10. May 2018

Moskauer Militärparade: Putin kritisiert Verfälschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges

Eine Million Menschen marschierten durch Moskau mit den Porträts ihrer Angehörigen, die im Zweiten Weltkrieg kämpften. Auch der israelische Premier Benjamin Netanjahu nahm teil

Zehn Millionen Menschen beteiligten sich nach offiziellen Angaben in Russland, aus Anlass des 73. Jahrestages des Sieges über Hitler-Deutschland, an Märschen des "Unsterbliches Regiments". Bei den Märschen, die schon seit mehreren Jahren am 9. Mai stattfinden, tragen die Menschen große Porträts ihrer Angehörigen, die gegen die Hitler-Wehrmacht und ihre Verbündeten gekämpft oder im Hinterland in Fabriken und in der Landwirtschaft den Nachschub sichergestellt haben. In Moskau nahmen an dem Marsch über eine Million Menschen teil.

Was sie für ein Gefühl habe, an dem Marsch teilzunehmen, fragte ich Inga, eine Frau im mittleren Alters, die das erste Mal bei einem Marsch am 9. Mai in Moskau dabei ist. "Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Ich bin den Tränen nahe. Ich bin stolz auf meine Großeltern." Inga zeigt auf zwei Schwarz-Weiß-Fotos, die sie auf ein großes weißes Plakat aufgeklebt hat. "Ohne die würde ich nicht existieren." Ihre Großeltern hätten gegen Hitler-Deutschland gekämpft, erklärt sie. "Wenn sie nicht gesiegt hätten, würde ich nicht existieren."

Kinder überreichen Blumen an Kriegsveteranen

So wie Inga geht es in diesen Tagen Millionen Russen. Sie sind einfach stolz auf ihre Vorfahren. Und sie zeigen diesen Stolz gemeinsam auf Russlands Straßen und Plätzen. Über den Köpfen der Marschierenden wehte die russische und die Siegesfahne, eine Nachbildung der roten Flagge mit Hammer und Sichel, die im Mai 1945 auf dem Reichstag gehisst wurde.

In Moskau hatten viele Familien ihre Kinder mitgebracht. Nicht wenige Kinder trugen die traditionelle grüne Feld-Uniform der Rotarmisten oder eine grüne Piloten-Kappen. Die wenigen Kriegsveteranen, die es in Russland noch gibt, wurden am 9. Mai ganz gezielt von Eltern mit Kindern angesteuert. Einem Veteranen am 9. Mai Blumen zu schenken, ist eine fast heilige Tradition in Russland.

Im Moskauer Gorki Park saßen am Mittwoch - während auf einer Bühne ein Musikprogramm lief - einzelne ältere Menschen mit ordengeschmückten Jacketts. Immer wieder wurden ihnen von Kindern mit ehrfürchtigen Gesichtern rote Nelken überreicht. Die alten Menschen nahmen diese Blumen, die sich auf ihren Knien häuften, dankend an.

"Unsterbliches Regiment" in Odessa und Kiew

Am 9. wird in Russland, aber auch in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion traditionell der Sieg über den Hitler-Faschismus gefeiert, so auch in diesem Jahr. Märsche des Unsterblichen Regiments gab es auch vielen anderen russischen Städten sowie im Ausland. Märsche, bei denen die Leistung der Roten Armee gewürdigt wurde, gab es in Baku und im lettischen Riga.

In Odessafeierten Tausende - obwohl Mitglieder des Rechten Sektors die Teilnehmer der Veranstaltung provokativ filmten und störten. Viele riefen "Der Faschismus kommt nicht durch!", "Raus aus Odessa - Bandera-Teufel". Tausende nahmen auch am Marsch des Unsterblichen Regiments in Kiew teil.

Netanjahu und Putin gemeinsam beim "Unsterblichen Regiment"

Auf der mehrspurigen Straße ins Moskauer Stadtzentrum gingen die Menschen dichtgedrängt. Es ist der vierte Marsch des Unsterblichen Regiments zum Roten Platz. Wie in den Jahren zuvor nahm Wladimir Putin mit dem Porträt seines Vaters auf dem Roten Platz an dem Marsch teil. Dieses Jahr hatte Putin an seiner Seite den Präsidenten von Serbien, Aleksandr Vučić, und den Ministerpräsidenten von Israel, Benjamin Netanjahu, der wie Putin das Bild eines Sowjetsoldaten hielt .

Während im letzten Jahr die Demonstranten noch im lockeren Schritt zum Roten Platz zogen, ging es dieses Jahr wegen des großen Andrangs ab dem Weißrussischen Bahnhof nur noch stockend vorwärts. Doch der Stimmung der Menschen tat das keinen Abbruch. Es gab kein Murren und Meckern. Im Gegenteil, immer wieder brandeten langgezogene Hurra-Rufe durch die Menge oder es wurden Lieder gesungen, etwa das bekannte Liebeslied Katjuscha. Es handelt von einer jungen Frau, die sich nach ihrem Geliebten, einem Soldaten, sehnt, der irgendwo an der sowjetischen Staatsgrenze Dienst tut. Die gefürchtete "Stalin-Orgel" wurde nach dem Lied "Katjuscha" benannt.

Die Organisatoren des Moskauer Marsches hatten für alles gesorgt. Aus Lautsprechern schallten populäre Lieder der 1930er und 1940er Jahre. Es gab Soldatenküchen wo sich die Teilnehmer mit Buchweizengrütze, Tee und Wasser stärken konnten. Toiletten waren in ausreichender Zahl vorhanden.

"Die Welt ist sehr zerbrechlich"

Am Mittwochmorgen um zehn Uhr begann auf dem Roten Platz eine Militärparade. Eingeleitet wurde die 70 Minuten lange Parade mit einer Rede von Wladimir Putin. Der russische Präsident erklärte, nach dem Sieg über Hitler-Deutschland hätten "alle Länder, alle Völker verstanden, dass die Sowjetunion das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges bestimmte, dass diese große, opferreiche Heldentat unsere Soldaten und unser Volk vollbracht haben".

Weiter sagte der russische Präsident, dass heute versucht werde, "die Heldentat des Volkes, welches Europa und die Welt von der Sklaverei, von der Vernichtung und von den Schrecken des Holocaust rettete, zu ignorieren, den Verlauf des Krieges zu verdrehen und die echten Helden zu vergessen. Es sei die Aufgabe, das Andenken an unsere "heldenmütigen Kämpfer", aber auch an die mutigen Soldaten der "zweiten Front", gemeint sind die Soldaten von Großbritannien und den USA, zu erhalten.

Putins Worte gegen die Geschichtsverfälschung zielten insbesondere auf die neue ukrainische Regierung, welche Hitler und Stalin gleichsetzt und das Gedenken an den Sieg über den Hitler-Faschismus zu kriminalisieren versucht, gleichzeitig aber ukrainische Hitler-Kollaborateure - wie Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch - in den Rang staatlicher Helden hebt.

Putin: "Herkunft, Glauben und Nationalität spielten keine Rolle"

Das erste Mal sprach Putin während einer Ansprache auf dem Roten Platz auch über das Zurückweichen vor Hitler. "Einige Staaten" hätten "die Kapitulation und das heuchlerische Kompromisslertum oder die direkte Zusammenarbeit mit den Nazis vorgezogen". Kein Land der Welt habe "unter dem Feuer des Aggressors Millionen Menschen und Tausende von Fabriken evakuiert". Und während des Kampfes gegen Hitler-Deutschland sei nicht wichtig gewesen, "wo man geboren ist, welche Nationalität oder Glauben man hat und in welchem Gebiet oder welcher Republik des riesigen Landes (gemeint ist die Sowjetunion, U.H.) man vor dem Krieg lebte".
Zum Abschluss seiner Rede sagte der russische Präsident, "für alle Länder, für die ganze Menschheit sei es wichtig zu verstehen, dass die Welt sehr zerbrechlich ist". Man müsse danach streben, "einander zuzuhören, zu vertrauen und sich gegenseitig zu schätzen."

Über den Roten Platz marschierten in Anschluss an die Rede des russischen Präsidenten zu Marschmusik 13.000 Soldaten verschiedener Einheiten. Auch eine Einheit von Frauen in weißen Röcken war dabei. Dann rasselte der legendäre Panzer T 34 mit einer großen roten Fahne auf den Platz. Er wurde begleitet von modernen vierrädrigen Gelände-Motorrädern, welche die Standarten der zehn Front-Abschnitte über den Platz fuhren.

Danach wurden neue und ganz neue Waffen gezeigt, wie der Panzer Armata, der Infanterie-Transporter Kurganez, die Haubitze Koalizia CW, das Kampffahrzeug Terminator, der Kampfroboter Uran 6, sowie die Drohnen Katran und Korsar. Die gefährlichste Waffe, die über den Platz rollte, war zweifellos die Atomrakete Jars. Gezeigt wurde auch Militärgerät in weißer Tarnfarbe, welches von den neuen Arktis-Streitkräften eingesetzt wird.

Schließlich donnerten 75 Kampfflugzeuge, ein Tankflugzeug und Hubschrauber über den Roten Platz. Eine Mig 31 flog mit der angekoppelten und gefürchteten, neuen Lenk-Rakete Kinschal, die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit fliegt.

Netanjahu fast wie ein Ehrengast empfangen

Vom Fernsehkanal Rossija wurde besonders hervorgehoben, dass Wladimir Putin bei seinem Gang vom Roten Platz zur Gedenkveranstaltung am Grab des Unbekannten Soldaten vom serbischen Präsidenten Aleksandr Vučić und dem Ministerpräsidenten von Israel, Benjamin Netanjahu begleitet wurde. Sicher hätte sich Putin auch über einen deutschen Politiker als Begleiter zum Grabmal des Unbekannten Soldaten gefreut. Doch der deutsche Außenminister Heiko Maas will Moskau erst am 10. Mai mit seinem Antrittsbesuch beehren.

Netanjahu wurde bei den Feierlichkeiten am 9. Mai in Moskau vom russischen Fernsehen fast wie ein Ehrengast vorgestellt, obwohl Israel mit seinen Luftangriffen in Syrien in Moskau für erhebliche Verstimmung gesorgt hatte. Während eines Arbeitstreffens mit Netanjahu erklärte Putin, er hoffe, dass man einen Weg für "die Lösung scharfer Konflikte" finden werde.

Netanjahu erklärte während des Arbeitstreffens, er sei von der Militärparade auf dem Roten Platz "tief beeindruckt". In Israel "vergessen wir keine Minute, welches große Opfer, das russische Volks, welchen Preis die sowjetische Armee für den Sieg über den Nazismus" gebracht hat. Unter den Soldaten der sowjetischen Armee seien auch "etwa eine halbe Million Juden" gewesen.

Die Lehre der Geschichte sei, dass man, "sobald eine mörderische Ideologie auftauche, rechtzeitig Widerstand leisten muss." Der Iran rufe "öffentlich zur Vernichtung des Staates Israel auf". Der israelische Ministerpräsident erklärte, er wolle gerne mit Putin "beraten und nachdenken, wie man in der Region richtig handeln kann", wie man die Bedrohungen in der Region "verantwortungsvoll und vernünftig" beseitigen könne. Netanjahu bedankte sich bei Putin auch ausdrücklich dafür, dass er den Holocaust in seiner Rede auf dem Roten Platz erwähnt habe.

veröffentlich von: Telepolis

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