6. November 2018

Neuorientierung in Moskau? (Telepolis)

Foto: Moskauer Museum für neuere russische Geschichte
Foto: Foto: Moskauer Museum für neuere russische Geschichte

Im Museum für Neuere russische Geschichte an der Twerskaja-Straße, nicht weit vom Kreml, gab es am 1. November eine Veranstaltung, die nicht in das gängige Russland-Bild passte. Veronika Krascheninnikowa, Leiterin der Abteilung für Auswärtige Politik der Regierungspartei "Einiges Russland", trug Thesen zu den Rechtspopulisten in der Europäischen Union vor, die es in sich hatten.

Mit diesen Kräften könne es keine Zusammenarbeit geben, denn sie verträten andere Werte und schadeten dem Image Russlands, erklärte die 47 Jahre alte Politikerin, die in Russland als Teilnehmerin von Fernseh-Talkshows und Leiterin eines Instituts für außenpolitische Forschungen und Initiativen [1] bekannt ist. Die Rechtspopulisten nutzten Russland nur, um auf die internationale Bühne zu kommen.

Für Russland seien diese Kräfte eine Gefahr, hatte die Politikerin bereits am 13. Juli 2018 in einer mehrseitigen Analyse im russischen Wirtschaftsmagazin "Ekspert" ausgeführt [2]. Wenn man die Behauptung der AfD, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, auf Russland übertrage, verstoße man gegen die Paragraphen 280 (Aufruf zur extremistischen Tätigkeit) und 282 (Anstachelung zum Hass) des russischen Strafgesetzbuches. Russland sei ein Vielvölkerstaat. Wladimir Putin habe mehrmals öffentlich erklärt, dass der Islam zu Russland gehört.

Auf der Veranstaltung im Museum für Neuere russische Geschichte, zu der vor allem studentisches Publikum erschienen war, sprach auch Konstantin Kosatschow, Leiter des Komitees für internationale Beziehungen des russischen Föderationsrates.

Kosatschow, der als Experte für Außenpolitik bis zur Ukraine-Krise häufig in deutschen Medien zu Wort kam, erinnerte an die 1990er Jahre, als Russland an den guten Willen des Westens geglaubt habe. Er zitierte den ehemaligen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der Anfang der 1990er Jahre davon sprach, man müsse die Aufteilung Europas beenden. Dafür brauche es Menschen "mit gutem Willen".

Kosatschow erinnerte an die "Charta für ein neues Europa" [3] von 1990. Dieses Schlussdokument der KSZE, in dem das Wort "Nato" kein einziges Mal auftaucht, sei von "Romantikern" geschrieben worden. Russland habe damals unterschätzt, wie die Nato und die EU Einfluss auf Europa ausübten, sagte Kosatschow selbstkritisch.

"Wer sind unsere Freunde in Europa?"

Von einer anderen Nichtwahrnehmung der Realität sprach die Hauptrednerin Veronika Krascheninnikowa. "Es gibt unter unseren Experten und auf unseren Fernsehbildschirmen harte Auseinandersetzungen, wer unsere Freunde in Europa sind", erklärte die Politikerin auf der Veranstaltung in dem Moskauer Museum. Nachdem Europa "den Kurs der Isolation von Russland begonnen hat", seien "marginale Kräfte in dieses Vakuum eingedrungen". Zu diesen "marginalen" und "äußerst rechten Kräften" zählt Krascheninnikowa die Nationale Front (jetzt "Rassemblement National") in Frankreich, die Alternative für Deutschland, die Lega Nord in Italien und die FPÖ in Österreich.

Die Politikerin erklärte, dass die rechtspopulistischen Parteien in der EU "nicht bei Null angefangen haben", wie viele Russen glauben. Als Beweis führte die Politikerin auf der Veranstaltung, die von etwa 100 Personen besucht wurde, ein 1992 von französischen Journalisten geführtes Video-Interview [4] mit dem belgischen Nazi-Anhänger Léon Degrelle vor.

In dem Video sieht man Degrelle, der 1944 Kommandeur des SS-Bataillons "Wallonien" an der Ostfront war, in seiner mit Nazi-Andenken geschmückten Wohnung. Stolz zeigt er ein von Hitler persönlich verliehenes Ritterkreuz mit Eichenlaub. Und stolz erzählt er, Hitler habe ihn als hervorragenden Soldaten gelobt und gesagt: "Wenn ich einen Sohn hätte, dann wünschte ich, er wäre wie sie." Degrelle hatte bis zu seinem Tod 1994 feste Kontakte zu spanischen und französischen Rechtsextremen. Er nahm an einer "Sonnenwendfeier" der Front National teil.

Ja, Marine le Pen habe versucht, den Front National von den Anhängern des Faschismus zu säubern, sagt Krascheninnikowa in ihrem Vortrag. Doch viele, die wie Parteigründer Jean-Marie Le Pen in der Universität rechtsradikalen Organisationen angehörten, seien immer noch aktiv im Front National. Etwa 15 Prozent der Mitglieder rechtspopulistischer Parteien in Europa seien Rechtsradikale und Neonazis, schätzt die Politikerin.

Ihren Vortrag über die europäischen Rechtspopulisten beendet die Politikerin mit den Worten, die Fakten sprächen eine "deutliche Sprache": "In Europa sind sie vielen Menschen, die sich für Politik interessieren, bekannt." Doch in Russland seien diese Fakten "aus verschiedenen Gründen weniger bekannt".

Warum diese Fakten in Russland "weniger bekannt" sind, wurde auf der Veranstaltung nicht weiter diskutiert. Auch Pjotr Fjodorow, Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen des russischen staatlichen Fernsehkanals WGTRK und früher Vertreter Russlands beim Fernsehkanal Euronews, nahm trotz Aufforderung von Krascheninnikowa zu dem heißen Eisen keine Stellung.

Der Autor dieser Zeilen hatte in den letzten vier Jahren den Eindruck gewonnen, dass das russische Fernsehen die AfD, Front National, FPÖ und Lega Nord nicht als rechtspopulistische und rechtsradikale, sondern als konservative, familienorientierte Parteien darstellte, die "euroskeptische", anti-migrantische und anti-amerikanische Positionen vertreten, Werte, die im heutigen Russland Konjunktur haben.

Bei seiner Teilnahme an russischen Fernseh-Talkshows machte der Autor dieser Zeilen die Erfahrung, dass immer dann, wenn er auf positive Erfahrung bei der Integration von Türken in Westdeutschland in den 1980er Jahren und auf die anti-russischen Traditionen von AfD-Politikern zu sprechen kam, die Moderatoren mit Unverständnis und Schweigen reagierten.

Initiatorin des Gesetzes über "Ausländische Agenten"

Wer ist Veronika Krascheninnikowa? Die Politikerin wurde 1971 im nordrussischen Tscherepowez geboren. Nach einem Studium in Leningrad studierte sie an der Sorbonne in Paris politische Wissenschaften. Von 2001 bis 2006 war sie Präsidentin des "Rates für wirtschaftliche Zusammenarbeit" zwischen den USA und der "Gemeinschaft unabhängiger Staaten", einer Nachfolgeorganisation der Sowjetunion mit Sitz in New York.

2012 initiierte Krascheninnikowa das Gesetz über "ausländische Agenten". Russland brauche so ein Gesetz "wie in den USA", erklärte [5] die Politikerin. Nach diesem Gesetz, welches in Russland 2014 in Kraft trat, müssen von ausländischen Regierungen finanzierte Nichtregierungsorganisationen in Russland auf ihre Broschüren den Zusatz "Ausländischer Agent" drucken. 2014 erklärte Krascheninnikowa gegenüber der Zeitung "Abendliches Moskau", der Staatsstreich in der Ukraine sei faktisch durch NGOs vorbereitet worden, die zwanzig Jahre lang vom Westen finanziert wurden.

2013 nahm die Politikerin im russischen Fernsehen an einem Streitgespräch mit dem in deutschen Medien häufig zitierten liberalen Fernsehjournalisten Nikolai Swanidse teil. Dem von Swanidse vorgetragenen Plädoyer für Russlands demokratische Errungenschaften in den 1990ere Jahren setzte [6] Krascheninnikowa die These entgegen, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin hätten damals faktisch einen Staatsstreich vollzogen.

Die russischen Medien hätten seit Ende der 1980er Jahre die gesamte sowjetische Vergangenheit als schlecht bezeichnet. Die Bevölkerung sei "desorientiert" gewesen. Deshalb sei die Sowjetunion zerbrochen.

Was die Frage der Rechtspopulisten in der EU betrifft, wird es unter russischen Politikern nicht so schnell Einigkeit geben. Hoffnung machten sich die Redner auf der Veranstaltung im Moskauer Museum aber wegen der Äußerung von Emanuel Macron, Europa müsse gemeinsame Sicherheit mit Russland suchen.

Der Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag werde dazu führen, dass die europäischen Staaten ihre Isolationspolitik gegenüber Russland beenden und sich die Kontakte zu den Regierungen in Deutschland und Frankreich verbessern, so die Hoffnung der Redner im Moskauer Museum. Ein Nebeneffekt solch einer Entwicklung wäre, dass die Rechtspopulisten in der EU für Moskau an Bedeutung verlieren würden, meint der Autor dieser Zeilen.

Ulrich Heyden

veröffentlich in Telepolis

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.invissin.ru/
[2] http://www.russlandkontrovers.com/russland-im-netz-der-ultrarechten#mor
[3] https://www.bundestag.de/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf
[4] https://www.youtube.com/watch?v=8bJmCHCXYNo&t=306s
[5] https://regnum.ru/news/1490137.html
[6] https://www.youtube.com/watch?v=TY67D2-lKSM&t=5154s

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