die Nowaja Gaseta, für die Politikowskaja schrieb. Hauptthema dieser Zeitung ist die Korruption in den russischen Machtorganen und die Geschichte des „Stalinismus“, der angeblich immer noch Russlands Politik prägt.

Es gibt die liberalen Medien, Radio „Echo Moskau“, den liberalen Fernsehkanal „Doschd“ und zahlreiche Kreml-kritische Blogger wie „Dud“, der ein Millionenpublikum hat. Die Medienlandschaft in Russland ist äußerst lebendig und nicht weniger vielfältig als in Deutschland.

Schweigen zum Brandangriff auf das Gewerkschaftshaus von Odessa

Die „taz“ hatte schon 1993 die Beschießung des russischen Parlaments gerechtfertigt. So war es eigentlich kein Wunder, dass das Blatt auch den Staatsstreich 2014 in Kiew als positives Ereignis beschrieb. Erschreckend war jedoch, dass sogar der offene Mord an Kritikern der Nach-Maidan-Regierung in Odessa für die „Grünen“ und für die deutschen Medien insgesamt kein Grund zu Protest und Kritik war. Am 2. Mai 2014 zündeten ukrainische Ultranationalisten das Gewerkschaftshaus von Odessa an. 42 Menschen starben.

Für Jürgen Trittin, der im Juli 2014 die Ukraine besuchte, war das Massaker kein Thema, mit dem er seine ukrainischen Gesprächspartner belästigen wollte. Gewalttätige Nationalisten hat Trittin in der Ukraine nicht gesehen, von ihren Gewalttaten nichts gehört. Der ehemals linke Grüne schreibt in seinem Reisebericht:

„Die Kräfte des Maidan haben zur deutlichen Vitalisierung der Zivilgesellschaft beigetragen, die sich darauf konzentriert, die Regierenden zu kontrollieren. Gegen sie kann zurzeit die Ukraine nicht regiert werden. Sie kandidieren nicht selber, sind aber für Wahlen im Herbst.“

Trittin blendet die chaotischen 1990er Jahre aus

Wenn Trittin heute erklärt, man habe es in Russland mit einem System zu tun, „in dem der politische Mord an Oppositionellen Tradition hat“, warum fokussiert er dann seine Kritik auf Putin? Warum fragt er nicht, was in den 1990er Jahren unter dem vom Westen gelobten Präsidenten Boris Jelzin passierte? Unter diesem Präsidenten wurden archaische, frühkapitalistische Verhältnisse in Russland installiert. Pensionäre mussten Monate auf ihre Renten warten. Millionen Menschen wurden arbeitslos und überlebten nur dank ihrer privaten Gemüsegärten.

Der wilde Kapitalismus der 1990er Jahre hat Folgen bis heute. Der Graben zwischen schlechtbezahlten und superreichen Russen ist riesig. Die Mittelschicht existiert nur in Rudimenten. Der schrittweise Abbau von sozialen und Arbeitsschutzstandards aus der sowjetischen Zeit und die Kommerzialisierung des Gesundheits- und Bildungsbereiches führt dazu, dass vor allem die ältere Generation sich sehnsüchtig an die Sowjetunion erinnert.

Wladimir Putin hat die schlimmsten Auswüchse des Mafia-Kapitalismus der 1990er Jahre stoppen können. Wer das nicht anerkennt und stattdessen Jagd auf angeblich korrupte russische Politiker in Deutschland und der EU machen will, muss sich fragen lassen, wessen Interessen er verfolgt: die der einfachen Russen oder die Interessen der westlichen Eliten, die kein starkes, wirtschaftlich gesundes Russland wollen.

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

 

Teilen in sozialen Netzwerken
Im Brennpunkt
Bücher
Foto