23. April 2008

Nachts wird die Metro zur national befreiten Zone

Die Gastarbeiter aus Eurasien sind in Moskau meist nur als Arbeitskräfte wohlgelitten

Vor dem Trolleybus winkt eine Gruppe junger Kirgisen einem Landsmann zu, er solle wieder aussteigen. Der hört nicht. Er sitzt im Bus und starrt auf sein Handy. Die Fahrerin schreit: „Bezahlen oder aussteigen!“ Der Junge mit den schwarzen Haaren steigt nicht aus. Er wirkt geistesabwesend. Die Fahrerin will nicht losfahren und schreit wieder, „los, bezahlen!“ Der Kirgise reagiert noch immer nicht. Er versteht schlecht Russisch, erzählt er später. Schließlich fährt der Bus los. Da schleudert ein stämmiger Mann in Tarnjacke dem Jungen von hinten eine Faust ins Gesicht. Blut tropft auf den Boden. Erschrecktes Schweigen der Passagiere. Der Oberkörper des Verletzten kippt nach vorn. Eine blonde junge Frau mit kaukasischen Gesichtszügen reicht ihm ein Papiertaschentuch und zischt, „diese Russen“. Auch ein junger Russe reicht ein Taschentuch. Der Schläger, ein Mann von etwa 45 Jahren, verlässt den Bus.

Bei der nächsten Station steige ich mit dem Kirgisen aus. Der junge Mann - er heißt Ermek - sieht schlimm aus. Gesicht und Hände sind blutverschmiert. Doch die Polizei oder einen Krankenwagen hat niemand benachrichtigt. Ermek ist 25 Jahre alt, kommt aus der kirgisischen Hauptstadt Bischkek und arbeitet seit einem halben Jahr in Moskau für 410 Euro im Monat bei einem Subunternehmer als Reinigungskraft in der U-Bahn. „Was ist eigentlich passiert?“, fragt Ermek in gebrochenem Russisch. Ein Schläger sei von hinten auf ihn losgegangen, erkläre ich ihm. „Aber ich wollte doch bezahlen“, sagt Ermek. Er öffnet die rechte Hand. Ich sehe zwei zerknitterte Zehn-Rubel-Scheine und eine Fünf-Rubel-Münze, exakt die Summe für einen Einzelfahrschein.

Kein Mitleid für Gastarbeiter

Der Kirgise muss ins Krankenhaus. Ein Auto hält an, doch als der Fahrer den blutverschmierten Kirgisen sieht, fährt er weiter. Dann hält ein Lada. Der Fahrer, ein junger Russe mit Mecki-Schnitt und ehrlichem Gesicht, fährt los und tut so, als sei nichts passiert. Plötzlich hält er an und steigt aus. Er holt einen Lappen aus dem Kofferraum und gibt ihn Ermek, der sich den Stoff vor die blutende Nase hält. Beim Botkin-Krankenhaus angekommen, fragt Ermek höflich: „Wollen Sie den Lappen wiederhaben?“ Der Russe schüttelt den Kopf.

Ermek meint, die Fahrt zum Krankenhaus sei sinnlos: „Die behandeln doch keine Schwarzen.“ „Schwarze“, so heißen die kaukasischen und asiatischen Gastarbeiter in Moskau. Viele Bürger sehen sie als Eindringlinge. Angeblich nehmen sie Arbeitsplätze weg, angeblich sind sie unordentlich und angeblich besonders kriminell. Aber die Arbeiten, die die „Schwarzen“ machen, Hochhäuser bauen und Straßen fegen, will kein Moskauer verrichten.Misstrauen im Augenwinkel
Am Empfang der Notaufnahme schickt die Sekretärin Ermek zur Hals-Nasen-Ohren-Abteilung. Es ist nicht viel los in dieser Nacht. Im Gang sitzen zwölf Krankenschwestern und schwatzen. Sie schauen müde und abgestumpft, unverhohlene Abweisung im Blick.

Eine junge, blonde Ärztin öffnet die Tür zum Behandlungszimmer. Ihr Blick lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. „Reinkommen“, sagt sie mit metallener Stimme. Ermek ist unsicher. Er schweigt. „Zurück zum Empfang“, schnarrt die Ärztin, „Protokoll aufnehmen lassen.“ Dem Kirgisen läuft das Blut aus der Nase, aber die Empfangsdame lässt sich seelenruhig die Einzelheiten des Überfalls schildern. Besonders interessiert sie sich für Details, wie die Bus-Nummer, die Uhrzeit und die Straße. „Wo arbeiten Sie?“ „Bei der Metro“, antwortet Ermek. Irgendetwas gefällt der Empfangsdame an der Antwort nicht. Sie fragt mehrere Male nach und schreibt schließlich widerwillig „Metro“ in ihr Formular. Vermutlich hält sie den Kirgisen für einen Abzocker, der nicht versichert ist. Und sie hat sogar recht. Ermeks Arbeitgeber hat den Kirgisen nicht versichert.

Die ungeliebten Eurasier

Zurück bei der Ärztin, reagiert diese kalt und unfreundlich wie zuvor. „Hinsetzen“, befiehlt sie. Dabei sind sie und der junge Mann mit den schwarzen Haaren fast gleich alt. Bis vor sechzehn Jahren waren beide in einem Staat vereint und hatten den gleichen Pass. Heute verbindet sie nur noch eines: sich bei niedrigem Lohn irgendwie durchzuschlagen.Die asiatischen Republiken seien zu Sowjetzeiten „durchgefüttert“ worden, hört man in Moskau immer wieder. Und jetzt machten sich die Undankbaren in Moskau breit. Doch keine Baufirma will auf die billigen Arbeitskräfte verzichten und kein Polizist auf das Schmiergeld für eine gefälschte Registrierung. Moskau ist zum Magneten für die Armen Eurasiens geworden. Der Vorsitzende der Moskauer Duma, Wladimir Platonow, nannte kürzlich bei „Echo Moskau“ unglaubliche Zahlen. Von den zehneinhalb Millionen Menschen, die in Moskau leben, seien drei Millionen illegale Einwanderer.

Ethnische Durchmischung

Wenn es dunkel wird in der Hauptstadt, verschwinden „die Schwarzen“ in ihren Wohnungen. Ein Armenier oder ein Tadschike, der spätabends noch Metro fährt, riskiert viel. Denn in der Nacht wird die Metro zur „national befreiten Zone“. Dabei gibt es eigentlich gar keine „reinen“ Russen. „Kratzt du an einem Russen, kommt der Tatare darunter zum Vorschein“, sagt ein Sprichwort, das sogar Wladimir Putin schon zitierte. Auf dem eurasischen Kontinent haben sich durch Völkerwanderung und Mongolensturm alle möglichen Ethnien vermischt.

Später erzählt Ermek, dass sich die Kirgisen besonders vor dem 20. April fürchten - dem Geburtstag Adolf Hitlers. Dann will abends niemand auf der Straße sein, die Gastarbeiter aus dem Kaukasus und aus Mittelasien bleiben zu Hause, Studenten mit nichtslawischem Aussehen werden angehalten, nicht vor die Tür zu gehen. Studentenwohnheime verhängen eine Ausgangssperre. Offiziell heißt das „Feuerschutzübung“. Auch für viele Moskauer Juden ist der 20. April ein Tag, an dem sie lieber nicht auf die Straße gehen.

Schweigen von Staat und Öffentlichkeit

Genauso gefährlich ist der 2. August, wenn die russischen Elite-Soldaten den „Tag der Fallschirmspringer“ feiern. Regelmäßig ziehen dann betrunkene Elite-Kämpfer mit ihren hellblauen Mützen über Freiluft-Märkte und überfallen die Stände von Händlern mit ausländischem Aussehen. Die Öffentlichkeit schweigt dazu. Nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums unterstützten 55 Prozent der Russen den Satz: „Russland den Russen“.

Fast täglich kommt es in Russland zu rassistischen Gewalttaten - mit steigender Tendenz, wie die Menschenrechtsorganisation „Sowa“ ermittelte. Starben 2004 in Moskau siebzehn Menschen infolge rassistischer Überfälle, gab es in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits fünfundzwanzig Tote. Die meisten Opfer zählte dabei die kirgisische Diaspora (zwölf Überfälle, zehn Tote), gefolgt von der aserbaidschanischen (zehn Überfälle, drei Tote).

Wie die Öffentlichkeit schaut auch der Staat weg. Aufsehen erregte kürzlich der Moskauer Staatsanwalt Juri Semin. Er bestritt, dass Ausländerhass das Motiv der Überfälle auf Asiaten und Kaukasier sei. „Wenn ein Kirgise getötet wurde, dann nicht unbedingt aus nationalen Gründen“, sagte der Staatsanwalt. Doch es gibt auch andere Meinungen. „Nach Einschätzung von Experten nähert sich Russland stetig einer gefährlichen Grenze. Hinter dieser Grenze warten Chaos, Ausschreitungen und Blut auf den Straßen“, schrieb ein Autor der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti und folgerte. „Es wäre falsch zu sagen, dass die Regierung bei einer solchen Zukunft nicht beunruhigt ist, doch gibt es bis jetzt keine realen Schritte zur Normalisierung der Situation.“

Stummes Erdulden

Die Ärztin im Botkin-Krankenhaus holt eine Zange, um die Nasenlöcher des blutenden Kirgisen zu weiten. Ermek beugt sich über ihren Schreibtisch, soweit die Tischkante es eben zulässt. Er stöhnt vor Schmerzen. „Keinen Widerstand“, befiehlt die Ärztin in rauhem Ton. Und dann: „Waschen! Die Leute haben ja Angst vor ihnen.“ Der Kirgise wirkt eingeschüchtert und willenlos. Er wäscht sich das Gesicht, versucht mit den Händen, das blutverschmierte Waschbecken zu säubern. „Lassen sie das Waschbecken in Ruhe“, schreit die Ärztin. Ermek erträgt es stumm.
Die Ärztin trägt weitere Informationen in die Krankenpapiere ein. Sie lässt sich noch einmal die Geschichte des Überfalls erzählen. Der Kirgise erwähnt, dass er sich schon einmal das Nasenbein gebrochen habe. Er muss seinen Pass vorweisen. „Wo ist die Registrierung? Wie alt ist die Registrierung?“, herrscht die Ärztin ihn an. Aber es gibt nichts zu beanstanden. Ermeks Papiere sind in Ordnung. Er hat einen Migrantenpass für Gastarbeiter aus den Gus-Republiken, eine Arbeitsbescheinigung des Subunternehmers und eine Registrierung für Moskau.

Den Preis zahlt das Opfer

Das Röntgenbild zeigt schließlich, dass Ermek das Nasenbein gebrochen wurde. Als dies nach dringendem Nachfragen endlich gerichtet ist, taumelt Ermek aus dem Behandlungszimmer. Vor dem Ausgang des Hospitals stehen fünf Krankenschwestern und rauchen. Woran man eine Gehirnerschütterung erkenne, frage ich als sein Begleiter. Die fünf schauen mürrisch: „Wenn er eine Gehirnerschütterung hätte, hätte man ihn nicht entlassen.“
Um Mitternacht liefere ich Ermek in seiner kirgisischen Wohngemeinschaft im Südosten Moskaus ab. Fünfzehn Kirgisen leben dort in einem alten Plattenbau in zwei kleinen Zimmern. Als sie ihren Freund sehen, steht Angst in ihren Gesichtern. Eine Woche später ruft Ermek an und erzählt, er habe sich ein paar Tage zu Hause auskuriert. Danach sei ihm gekündigt worden. Ob ich nicht Arbeit für ihn hätte?

"Frankfurter Allgemeine Zeitung"

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