In den letzten vier Jahren wurde über zehn bekannte Feldkommandeure in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk getötet. Es waren ausnahmslos sehr populäre und kampferfahrene Personen. Einige von ihnen - wie Michail Tolstych (Kampfname Givi) und Arseni Pawlow (genannt auch Motorola) - hatten keine spezielle militärische Ausbildung. Sie hatten sich erst in der spontanen Revolte im Osten der Ukraine, an der sich Bergarbeiter und Menschen aus allen Schichten beteiligten, zu militärischen Führern entwickelt. All diese Ermordeten trugen dazu bei, dass die von Kiew befohlene "antiterroristische Operation" stecken blieb und sich zwei "Volksrepubliken" bilden konnten, die zwar jetzt finanziell von russischer Unterstützung abhängig sind, die sich im Zuge der Wiederinbetriebnahme der Fabriken in den Volksrepubliken jetzt aber wieder zu wirtschaftlichen Faktoren entwickeln.
Als ich Sachartschenko während eines Interviews im Juni fragte, was er angesichts der auf ihn verübten Anschläge und die erfolgreichen Anschläge auf "Givi" und "Motorola" für seine eigene Sicherheit tue, antwortet er flapsig: "Den Rekord von Fidel Castro habe ich noch nicht gebrochen." Seinem Schicksal könne man nicht ausweichen. "Sterben will natürlich niemand. Nur Deppen sagen, ich habe keine Angst vor dem Tod. Alle haben Angst. Sterben will keiner. Aber dem Schicksal kann man nicht entfliehen. Wie dein Geburtsmal, so auch dein Schicksal. Es gibt so ein Sprichwort. Komme was wolle, ändern kannst Du es nicht. Wer im Feuer umkommen soll, wird schon nicht ertrinken."
Die Mörder ausgebildet von KGB und CIA?
Als ich von dem Mordanschlag auf den DNR-Präsidenten hörte, war ich geschockt. Ich konnte mir zunächst nicht vorstellen, dass Sachartschenko tot ist. war er nicht der gefährdetste Mann in ganz Donezk? Hatte er nicht einen entsprechenden Schutz? Das fragen sich auch viele Freunde der "Volksrepublik", die sich im Internet austauschen. Manche fragen auch, warum die Leibwächter der politischen Führung in Donezk nicht von versierten Experten des russischen "Föderalen Schutzdienstes" geschult werden, der auch für den Schutz von Wladimir Putin verantwortlich ist.
Dass der ukrainische Geheimdienst bei dem Anschlag gegen Sachartschenko ganze Arbeit geleistet hat, ist für die Freunde der "Volksrepubliken" im russischsprachigen Internet, ausgemachte Sache. Viele Kader des SBU kämen aus dem früheren KGB und hätten dort eine gute Ausbildung erhalten, kommentieren einige User.
Der Sprecher der DNR-Armee, Eduard Basurin, erklärte unmittelbar nach dem Anschlag gegen den DNR-Präsidenten, das Attentat sei vom ukrainischen Geheimdienst und dem CIA geplant worden. Einen Tag nach dem Anschlag meldet die Innenbehörde von Donezk man habe mehrere Verdächtige gefasst, die mit dem Mordanschlag zu tun haben.
Gleich nach dem Anschlag wurde die Volksrepublik abgeriegelt. Auch Journalisten waren von den verstärkten Sicherheitsbestimmungen betroffen. Wie ein Reporter des russischen Fernsehsenders Rossija 24 berichtete, habe er am Morgen nach dem Anschlag am Grenzkontrollpunkt Uspenka Probleme gehabt, überhaupt in die "Volksrepublik" einzureisen. Die Ausreise aus der "Volksrepublik" sei verboten gewesen, berichtete der Korrespondent. So wollten die Sicherheitsbehörden offenbar verhindern, dass die Täter und ihre Helfer die DNR unerkannt verlassen können.
Kiew versucht nicht, sich reinzuwaschen
Julia Timoschenko, die zurzeit populärste ukrainische Politikerin, erklärte nach dem Mordanschlag, wer andere Menschen umbringe, müsse sich nicht wundern, wenn er selbst sterbe. Der rechtsradikale Rada-Abgeordnete Igor Moijsitschuk sagte im Kiewer Fernsehkanal 112, die Ukraine solle öffentlich eingestehen, dass sie hinter dem Anschlag auf Sachartschenko steht. Man habe "das Recht, Terroristen zu töten". Auch die früheren Anschläge auf Sachartschenko seien vom ukrainischen Geheimdienst organisiert worden.
Der Chef des ukrainischen Geheimdienstes (SBU), Wasili Grizak, versicherte hingegen, der SBU habe "keine Angaben" darüber, wer den Anschlag auf Sachartschenko durchführte. Grizak präsentierte zwei Mordversionen: Es gäbe in Donezk unzufriedene Personen, die enteignet wurden. Außerdem gäbe es den Versuch, "Zeugen zu beseitigen", die daran beteiligt waren, der russischen Armee 2014 "den Zugang zu Donezk zu ermöglichen".
Wurde der DNR-Präsident ausreichend geschützt?
Ein kurzer Rückblick: Mein Interview mit Aleksandr Sachartschenko führte ich am 5. Juni 2018. Es war ein schöner Sommertag. Ich wartete zusammen mit einem Kollegen vor dem Amtssitz des DNR-Präsidenten, einem mehrstöckigen Bürogebäude. Während wir darauf warteten, dass man uns zum vereinbarten Interview einlässt, spielte sich vor meinen Augen eine eindrucksvolle Szene ab. In der komplett abgesperrten Straße vor dem Bürogebäude rasten vier schwarze Jeeps japanischer Herstellung in einem Höllentempo heran. Die Wagen stoppten und wurden in Sekundenschnelle rückwärts eingeparkt.
Junge Männer in grünen Kampfanzügen ohne Rangabzeichen mit einem Funk-Hörgerät im Ohr, sprangen aus den Jeeps, die Kalaschnikows im Anschlag. Dann stieg ein hochgewachsener, kräftiger Mann mittleren Alters aus. Er trug ebenfalls keine Rangabzeichen. Unter dem Kampfanzug trug er das blau-weiß-gestreiften Telnjaschka, ein T-Shirt, welches zu Sowjetzeiten die Marineinfanteristen trugen.
Ich erkannte den Mann. Es war Aleksandr Timofejew. Der 47-Jährige ist seit 2014 Minister für Steuern und Einnahmen der Volksrepublik Donezk (DNR). Als er unsere erstaunten Gesichter sah, lächelte er uns zu. In großen Schritten eilte er, begleitet von seinen Leibwächtern, in das Gebäude, vor dem wir warteten.
Die professionelle Bewachung des Ministers beeindruckte mich. Und ich erinnere mich jetzt daran und frage mich, wurde wirklich alles getan, um Sachartschenko zu schützen? Oder war der ermordete Präsident, was die Leibwache betraf, nachlässig. Nahm er sie nicht so in Anspruch, wie es hätte sein müsse? Eine Andeutung in diese Richtung machte sein Berater, Aleksandr Kasakow.
"Auferstanden aus der Asche …"
Am Sonntag bei der Trauer-Zeremonie im Opern-Theater von Donezk gab es eine Überraschung. Der Minister für Steuern, Aleksandr Timofejew, nahm - trotz seiner Verletzungen - zwei Tage nach dem Anschlag mit verbranntem Gesicht sowie Verbänden am Kopf und Hals an der Trauerfeier teil.
Für die Menschen in Donezk war die Teilnahme des verletzten Ministers an der Trauerfeier wichtig. Die Menschen in der "Volksrepublik" brauchen das Gefühl, dass es weiter geht, dass die unter Sachartschenko aufgebaute soziale Infrastruktur weiter existiert und die "Republik" sich wie bisher gegen die Angriffe der ukrainischen Armee schützen kann.
Die Amtsgeschäfte des Präsidenten führt jetzt der 37jährige Dmitri Trapesnikow. Doch es scheint, Trapesnikow, der 2012 in Donezk ein Handelshaus leitete, wird das Amt nicht lange ausüben. Timofejew sei der fähigere Leiter und er sei jetzt als Nachfolger von Sachartschenko im Gespräch, schrieb der Donezker Journalist Andrej Babitsky.
Babitsky hatte mir schon im Juni während eines längeren Gesprächs erklärt, die Volksrepublik brauche jetzt neue Kräfte in der Führung, Personen, welche Erfahrung nicht als Militärs, sondern als Wirtschafts-Experten haben. Neue Kader seien nötig, um die Wirtschaft der Republik wieder in Schwung zu bringen und der Jugend, die plant, nach Russland oder die Ukraine auszuwandern, eine Perspektive zu geben.
Der Minister für Steuern, Timofejew, hat viel Erfahrung. Er begann 1989 im usbekischen Taschkent eine Ausbildung in der örtlichen Militärakademie, von daher sein Spitzname "Taschkent". Mitte der 1990er Jahre arbeitete Timofejew vier Jahr lang als Leiter des Sicherheitsdienstes in einer Diamanten-Fabrik in der fernöstlichen Stadt Jakutsk. 1997 gründete er die erste Firma für Kabelfernsehen in Donezk.
Aleksandr Sachartschenko war kein Diplomat
In dem Interview was ich im Juni mit ihm führte, verzichtete er auf neutrale Floskeln und griff Kiew direkt für die Verletzung des Minsker Abkommens an. Er erklärte, die ukrainische Armee habe, entgegen dem Abkommen von Minsk, schwere Waffen entlang der Trennlinie zur DNR stationiert. Außerdem erklärte Sachartschenko, die DNR beanspruche das gesamte ehemalige ukrainische Verwaltungsgebiet Donezk für sich. "Wir leben das fünfte Jahr im Krieg in der Hoffnung und dem Glauben, dass wir früher oder später unser gesamtes Land, den gesamten Donbass befreien. Wir leben nicht in Angst, dass wir erobert werden. Sie sollten vor uns Angst haben."
Den Anspruch auf den "gesamten Donbass" begründete Sachartschenko damit, dass die durch das Minsker Abkommen fixierte Trennlinie Familien auseinander gerissen werden. Außerdem würden durch die Trennlinie gewachsene Produktionsketten zwischen Bergwerken und Stahlwerken zerschnitten.
Diese Position von Sachartschenko deckte sich nicht mit der Linie des russischen Außenministeriums, dass ohne Abstriche die Einhaltung des Minsker Abkommens fordert. Moskau ist im Gegensatz zu Kiew an der Durchsetzung des Minsker Abkommens interessiert, denn wenn Donezk und Lugansk – wie im Abkommen vorgesehen – einen Autonomie-Status bekommen und wieder offiziell Teil der Ukraine würden, könnten die beiden ostukrainischen Gebiete die von Kiew angestrebte Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhindern. Die Parole "Wir ziehen bis Kiew" hörte man in der Hochphase des Krieges in der Ost-Ukraine nur von den Feldkommandeuren und einfachen Soldaten der DNR, nicht aber von russischen Politikern.
Die Anschläge auf Aleksandr Sachartschenko und andere populäre Feldkommandeure zeigen, dass Kiew ein normales Leben in den "Volksrepubliken" unmöglich machen und die Bevölkerung demoralisieren will.
Für eine Einnahme von großen Städten in den Volksrepubliken ist die ukrainische Armee zu schwach, meint Andrej Babitsky. Außerdem wisse Kiew, dass Russland der DNR bei einem Angriff zu Hilfe kommen werde.
Die Diplomatie ist in einer Sackgasse
Moskau wird sich hüten, auf Provokationen, die Kiew einfädelt, mit militärischen Schritten zu reagieren. Doch viele Menschen in den "Volksrepubliken", aber auch viele Menschen in Russland, hoffen, dass der Kreml sich wenigstens zu einer offiziellen Anerkennung der "Volksrepubliken" durchringt. Doch dieser Schritt würde bedeuten, dass auch Moskau das Minsker Abkommen für gescheitert erklärt.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, erklärte unmittelbar nach dem Attentat auf Sachartschenko, der Mord sei "von Kiew geplant". Stärkere Reaktionen von Moskau gibt es auf den Mord bisher nicht.
Dmitri Peskow, der Sprecher von Wladimir Putin, sagte am Montag, die Serie von Terrorakten in den "Volksrepubliken" fördere nicht das Vertrauen, welches für die Umsetzung des Abkommens von Minsk nötig ist. Um zu einer Atmosphäre des Vertrauens zu kommen, "muss man noch weit gehen".
Nach dem russischen Außenminister Sergej Lawrow, zielt der Anschlag gegen Sachartschenko darauf, "die Umsetzung des Vertrages von Minsk zu torpedieren". Die Situation nach dem Anschlag auf Sachartschenko bedürfe "einer Analyse". Mit dieser Analyse beschäftige man sich jetzt. Treffen im Rahmen des "Normandie-Formats" könne es in der nächsten Zeit "nicht geben".
Am Montag äußerte Lawrow die Hoffnung, dass die USA auf Kiew einen "disziplinierenden Einfluss ausüben", weil die Ukraine sonst auf niemanden höre. Doch für diese Hoffnung gibt es zurzeit wenig Grund. Am Sonnabend berichtete der Guardian, dass der Ukraine-Beauftragte der US-Administration, Kurt Wolker, zu neuen Waffenlieferungen an die Ukraine bereit sei. Man müsse der Ukraine weitere Panzerabwehrwaffen liefern, da auf das Land "geschossen wird".
Der Kreml ist von seiner Forderung, dass man das im Februar 2015 ausgehandelte Minsker Abkommen umsetzen muss, auch nach dem Mord an Sachartschenko nicht abgerückt. Doch wie man auf diesem Wege erfolgreich sein will, dazu hat
Moskau bisher keine neuen Ideen vorgelegt.
Dass Kiew der jetzigen Regierung von Donezk und Lugansk eine Autonomie innerhalb der Ukraine zugesteht– wie im Abkommen von Minsk vorgesehen - ist für das Establishment in Kiew ausgeschlossen. Und es besteht zurzeit auch keine Hoffnung, dass sich daran nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Ukraine etwas ändert. Diese nüchterne Wahrheit auszusprechen, scheuen sich die großen deutschen Medien, denn dann müsste man eingestehen, dass die Diplomatie im Ukraine-Konflikt gescheitert und ein neuer großer Krieg möglich ist.
veröffentlich in: Telepolis