„Billige Kredite“ und „gesunder Protektionismus“
Der Leiter des Moskauer Wirtschaftsforums und einer ihrer Gründer ist Konstantin Babkin. Der 52-Jährige ist ausgebildeter Chemiker und Miteigentümer der russischen Mähdrescher-Fabrik Rostselmash. Babkin erklärte auf der Eröffnungsveranstaltung, „alte Schablonen können unsere Wirtschaft nicht retten“. Die russische Steuerpolitik orientiere sich noch an „alten Schablonen“. Jetzt brauche man „niedrige Steuern“, „billige Kredite“ und einen „gesunden Protektionismus“. Babkin erklärte, auf dem Moskauer Wirtschaftsforum könne „frei diskutiert“ werden, da es nicht „Teil der Machtvertikale ist“.
Auf der Eröffnungsveranstaltung sprach auch die bekannte russische Politikerin und Wirtschaftsexpertin Oksana Dmitrijewa. Sie ist die einzige Abgeordnete der „Partei des Wachstums“ in der Duma, dem russischen Unterhaus. Im Programm der „Partei des Wachstums“ heißt es, „Wir sind die Partei der produzierenden Klasse in Russland, die Stimme der Konkurrierenden und Unabhängigen vom staatlichen Business. Wir gehören nicht zu den zwanzig großen Rohstoffunternehmen, sondern zu den Hunderttausenden kleinen Unternehmen, die das Fundament der Mittelklasse bilden. Wir sind ihre Vertreter im politischen Raum des Landes“.
Dmitrijewa begann ihre politische Karriere bei der sozialliberalen Partei „Jabloko“. Später wechselte sie zur sozialdemokratischen Partei „Gerechtes Russland“. Die Wirtschaftsexpertin, gebürtig aus St. Petersburg, zeigte in Schaubildern, wie in Russland in verschiedenen historischen Etappen Wirtschaftswachstum befördert wurde.
In der Zeit des Finanz- und Eisenbahnministers Sergej Witte von 1891 bis 1901 durch den Eisenbahnbau, in der Zeit der sowjetischen Industrialisierung 1928 bis 1940 durch die Elektrifizierung und den Bau von Fabriken und in der Zeit der „neuen Industrialisierung“ von 2014 bis 2022 durch den Rüstungssektor.
Ingenieur ist kein populärer Beruf – Ökonomen und Juristen gibt es zuhauf
Als wesentlichen Mangel der heutigen Zeit bezeichnete Dmitrijewa den Mangel an Ingenieuren. Juristen und Wirtschaftsfachleute gäbe es im Überfluss, aber nicht Ingenieure. Während der Sowjetzeit habe es einen begrenzten Zugang zu Finanzen gegeben. Die einzige nicht begrenzte Ressource war damals eine unbegrenzte Zahl von Facharbeitern. 1940 habe es viermal mehr Ingenieure als Wirtschaftsfachleute und Juristen gegeben.
Das Paradox heute sei, dass Russland unbegrenzte Finanzierungsmöglichkeiten habe, es aber mehr Ökonomen und Juristen als Ingenieure gibt. Unter diesen Ausgangsbedingungen sei es unmöglich, Russlands Industrie aufzubauen, so Dmitrijewa.
Das Geld, um die Ausbildung von Ingenieuren zu finanzieren, sei vorhanden, erklärte die Politikerin. Die Zahlungsbilanz Russlands sei positiv. Auf 200 Milliarden Dollar könne das russische Finanzministerium zurückgreifen. Der russische Finanzminister Anton Siluanow sei jedoch an einer positiven Zahlungsbilanz interessiert, um den Rubel zu stärken.
Der Chef-Ökonom der staatlichen Vneshekonombank, Andrej Klepatsch, erklärte, heute seien nur 20 Prozent der russischen Werkzeugmaschinen „made in Russia“. Und selbst diese Maschinen enthielten viele ausländische Komponenten.
In den letzten zwanzig Jahren habe die Zahl der Beschäftigten in der Industrie abgenommen. Für die Ausbildung von Fachkräften brauche man ungefähr zwei Jahre. Um eine fortgeschrittene Industrie zu entwickeln, brauche man eine Industrie, die eng mit der Wissenschaft verzahnt ist. Heute gebe Russland nur ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für angewandte Wissenschaften aus, in den USA seien es 2,5 Prozent, in China 2,4 Prozent.
Die existierende Finanzstruktur in Russland sei eine Sackgasse. 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts seien Rücklagen. Nur 22 Prozent würden für Investitionen ausgegeben. Um die Investitionen zu verdoppeln, müsse man zehn Prozent des Geldes, welches ins Ausland fließt, sowie Gewinne aus dem Verkauf von Öl und Gas in die Werkzeugmaschinen-Industrie, die Landwirtschaft und das Gesundheitswesen lenken.
„Es gibt keine Professoren für den Werkzeugmaschinenbau mehr“
Besonders scharf ging Robert Nigmatulin, Wissenschaftler auf dem Gebiet der Mechanik und Ozeanologie, mit der russischen Regierung ins Gericht. In einem Rundumschlag zählte er auf, was seiner Meinung nach in den Bereich Wirtschaft, Soziales und Wissenschaft in den letzten Jahren falsch gelaufen ist.
Russlands Wirtschaftsleitung sei niedrig. Das Bruttoinlandprodukt Russlands sei geringer als das Bruttoinlandprodukt der Türkei oder von Portugal. Wenn man den Preis von Benzin und Brot ins Verhältnis setze, dann sei Benzin in Russland teurer als in den USA.
Die Vernachlässigung der Ingenieur-Ausbildung habe dazu geführt, dass man die erfahrensten Lehrkräfte nicht habe ersetzen können. „Es gibt keine Professoren mehr für den Werkzeugmaschinenbau. Alle sind gestorben.“ Russland stehe mit der Zahl der Wissenschaftler im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung weltweit auf Platz 29. (Siehe zu diesem Thema auch meine früheren Beiträge, Dem intellektuellen Zentrum Russlands droht der Garaus | Telepolis, Russlands Wissenschaft – Retten oder abwickeln? | Telepolis)
Der Rückgang der Bevölkerung in Russland – so Nigmatulin – sei dramatisch. Zwischen dem 1. Januar 2022 und 2023 verminderte sich die Einwohnerzahl in Russland um 555.000 Menschen.[1]Die von Russland in der Ukraine eroberten Gebiete sind in dieser Rechnung nicht berücksichtigt.
In der Arbeitsgruppe „Gesundheitspolitik“, referierte die Moderatorin Gusel Ulumbekowa, Rektorin der Höheren Schule für die Organisation und Lenkung des Gesundheitswesens, die Zahl der Geburten in Russland habe sich wegen der Zahlung eines „Mutter-Kapitals“ zwar um 2,5 Millionen erhöht, aber die Kürzungen im sozialen Bereich um vier Prozent, hätten dramatische Folgen gehabt. Seit 2012 sei die Zahl der Ärzte um 46.000 gekürzt worden. Außerdem seien 160.000 Krankenhausbetten wegrationalisiert worden. Aus diesem Grund sei es während der Pandemie bei vielen Patienten, die noch an anderen Krankheiten litten, zu Todesfällen gekommen.
„Chinas Erfahrungen nicht kopieren aber aus ihnen lernen”
In der Arbeitsgruppe „China. Erfahrungen der Modernisierung für Russland“, erklärte der Moderator, Juri Tawrowski, China-Experte und Mitglied des Isborsk-Experten-Clubs, „wir können das chinesische Modell nicht kopieren, weil wir keine Anhänger von Konfuzius sind“. Aber Russland können lernen aus Chinas Erfahrungen beim Kampf gegen die Korruption und beim erfolgreichen Kampf gegen die Armut. Heute gäbe es in China keine Armut mehr.
Wladimir Bоglajew, Direktor einer Gießerei in Tscherepowez im Norden Russlands, erklärte, er hoffe, dass aus der russisch-chinesischen Zusammenarbeit mehr wird, als nur die Tatsache, dass man das Gas jetzt nicht mehr nach Europa sondern nach China transportiert, „so wie es unsere Reichen gerne hätten“. Russland sei noch auf dem Kurs der 1990er Jahre. In Russland versuche man aus einer Nation von kreativen Menschen eine Nation von „qualifizierten Verbrauchern“ zu machen. In Russland gäbe es nur Halb-Jahres-Pläne in China aber Pläne bis 2045.
In dem Forum zu China traten zahlreiche russische Experten auf, die sich schon seit Jahrzehnten mit der Volksrepublik beschäftigen und mit viel Sachverstand und Anerkennung über China sprachen.
China hatte sich beim Aufbau des Sozialismus sehr stark an der Sowjetunion orientiert und viele technologische Erfindungen übernommen. Viele Chinesen studierten in der Sowjetunion. Ein mir bekannter Russe konnte Mitte der 1950er Jahre sein Ingenieursstudium nicht antreten, weil für Chinesen Plätze freigehalten worden waren. Doch in den 1960er Jahren kam es zum ideologischen Bruch zwischen China und der Sowjetunion. Peking beschwerte sich über Bevormundung. 1969 kam es zwischen beiden Staaten sogar zu einem Grenzzwischenfall am Amur-Fluss.
Mitte der siebziger Jahre, als Deng Xiaoping Reformen einleitete und die Parole ausgab, „egal ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse“, berichteten sowjetische Zeitungen von „Rechtsabweichlern“ in China, erinnerte sich einer der altgedienten China-Experte, Sergej Zyplakow, auf dem Moskauer Forum. Man habe die Experimente mit neuen Wirtschaftsformen in der Sowjetunion damals „nicht ernst genommen“. China habe viele Menschen. Schon deshalb könne man China nicht blind kopieren. Aber man könne lernen aus der strategischen Planung und der regionalen Entwicklung in der Volksrepublik.
Ein anderer China-Experte nannte als Faktum von dem man lernen könne, die strenge Auswahl der Beamten. Unehrliche und prinzipienlose Personen würden nicht eingestellt. Verwandtschaftsverhältnisse und Beziehungen spielten keine Rolle. Außerdem ständen die Beamten durch spezielle Kontrollorgane ständig unter Beobachtung.
Die Moskauer Medien berichteten fair über die Veranstaltung, so etwa die Tageszeitung Moskowski Komsomolez und das Business-Portal RBK.
Die großen deutschen Medien haben meines Wissens noch nie über das Moskauer Wirtschaftsforum berichtet, was aber nicht verwundert, da dort nicht dem neoliberalen Kalb gehuldigt wird.
veröffentlich in: Nachdenkseiten