Das Gebäude liegt sehr schön am 800 Meter breiten Chimki-Stausee, umgeben von einem ebenfalls modernisierten Park. Bei gutem Wetter flanieren Erwachsene mit Kindern auf der komplett erneuerten Uferpromenade, an dem Ausflugsschiffe festgemacht haben. Eine leichte Brise weht und eine Band spielt über Verstärker Klassiker aus russischen Kino-Filmen.
Wenig Kreuzfahrten in den 1990er Jahren
In den 1990er Jahren war der Ticket-Verkauf für Kreuzfahrten vom Chimki-Stausee über den Moskau-Wolga-Kanal nach St. Petersburg eingebrochen. Die Leute hatten kein Geld mehr. Nur noch selten wurden Löhne gezahlt. Der Inland-Tourismus ging zurück und auch Ausländer fürchteten „wegen der Mafia“, die mit Morden und Raub von sich reden machte, nach Russland zu kommen.
In dem Hafengebäude des nördlichen Flusshafens mit seinem berühmten Restaurant „Wolga-Wolga“, dass auch in dem gleichnamigen sowjetischen Kino-Klassiker eine Rolle spielt, hielt in den 1990er Jahren der wilde Kapitalismus Einzug. Im Hafengebäude gab es nun einen Markt, ein Möbellager und einen Nachtklub. Gleichzeitig begann der Zerfall des Gebäudes. Kacheln fielen ab, auf den Galerien wuchsen Büsche und das Flachdach wurde undicht.
Der Hafen der fünf Meere
Der nördliche Flusshafen hat für den Tourismus in Russland eine große Bedeutung. Von hier starten seit 1937 Ausflugsschiffe durch das Moskauer Umland und Kreuzfahrtschiffe, die über den Moskau-Kanal bis St. Petersburg oder über die Wolga weiter nach Nischni Nowgorod und ins südrussische Astrachan fahren. Die Kreuzfahrtschiffe tragen so stolze Namen wie „Oktoberrevolution“, „Georgi Schukow“ (er war der General, der Berlin befreite) und „Iwan Kulibin“ (Konstrukteur von Taschenuhren und Brücken).
Als das Hafengebäude am Chimki-Stausee gebaut wurde, hatte es zunächst noch keinen Kontakt zum Wasser, denn erst 1936 wurde das Wasser des kleinen Chimki-Flusses auf eine Höhe von 30 Metern und eine Länge von neun Kilometern aufgestaut. Mit dem Stausee bekam Moskau im Nordwesten ein Hafenbecken. Und mit dem zeitgleich gebauten 128 Kilometer langen Moskau-Wolga-Kanal (heute Moskau-Kanal) bekam die Stadt nicht nur dringend benötigtes Trinkwasser, sondern auch eine Schiffsverbindung zu fünf Meeren, der Ostsee, dem nördlichen Weißen Meer, und den im Süden gelegenen Asow-, Kaspischen und Schwarzen Meer.
Erinnerung an einen venezianischen Palast
Das zweistöckige, 150 Meter lange Hafengebäude – mit seinen langen Galerien, Säulen und Bögen erinnert es an venezianische Paläste – wirkt aber nicht wuchtig, sondern wegen seiner langgestreckten Form und den vielen Bögen luftig-leicht.
Der Architekt des Gebäudes, Aleksej Ruchljadew, wurde 1882 in der Stadt Nolinsk im europäischen Teil Russlands geboren. Seine Ausbildung als Architekt erhielt er noch in der Zarenzeit.
Auf dem Flachdach des Gebäudes kann man jetzt nach der Renovierung spazieren gehen und wenn man den Kopf hebt, blickt man auf einen viereckigen Turm, dessen Ecken vier weiße Skulpturen schmücken. Die Skulpturen stellen dar: einen Soldaten und einen Matrosen, jeweils mit Gewehr, eine Frau aus dem Süden und ein Mann aus dem Norden Russlands, beide jeweils in der für ihre Region typischen Kleidung.
Von dem Turm erhebt sich eine 27 Meter hohe, vierkantige Spitze aus blankem Stahl, die einen fünfzackigen goldenen Stern mit Hammer und Sichel trägt.
Das Hafengebäude, dessen kurze Enden rund sind, ähnelt mit den Galerien, dem Turm mit seiner langen, in den Himmel ragenden Spitze, einem Schiff mit Kajüten, Decks, einem Schornstein und einem Mast.
Rund um das Gebäude und auch im Innern gibt es viel zu entdecken. An den Längsseiten des Hafengebäudes sind 24 einen-Meter-große Porzellan-Medaillons in die Außenwände eingelassen. Auf den Medaillons sind in bunter Relief-Darstellung Bauten des Fünfjahresplans zu sehen: ein Staudamm, der Palast der Sowjets, ein Panzer, ein Stahlwerk und ein Zeppelin. In der Eingangshalle des Terminals gibt es große Fenster. Sie sind als Mosaiken gestaltet und zeigen in leuchtenden Farben die Wappen der 15 Sowjetrepubliken.
Ein Miniatur-Kanal mit sieben Schleusen
Eine weitere Attraktion, welche vor allem die Kinder begeistert, ist ein vierhundert Meter langes, in Granit eingefasstes Bächlein mit Miniatur-Kopien von sieben Schleusen aus Kupfer. Bei dem Bächlein handelt sich um eine Nachbildung des Moskau-Wolga-Kanals. Das Miniatur-Modell, welches sich in Windungen wie eine Schlange über die steinerne Hafenpromenade zieht, lädt zum Spiel ein. Kinder setzen Papierschiffchen in das Bächlein oder klettern über die 60 Zentimeter hohen Miniatur-Schleusen.
Der Besuch des nördlichen Flusshafens hat mich beeindruckt. Und als ich zuhause bin, beginne ich mich mit historischen Aufsätzen über den Moskau-Wolga-Kanal genauer zu informieren.
Wohl wusste ich, dass bei dem Bau des Kanals vor allem Strafgefangene eingesetzt wurden und ihr Einsatz vom Geheimdienst NKWD organisiert wurde. Aber viele Details waren mir nicht bekannt. Auf historischen Filmaufnahmen ist zu sehen, dass die Handarbeit überwog. Auf diesen Aufnahmen sieht man nur wenige Schaufelbagger, aber Tausende Arbeiter mit Schaufel und Schubkarre.
Nach Angaben der „Novije Iswestija“ arbeiteten 190.000 bis 600.000 Männer auf den Baustellen entlang des Moskau-Wolga-Kanals. Wegen Krankheiten und mangelhafter Ernährung habe die Sterblichkeit unter den Arbeitern bei 15 Prozent gelegen.
Die für den Bau der Kanal-Miniatur zuständige Moskauer Behörde schreibt auf ihrer Website, der Miniatur-Kanal habe „nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine aufklärende Funktion.“ Doch ich frage mich, worin die aufklärende Funktion liegt, wenn die Männer, die den Chimki-Stausee und den Moskau-Wolga-Kanal gebaut haben, nirgendwo erwähnt werden und eine Gedenktafel für sie fehlt.
Sowjetische Denkmäler werden schrittweise restauriert
Seitdem Wladimir Putin im Jahr 2000 Präsident Russlands wurde, wurden in Moskau mehrere bekannte historische Gebäude aus der Sowjetzeit, die vom Zerfall bedroht waren, renoviert.
2003 begannen im Norden Moskaus, auf dem Ausstellungsgelände „Leistungen der Volkswirtschaft“ (WDNCh), die Renovierungsarbeiten an der berühmten, 24 Meter hohen Skulptur «Arbeiter und Kolchosbäuerin“. Die 1936 von Vera Muchina und Boris Iofan entworfene und gebaute Skulptur aus Edelstahl wurde 1937 auf der Weltausstellung in Paris gezeigt. Ein Arbeiter und eine Kolchosbäuerin stürmen nach vorne und halten dabei mit ausgestrecktem Arm Hammer und Sichel hoch.
Zum Abschluss der Renovierungsarbeiten im Jahre 2009 wurde die Skulptur mit einem Kran auf einen 34 Meter hohen Museumspavillon gehievt, weshalb sie jetzt im Norden Moskaus schon von Weitem zu sehen ist.
Die „Pavillons der Volkswirtschaft“ umgeben von goldenen Skulpturen, Säulen und Bögen
Es dauerte noch bis zum Jahr 2014, als unter Leitung des neuen Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin die Wiederherstellungsarbeiten der Pavillons auf dem Ausstellungsgelände „Leistungen der Volkswirtschaft“ (WDNCh) begannen.
Der 1939 fertiggestellte Ausstellungskomplex WDNCh ist ein eindrucksvolles Zeugnis einer Zeit, in der es mit der Wirtschaft bergauf ging. Auf dem Ausstellungsgelände stellten die einzelnen Sowjetrepubliken und die verschiedenen Industriezweige – Weltraum, Chemieindustrie, EDV und andere – ihre Erzeugnisse vor.
Die Pavillons sind in einem üppigen palastartigen Stil gebaut. Das Gelände bietet visuelle Eindrücke – Raketen, Flugzeuge und goldene Skulpturen – aber auch Erholungsmöglichkeiten mit Parkflächen. Neu dazugekommen ist ein Ozenarium.
Sehr eindrucksvoll ist der neugestaltete Pavillon zum Thema Weltraum. Man sieht die Rakete Wostok, mit der Juri Gagarin 1961 als erster Kosmonaut in den Weltraum flog. Außerdem sieht man ein Modell der sowjetischen Weltraumstation MIR, die 1986 startete und 2001 kontrolliert über dem Pazifik zum Absturz gebracht wurde. Es gibt noch einen Leckerbissen für Mutige: Besucher können in Simulatoren fünf Minuten lang zum Mond fliegen.
In den wilden 1990er Jahren hatten diverse Händler, die mit aus Dubai und China importierten Computern oder Kleidung handelten, die Ausstellungspavillons auf dem WDNCh-Gelände in Beschlag genommen. Das Gelände erfreute sich weiter großer Beliebtheit, nur russische Produkte spielten hier in den 1990er Jahren und auch später nur noch eine Randrolle.
Erinnerung an Bauhaus: Das Haus der Volkskommissare für Finanzen
Auch eines der bekanntesten Gebäude des frühsowjetischen Konstruktivismus (er ist dem deutschen Bauhaus-Stil ähnlich) wurde vor dem Zerfall gerettet. Es handelt sich um das 1930 von Mosej Ginsburg gebaute „Haus der Volkskommissare der Finanzen“. Das fünfstöckige Gebäude steht in der Moskauer Innenstadt, nicht weit vom Gartenring und der US-Botschaft.
Das Haus der Volkskommissare fällt mit seinen charakteristischen, langgestreckten Fenstern, die sich über die gesamte Gebäudefläche ziehen, sofort ins Auge. Die Fenster lassen sich nicht wie gewöhnlich öffnen. Sie werden zur Seite aufgeschoben. Die Wohnungen in dem Gebäude erstrecken sich alle über zwei Etagen.
In den letzten Jahren fand sich ein Privatinvestor, der das Gebäude renovieren ließ. Im August 2020 wurden die Renovierungsarbeiten abgeschlossen.
Noch ein zweites, im Stil des Konstruktivismus gebautes Gebäude wurde gerettet. 2013 wurden die Renovierungsarbeiten an dem südlich des Moskauer Stadtzentrums gelegenen Kommune-Studentenwohnheims an der Ordschonikidse-Straße abgeschlossen. Das 1930 gebaute Studentenwohnheim mit Lesesälen, Küche und Waschräumen wurde jahrzehntelang nicht instandgehalten. In den 1990er Jahren zogen verschiedene Firmen in das Gebäude ein. Das renovierte Gebäude wird heute wieder als Studentenwohnheim genutzt.
Das original Alte verschwindet allmählich
Moskauer Architekten, Liebhaber und Denkmalschützer, die sich in der Organisation Archnadsor zusammengeschlossen haben, kritisieren, dass die Stadt Moskau wenig tut, um bekannte Bauten aus der vorrevolutionären Zeit instand zu halten. Teilweise würden diese Gebäude auch durch Immobilien-Firmen verschandelt. Oft werden von alten Häusern, die einen bestimmten architektonischen Wert haben, nur die Fassaden erhalten. Hinter den Fassaden entstehen dann hochmoderne Hotels, Büros und hochpreisige Wohnungen.
Die Feinheiten eines alten Gebäudes zu restaurieren, kostet unter Umständen mehr Geld, als ein supermodernes Gebäude hinter eine Fassade zu setzen, so das Kalkül privater Moskauer Immobilienfirmen. Das Flair von 200 Jahre alten Gebäuden mit ihren abgewetzten Steintreppen, den Türklinken aus Messing und den kunstvoll gezimmerten Fenstern geht langsam verloren. Nur in Einzelfällen wird das original Alte von privaten Investoren oder städtischen Behörden erhalten.
veröffentlicht in: Nachdenkseiten