Moskauer Wirtschaftsforum. Bild: U. Heyden
Harte Kritik an der Regierung war auch auf den Plenarveranstaltungen zu hören. Doch Niemand wurde verhaftet. Die Polizei war nicht zu sehen. Der Grund? Die Kritik kam diesmal nicht von liberalen Kritikern, die planen, Putin zu stürzen, sondern von linken Wirtschaftswissenschaftlern und Unternehmern, welche von der russischen Regierung mehr Patriotismus in der Wirtschaftspolitik fordern.
Gesponsert wurde das Forum von Konstantin Babkin. Seiner Firma "Nowoje Sodruschestwo" gehört das traditionsreiche, in Rostow am Don angesiedelte Mähdrescher-Werk Rostselmasch. Als Unternehmer und Politiker ist Babkin an der Stärkung des russischen Binnenmarktes interessiert. Er unterscheidet sich damit von vielen anderen Unternehmern und Oligarchen, welche in den letzten fünfzehn Jahren durch den Rohstoffexport reich geworden sind. Viele von ihnen hoffen sehnlichst auf eine Wiederannäherung zwischen Moskau und Brüssel und eine Aufhebung der Sanktionen. Babkin dagegen setzt vor allem auf den Schutz und die Stärkung des russischen Binnenmarktes.
Die Erlöse aus dem Rohstoff-Verkäufen der letzten 15 Jahre seien nicht in den Aufbau einer eigenen nicht-rohstofforientierten Industrie verwendet worden, kritisierten die Diskussions-Teilnehmer auf dem MEF. Eine Wirtschaftskatastrophe könne nur abgewendet werden, wenn die Zentralbank sofort den Leitzins - von zurzeit 11 Prozent - senke und die heimischen Produzenten mit Krediten unterstütze.
Moskauer Wirtschaftsforum. Bild: U. Heyden
Die stellvertretende Vorsitzende des Duma-Komitees für Haushalt und Steuern, Oksana Dmitrijewa, forderte von Regierung und Zentralbank eine 180-Grad-Wendung. "Wir brauchen einen billigen Rubel und einen Leitzins von fünf bis sechs Prozent." Der Staat selbst müsse wieder als Investor auftreten, anstatt den "virtuellen Sektor" - gemeint waren die Banken - aufzublähen.
Der linke Wirtschaftsexperte Sergej Glasew, der zu den Wirtschaftsberaten von Wladimir Putin gehört, meinte, die jetzige Krise sei ähnlich der Krise 1998, als es eine hohe Inflation und einen starken Rubel-Verfall gab. Damals sei die Krise von Ministerpräsident Jewgeni Primakow sowie Industrieminister und KPRF-Mitglied Juri Masljukow gelöst worden. Die Leitzinsen seien damals nicht erhöht, die Vergabe von Krediten nicht begrenzt und die Versuche von Wirtschaftsmonopolen, die Preise zu erhöhen, verhindert worden. Diese Politik könne auch heute zum Erfolg führen.
Dass es falsch ist, wenn die EU Russland seine Modelle aufzwinge, konnte man von einem prominenten Gast hören, der aus Frankreich angereist war. Der frühere IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn erklärte, die Europäer hätten versucht, in anderen Ländern marktorientierte Mechanismen zu installieren. Aber diese Standart-Methoden hätten sich in einigen Ländern als ineffektiv erwiesen. Russland müsse "eine eigene Business-Strategie finden."
In der Arbeitsgruppe "Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Entwicklung" gab es auch Vortragende aus dem wissenschaftlichen linken Spektrum. Einer von ihnen war der bekannte Moskauer Anarcho-Kommunist und Historiker Vadim Damier. Der Historiker argumentierte, Solidarität funktioniere nicht, wenn sie erzwungen ist und wenn es eine Herrschaftshierarchie gibt. Und statt "Gerechtigkeit" wäre es besser "Gleichheit" anzustreben, genauer gesagt, "gleiche Möglichkeiten bei der Nutzung von Gütern" und "gleiche Möglichkeiten der Teilnahme an der Entscheidung allgemeiner Fragen".
Vadim Damier. Bild: me-forum
Eine heiße Diskussion entspannte sich in der Arbeitsgruppe an der Frage, ob China als Vorbild für Russland dienen könne. Angeblich sei die aktuelle chinesische Politik der NEP-Politik unter Lenin ähnlich, argumentierten einige Diskussionsteilnehmer. In China mit seiner großen Zahl von Streiks herrsche - so Damier - "reiner Kapitalismus".
Auf seiner Facebook-Seite resümierte Damier, er sei traurig, dass die Mehrheit der linken Intellektuellen in diesem Land "auf die eine oder andere Weise Leninisten bleiben". Sie meinten zu wissen, "wie man die Macht ergreifen kann". Sie wüssten aber nicht "wofür". Genauer gesagt, sie wüssten nicht, "wie man eine freie Gesellschaft schaffen kann".
Der linke Wirtschaftswissenschaftler Vasily Koltashov, Leiter des Zentrums für ökonomische Forschungen am Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen, hält das Moskauer Wirtschaftsforum für einen wichtigen Ansatz. Jedoch seien die vom Forum aufgestellten Forderungen für die Masse der Bevölkerung unverständlich und einige Forderungen auch falsch. Jetzt Rubel zu drucken - wie es der linke Ökonom Sergej Glasew fordere -, könne nur die Inflation anheizen. Anstatt Banken und Unternehmen mit staatlichen Geldern zu sanieren, müssten die finanziellen Reserven Russlands für konkrete Projekte wie den Wohnungsbau, sowie den Bau von Eisenbahnstrecken und Straßen eingesetzt werden. Das werde zu einem Nachfrage- und Wachstums-Schub führen. Die Kritik an den derzeitig starken Einkommensverlusten richte sich bei der einfachen Bevölkerung - so betonte Koltaschow - nicht gegen Putin, sondern gegen die russische Regierung, in der liberale Wirtschaftsexperten den Ton angeben.
Die Initiative zu dem alljährlichen Moskauer Wirtschaftsforum, welche jetzt schon das vierte Mal stattfand, kam aus der ökonomischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität. Sie gilt schon lange als linker Gegenpol zur Moskauer "Higher School of Economics" , die ebenfalls jährlich eine Groß-Veranstaltung unter dem Namen Gajdar-Forum veranstaltet. Das Forum hat seinen Namen vom ehemaligen russischen Ministerpräsidenten (und Schocktherapeuten) Jegor Gajdar, der bis heute viele Anhänger in der russischen Elite hat.
Zu den bekanntesten Vertretern der neoliberalen Richtung in Russland gehören heute der ehemalige Finanzminister Aleksej Kudrin, der sich politisch immer noch einmischt, und der Chef der Moskauer Sperbank, German Gref.
veröffentlicht in: Telepolis / Englische Fassung auf Counterpunch (California)