4. August 2019

Moskau: Radikale Liberale bleiben hart

Festnahme eines jungen Mädchens
Foto: Festnahme eines jungen Mädchens

Der radikale Flügel der liberalen Opposition rief erneut zu nichtgenehmigten Kundgebungen gegen die Nichtzulassung von Kandidaten für die Stadtparlamentswahl auf. Die Macht reagierte mit der Festnahme von 685 Personen

Am Samstag fanden in Moskau erneute eine nichtgenehmigte Aktionen gegen die Nichtzulassung von oppositionellen Kandidaten zu den Stadtparlamentswahlen statt. An mehreren Orten in der Moskauer Innenstadt demonstrierten vor allem junge Leute. Der Protest richtete sich auch gegen die Festnahme von bekannten liberalen Oppositionellen, wie Ilja Jaschin, Dmitri Gudkow und Ljubow Sobol.

Das Angebot der Stadtverwaltung, auf dem Sacharow-Prospekt zu demonstrieren, lehnten die Führer der liberalen Opposition ab. Sie bestanden auf einem Kundgebungsplatz im Stadtzentrum. Als die Macht auf diese Forderung nicht einging, riefen die Oppositionsführer dazu auf, sich um 14 Uhr an verschiedenen Stellen des Moskauer Boulevard-Rings zu versammeln. Einige Geschäfte im Zentrum von Moskau hatten aus Angst vor Ausschreitungen geschlossen.

An den Aktionen am gestrigen Samstag beteiligten sich nach Polizeiangaben 1.500 Menschen. Nach Angaben der nationalliberalen Nesawisimaja Gaseta waren es 5.000 Menschen. 685 Teilnehmer der Aktionen wurden nach Angaben des oppositionellen OVD-Info festgenommen. Auch zehn Journalisten wurden festgenommen, aber kurze Zeit später wieder freigelassen.

Neu war, dass viele Verhaftungen von schwarz maskierten Mitarbeitern der Rosgwardija vorgenommen wurden. Die Maskierung sollte offenbar der Einschüchterung dienen.

Liberale Jabloko-Partei beteiligt sich nicht an den Protesten

Der Führer der sozialliberalen Partei Jabloko Grigori Jawlinski, hatte dazu aufgerufen, sich nicht an den nichtgenehmigten Aktionen zu beteiligen. Man dürfe keine Menschen in Gefahr bringen. Wie schon am 27. Juli kam es am Sonnabend zu harten Einsätzen der Rosgwardija.

Ein Polizist wurde nach Angaben der Innenbehörde auf dem Puschkin-Platz verletzt und musste in ein Krankenhaus gebracht werden. Ein der Tat Verdächtiger aus den Reihen der Demonstranten wurde festgenommen.

Mitarbeiter der Rosgwardija kontrollieren Passanten am Puschkin-Platz. Foto: Ulrich Heyden

Das staatlich russische Fernsehen berichtete am Sonnabend nur am Rand über die Aktionen und Festnahmen. Bei dem vom Gasprom-Konzern finanzierten Sender Echo Moskwy war dagegen die Aktion der liberalen Opposition das Top-Thema des Tages wie auch bei dem von Spenden finanzierten, liberalen Fernsehsender Doschd.

Willkürliche Festnahmen

Der Autor dieser Zeilen hat sich mit eigenen Augen eine der Aktionen am Samstag angeschaut. Ab 14 Uhr strömten auf den Puschkin-Platz erst wenig, dann immer mehr Menschen. Der Strom speiste sich aus einem Zug von "Spaziergängern", die in einer Kolonne auf dem Boulevard-Ring, eine parkähnliche Zone, die einen halben Ring um die Innenstadt bildet, gingen. Die Polizei versuchte, den Zug mit Sperrgittern zu stoppen, doch die "Spaziergänger" umgingen die Sperrgitter. Parolen wurden nicht gerufen und auch keine Plakate gehalten.

Als sich auf dem Puschkin-Platz etwa 300 Menschen gesammelt hatten, kamen folgende Lautsprecherdurchsagen: "Sehr geehrter Bürger. Sie stören die öffentliche Ordnung. Sie stören die Bürger und die Gäste der Hauptstadt, sich zu erholen. Gefährden Sie nicht das Leben der Umstehenden. Die Mitarbeiter der Rosgwardija sorgen für Ihre Sicherheit. Unter ihnen sind Wehrpflichtige. Das sind Ihre Söhne."

Danach begannen Dreier-Gruppen von maskierten und behelmten Mitarbeitern der Rosgwardija durch die Menge zu streifen, sich einzelne Personen zu greifen und in die Gefangenentransporter zu verfrachten. Ein sehr junges Mädchen, welches mit seiner Freundin völlig harmlos auf dem Platz stand, wurde von einem stämmigen Rosgwardija-Mann ohne Erklärung mitgenommen.

Friedlich an der Staatsanwaltschaft vorbeigezogen

An einem anderen Ort in der Innenstadt, der Petrowka-Straße, zogen am Sonnabend unter den Rufen "Putin ist ein Dieb" 400 Demonstranten vorbei an dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft, ohne dass ein Stein oder Farbbeutel flog. Die Demonstranten riefen: "Allen könnt ihr nichts zustecken."

Demonstranten-Spaziergaenger strömen zum Puschkin-Platz. Foto: Ulrich Heyden

Das war offenbar eine Anspielung auf den Journalisten Iwan Golunow, der Anfang Juni in Moskau grob verhaftet wurde, weil er angeblich Drogen bei sich hatte. Nach Protesten musste Golunow wieder freigelassen werden. Mehrere hohe Polizeibeamten wurden wegen des Falls Golunow entlassen. Den Vorwurf des Drogenbesitzes ließ man fallen.

Immer neue Protestaktionen

Bereits am 27. Juli hatte es in Moskau eine nichtgenehmigte Demonstration mit mehreren Tausend Menschen gegeben, die gegen die Nichtzulassung von 13 oppositionellen Kandidaten zu den Stadtparlamentswahlen am 8. September protestierten.

Bei der Demonstration am 27. Juli wurden über 1.373 Menschen festgenommen. 161 Personen wurden zu Strafen verurteilt. Das russische Ermittlungskomitee gab bekannt, 135 Personen, die am 27. Juli festgenommen wurden, hätten sich illegal dem Wehrdienst entzogen.

Gegen einige Personen wird wegen der "Beteiligung an Massenunruhen" ermittelt. Oppositionelle in Russland fürchten nun, dass gegen Teilnehmer der Demonstration am 27. Juli neue "Bolotnaja-Verfahren" drohen.

Im Mai 2012 waren nach einer Demonstration gegen die Amtseinführung von Wladimir Putin am Moskauer Bolotnaja-Platz 400 Menschen verhaftet worden. Gegenüber 30 Personen wurden Strafverfahren wegen der "Beteiligung an Massenunruhen" eingeleitet. Zahlreiche der Angeklagten im "Bolotnaja-Prozess" mussten für mehrere Jahre ins Gefängnis oder Arbeitslager.

Moskauer Bürgermeister spricht von lange geplanten Massenunruhen

Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin hatte das Vorgehen der Polizei am 27. Juli gerechtfertigt. Die Demonstranten hätten seit langem "Massenunruhen geplant" und "bewusst die Polizei provoziert". Einige Polizisten seien verletzt worden. Die Demonstranten hätten das Rathaus stürmen wollen.

Doch dass ein Sturm auf das Rathaus geplant war, wurde nicht bewiesen. Mehrere Hundert Demonstranten standen zwar vor dem Rathaus, einige hauten auch symbolisch mit einer Faust gegen die Eingangstür (Video Minute 35:40), doch zu Sachbeschädigungen kam es nicht.

Die Moskauer Demonstranten waren nicht zu vergleichen mit den ukrainischen Ultranationalisten, die am 1. Dezember 2013 gut vorbereitet und im Handstreich das Rathaus von Kiew besetzten und damit den Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch einleiteten.

Die staatlichen russischen Fernsehkanäle demonstrierten nach dem 27. Juli Videos über gefährliche Funde bei Demonstranten. Bei einem Demonstranten wurde ein Messer, ein Gas-Spray und eine Gasmaske gefunden. Der Demonstrant erklärte, dass Gas-Spray sei "gegen Hunde" und die Gasmaske brauche er "auf der Arbeit".

Eines der geschlossenen Geschäfte im Moskauer Stadtzentrum. Foto: Ulrich Heyden

Ein Video zeigt, wie ein Demonstrant einen Papierkorb auf einen Polizisten wirft. Eine anderer Demonstrant rüttelte am Helm eines Polizisten. Die Personen, die per Video bestimmter Taten überführt wurden, nahm man fest. Sie müssen sich nun vor Gerichten verantworten.

Die Teilnehmerzahl der Proteste in Moskau hat bei weitem noch kein kritisches Niveau erreicht, meint der Politologe und Kandidat zu den Stadtparlamentswahlen, Boris Kagarlitsky. Die Macht sei erst zu Zugeständnissen bereit, wenn mindestens 100.000 Menschen auf die Straße gehen.

Keine wirkliche Überzeugungsarbeit unter Jugendlichen

Der Autor dieser Zeilen hat den Eindruck, dass die Proteste in Moskau Ausdruck einer Unzufriedenheit unter gut ausgebildeten Jugendlichen sind. Hauptkritikpunkt dieser Jugendlichen sind die Korruption in der russischen Elite und das Gefühl, dass im russischen Staat etwas nicht stimmt.

Auffällig ist, dass die russischen Politiker keine wirkliche Auseinandersetzung über die konkreten, von den Liberalen vorgebrachten Kritikpunkte führen. Eine wirkliche Überzeugungsarbeit der führenden Politiker unter Jugendlichen findet nicht statt.

Die KPRF und die Linke Front beteiligten sich nicht an den Aktionen der Liberalen am Sonnabend. Die KPRF will am 17. August einen eigenen landesweiten Protesttag "für ehrliche Wahlen" durchführen. Auch einzelne Kandidaten der KPRF wurden nicht zu örtlichen Wahlen zugelassen.

veröffentlicht in: Telepolis

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