Nicht im russischen Exil: Ein ausländischer Korrespondent in Moskau (tkp - der Blog für Science und Politik)
19. April 2024von Andrea Drescher 15 Minuten Lesezeit
Ulrich Heyden verfügt über langjährige und fundierte Expertise, wenn es um das Leben aber auch die politische Situation Russlands geht. Seine Erfahrungen fasste er in seinem Buch „Mein Weg nach Russland – Erinnerung eines Reporters“ ausführlich zusammen.
Ich traf ihn in Moskau, um auch die Situation eines Deutschen kennen zu lernen, der schon länger im Land lebt. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die erst seit kurzem im Land sind, ist er freiwillig nach Moskau gegangen und kann auch problemlos nach Deutschland zurückkehren. Unproblematisch ist seine Lage als Journalist aber auch nicht, da er, wie seine Kollegen, das Mainstream-Narrativ nicht teilt.
Lieber Ulrich, seit wann bist Du in Russland?
Seit April 1992.
Du lebst hier jetzt als russischer Staatsbürger?
Nein. Ich bin deutscher Staatsbürger und bin beim Pressezentrum des russischen Außenministeriums akkreditiert – wie alle ausländischen Korrespondenten, egal woher sie kommen – aus Deutschland oder Saudi-Arabien. Bis 2022 musste ich einmal im Jahr ein Gesuch einer Chefredaktion vorlegen, in dem um meine Akkreditierung in Russland gebeten wird. Bis zum russischen Einmarsch in die Ukraine bekam ich fast 30 Jahre immer eine Akkreditierung für ein Jahr, wie die meisten anderen Auslandskorrespondenten in Moskau auch.
Nach dem Einmarsch in die Ukraine werden Auslandskorrespondenten aus „unfreundlichen Staaten“ nur noch für drei Monate akkreditiert. Wenn ich eine neue Akkreditierung erhalten habe, muss ich beim Innenministerium ein Visum für drei Monate beantragen und wenn ich das erhalten habe, muss ich mich in meinem Wohnbezirk bei einer Dienststelle des Innenministeriums registrieren. Das läuft mehr oder weniger problemlos, kostet aber viel Zeit. Außerdem muss ich etwa einmal im Jahr in einem Zentrum für Arbeitsmigranten einen Medizin-Total-Check machen. Dort wird man auf ansteckende Krankheiten geprüft.
Das ist eine ziemlich unsichere Lebenssituation.
Ja. Bei einem Treffen von Auslandskorrespondenten mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow hat ein griechischer Kollege gesagt, er fände das nicht so gut, dass er als pro-russisch denkender und schreibender Journalist alle drei Monate eine neue Akkreditierung beantragen müsse. Er fragte, ob man das nicht abändern könnte für die Menschen, die Russland gegenüber positiv eingestellt sind. Der Außenminister antwortete, das ginge nicht. Alle Auslandskorrespondenten aus „unfreundlichen Staaten“ müssten gleich behandelt werden.
Du bist mit einer Russin verheiratet, macht es das nicht leichter?
Ja, ich bin seit fünf Jahren hier verheiratet. Aber um sich hier als Ausländer zu registrieren, gibt es ziemliche Hürden. Das Problem: meine Frau ist außerhalb von Moskau registriert. Wir wohnen aber in meiner gemieteten Wohnung in Moskau. Hätte ich in Russland Wohnungseigentum oder würde ich mit meiner Frau bei ihrer Mutter wohnen, wo meine Frau registriert ist, wäre es kein Problem, in Moskau eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre zu bekommen. Da ich auch kein Besitzer einer Wohnung bin, ist für mich sehr sehr kompliziert eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre zu bekommen. Ich versuche das schon seit Jahren immer wieder zu klären. Es gibt für solche Fälle Vermittler, die sich um die bürokratischen Angelegenheiten kümmern, die aber auch keine Berge versetzen können.
Vor etwa fünfzehn Jahren hieß es, es gäbe Quoten für Ausländer. Um aber in diese Quote zu kommen, müsste ich auch 2.000 Dollar an eine Vermittlerin bezahlen, ohne dass die Anerkennung sicher ist.
Ich mache mir aber auch keine ernsthaften Gedanken. Ich fühle mich innerlich Russland so verbunden, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es irgendwelche ernsthaften Maßnahmen gegen mich geben könnte. Die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, hat aber gesagt, wenn russische Journalisten in Deutschland Probleme bekommen, würden auch die deutschen Korrespondenten in Russland Probleme bekommen. Ich habe keine Garantie, dass ich im Falle einer möglichen Zuspitzung zwischen Russland und Deutschland zusammen mit allen anderen deutschen Korrespondenten zur Ausreise aufgefordert werde.
Hast Du noch einen Wohnsitz in Deutschland?
Nein. Ich bin in Deutschland abgemeldet.
Kannst Du kurz beschreiben – ausführlich hast Du es ja in Deinem Buch „Mein Weg nach Russland“ getan – was Dich motiviert hat, hier zu arbeiten?
Ich wollte immer mal im Ausland leben. Ich hatte das Gefühl, in Deutschland immer dasselbe zu erleben. Ich war auch nicht in der Lage, mich persönlich frei zu entfalten. Der Schritt ins Ausland hat das erleichtert, da ich hier alles selbst entscheiden musste. Es kamen keine Kommentare von alten Freunden oder Verwandten – das war ein toller Schritt, den ich nicht bereue.
Und warum Russland?
Meine Familie hat mich stark mit dem Land in Verbindung gebracht. Mein Vater hat am Frühstückstisch Geschichten aus dem Krieg erzählt, war begeistert von den russischen Weiten und schwelgte in Phantasien über das „wunderbare russische Landleben“ und die Zarenzeit. Das war der erste Kontakt. Dann wurde es politischer. Ich habe gemerkt, dass mein Vater den Überfall auf die Sowjetunion nicht bereute. Ich politisierte mich, wurde ein Linker, aber kritisch gegenüber der Sowjetunion positioniert, und hatte den Wunsch, die Umwälzung im Land vom realen Sozialismus zum Kapitalismus als Journalist zu begleiten. Ich habe mir 1992 ausgemalt, man könne über Russland nun – wo Russland nicht mehr die „kommunistische Bedrohung“ ist – fair und ohne Vorurteile schreiben. Aber das war eine Illusion. Der Anti-Russismus lebte in den Redaktionen der „Leitmedien“ weiter, allerdings nicht mehr so offen, sondern etwas verdeckter.
Hat es lange gedauert, in Russland anzukommen?
Ja – sehr lange. Ich bin Einzelgänger, Russen agieren viel mehr im Kollektiv. Sie können auf kleinem Raum mit sehr vielen Menschen leben, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu kommen. Das ist eine große Kunst, wie ich finde. Sie haben andere soziale Antennen und agieren anders.
Zu diesen kulturellen Unterschieden kam dann noch die Wirtschaftskrise. Die ganze russische Gesellschaft war auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten. Das Land war geprägt durch Kriminalität, Krieg in Tschetschenien und Betrügereien.
Der Zugang zu Frauen war schwierig. Viele erhofften sich von mir, dass ich ihnen helfe, bestimmte soziale Probleme zu überwinden. Aber als freier Journalist habe ich auch nur wenig verdient. Es waren sehr interessante Frauen, hielt aber nie lange an, wobei ich auch hier nichts bereue. Seit ich verheiratet bin, ist alles sehr stabil geworden in meinem Leben. Ich habe auch guten Kontakt mit der Familie meiner Frau.
Bist Du hier zu Haus?
Ja. Ich bin extreme Lebenssituationen gewohnt und brauche keine luxuriöse Umgebung, kann mich schnell anpassen und lebe mit dem, was da ist. Hat man wenig Geld, muss man auf Auto, regelmäßige Urlaubsreisen verzichten.
Wovon lebst Du denn?
Ich lebe von einer kleinen Rente, Artikel- und Buchhonoraren, Honoraren für Beiträge auf Konferenzen oder für Internet-Vorträge, Spenden und von Zahlungen der „Verwertungsgesellschaft Wort“, die Tantiemen aus Zweitverwertungsrechten an Sprachwerken verwaltet.
Früher hast Du für den Mainstream gearbeitet, für den bist Du nicht mehr gut genug. Du warst anerkannter Journalist, heute bist Du „Propagandist“. Kann man das so sagen?
Ja, solchen Schmähungen bin ich im Internet ausgesetzt. Das ging mit dem Maidan in Kiew im November 2013 los, der dann im Februar 2014 zum Staatsstreich führte. Beim Maidan merkte die Sächsische Zeitung, dass ich nicht in Euphorie ausbreche. Auf einmal kam die Kündigung, mit der Begründung, man drucke ja nur noch wenig von mir. Ich hatte einen Honorarvertrag, bekam jeden Monat 1.500 Euro und musste für sie dafür zu allen möglichen Themen etwas schreiben. Auch am Wochenende. Das Geld reichte aber nicht zum Leben in einer sehr teuren Stadt wie Moskau aus, weshalb ich einen Pool von 15 Zeitungen – vor allem Regionalzeitungen – mit meinen Artikel-Angeboten belieferte. Eines der größten Probleme war immer die Krankenversicherung. Für eine Vollversicherung hätte ich monatlich 500 Euro zahlen müssen. Soviel Geld hatte ich nie.
Nachdem mich die Sächsische gekündigt hatte, habe ich andere Zeitungen, für die ich immer schon schrieb, gebeten, ein Akkreditierungsgesuch für mich in Moskau zu stellen. „Die Wochenzeitung“ in Zürich war dazu bereit, monierte aber bereits nach einem Jahr die Überschrift eines Artikels von mir im Portal „Telepolis“, Ich hatte den vermutlich vom ukrainischen Geheimdienst ermordeten Feldkommandeur Aleksej Mosgowoi als „Che Guevara des Donbass“ bezeichnet. Das war dem Blatt nicht neutral genug. Ich stellte die Zusammenarbeit ein.
Von 2016 bis 2022 war ich dann für die Berliner Wochenzeitung „der Freitag“ in Moskau akkreditiert. Nach dem Einmarsch der russischen Armee bat mich „der Freitag“ um ein Portrait über den russischen Außenminister Sergej Lawrow. Ich schrieb einen neutralen Text, erwähnte aber, dass Lawrow die Entscheidung des russischen Präsidenten für den Einmarsch in der Ukraine unterstützt hat. Das widersprach dem gewünschten Narrativ, dass Putin den Einmarsch im Alleingang entschieden hat. Daraufhin bekam ich einen Brief vom Chefredakteur, der in etwa sagte: „Wir schätzen Ihre Artikel, aber während des Krieges werden wir nichts mehr von Ihnen drucken. Es war ein Überfall, der nicht zu rechtfertigen ist, es gibt keine Vorgeschichte. Der Westen ist unschuldig.“
Als die Nachdenkseiten für die ich auch schon lange schreibe von meinen Problemen erfuhren, boten sie mir an, mich zu akkreditieren. Und das ist bis heute so geblieben.
Auch Florian Warweg ist dort untergekommen, nachdem das Medium, für das er arbeitete, verboten wurde. Nennen möchte ich es nicht, ich muss vermeiden im Westen Probleme zu bekommen. Was hältst Du eigentlich von diesem Medium? Wie neutral ist es in Deinen Augen?
Neutral? Wenn man von Journalisten erwartet, dass in einem Artikel immer beide Seiten dargestellt werden, so dass sich der Leser anhand dieser Darstellung eine eigene Meinung bilden kann, erfüllt das Medium diese Bedingung oft nicht.
Aber wir leben in einer Zeit des Informationskrieges und einem drohenden Dritten Weltkrieg. Und heute ist es sehr schwer sich mit nüchternem Journalismus in breiten Kreisen der Bevölkerung Gehör zu verschaffen. Die Situation ist wahnsinnig aufgeheizt. Aber nicht das Medium ist daran schuld, sondern die großen westlichen Medien, die Russland dämonisieren. Ich verurteile es daher nicht, wenn russische Medien manche Themen sehr zugespitzt und manchmal auch einseitig darstellen.
Faktisch ist es heute einer der Rammböcke gegen die westliche Propaganda. Im Informationskrieg bringt es das russische Narrativ, was man im Westen mit aller Macht ausklammern – ja vernichten – will. Russland hat meiner Meinung nach das gleiche Recht Propaganda zu machen, wie es der Westen wie selbstverständlich für sich beansprucht.
Ich persönlich versuche weiter in dem Stil Journalismus zu machen, wie ich es die letzten 32 Jahre gemacht habe. Das heißt, ich bemühe mich ein Thema in einem Kontext darzustellen und mir nicht nur das rauszupicken, was besonders grell ist. Ich möchte dem Leser die Möglichkeit geben, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Wie frei kannst Du in Russland arbeiten?
Ich arbeite völlig frei. Ich kann schreiben, was ich will, und sprechen, mit wem ich will. Die Frage ist, wer druckt das?
Ich bin von meiner Grundüberzeugung ein Linker. Ich war mein ganzes Leben lang links, war 20 Jahre im Kommunistischen Bund und bin kritisch gegenüber dem russischen Kapitalismus. Ich schreibe oft kritisch über die russische Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich kritisiere häufig – allerdings in moderatem Ton – den wirtschaftsliberalen Flügel im Finanzministerium und in der Zentralbank.
Im Westen wird verschwiegen, dass es in Russland auch Keynesianer gibt, welche dafür plädieren die Wirtschaft durch staatliche Investitionen anzukurbeln, die Löhne zu erhöhen, damit die Kaufkraft zu steigern und den Konsum ankurbeln. Die Keynesianisten hier haben zwar ihre Internet-Kanäle, in denen sie die russische Regierung hart kritisieren, man sieht sie aber nicht im Fernsehen. Kritisch äußere ich mich auch immer wieder zum Bildungs- und Gesundheitssystem, obwohl sich das seit den 90igern schon ziemlich verbessert hat.
Aber man merkt, dass es hier eine Klassengesellschaft gibt. Moskau ist von der Infrastruktur hervorragend ausgestattet. Es gibt Wohngebiete- und medizinische Einrichtungen, die wirklich top sind. In kleinen Dörfern und Städten sieht die Lage aber oft viel schlechter aus.
Viele Russen erinnern sich heute gerne an die Sowjetunion. Damals hatte jeder die Chance als Arbeiter- oder Bauernkind auch Ingenieur, Kosmonaut oder Balletttänzerin zu werden. Von dieser Ausbildung profitierten stillschweigend Deutschland und USA, die gut ausgebildete Russen gerne in ihr System integriert haben. Die liberale russische Elite, die in Russland den Ton angab, hat leider vergessen, dass es für einen starken Staat, wie die Sowjetunion einer war, eine breite Massenbildung braucht. Heute wird sehr viel für die Ausbildung einer russischen Elite getan. Aber es fehlt an Ingenieursschulen und Facharbeitern, welche die hochgesteckten Wirtschaftspläne umsetzen können. Man versucht die Lücken mit schlecht ausgebildeten Migranten aus Zentralasien zu füllen. Aber zu einer nachhaltigen Entwicklung kann das kaum führen.
Aber es gibt auch viele positive Dinge: In meinem Wohnbezirk gibt es eine komplett neu renovierte Kinderklinik, viele Polikliniken wurden auf den neuesten Stand gebracht. Es ist nicht alles schlecht.
Wie verhalten sich die Behörden Dir als Deutschen gegenüber?
Mit russischen Behörden habe ich wenig Probleme. Irgendwie regelt sich immer alles. Zwischen 2014 und 2019 wurde ich von den föderalen russischen Fernsehkanälen häufig zu Talk-Shows eingeladen. Regelmäßig werde ich als Journalist vom Außenministerium zu Reisen eingeladen, für die ich nichts zahle.
Bis vor etwa zehn Jahren habe ich, wenn ich einen Polizisten traf, immer einen Bogen gemacht. Nicht immer verhielten sich Polizisten adäquat. Das hat sich aber total verbessert. Auch wenn Polizisten Arbeitsmigranten kontrollieren, beobachte ich, dass es höflich und korrekt verläuft.
Wie ist Dein Verhältnis zu deutschen Behörden? Kannst Du zurück?
Ich habe mein Buch „Mein Weg nach Russland, Erinnerungen eines Reporters“ im Februar 2024 in sieben Städten in Deutschland auf Veranstaltungen präsentiert. Ich hatte befürchtet, dass was passiert, dass mich radikale Ukrainer angreifen. Aber es verlief alles friedlich. Ein guter Bekannter in Berlin meinte, die Antifa sei mit den Friedensaktivisten, die sich für Gaza engagieren, beschäftigt und hätte die Ukraine etwas vom Radar verloren. Ich hatte auch noch keine Kontokündigung, wie andere Kritiker der Russophobie. Aber ich habe auch nicht die Reichweite einer Alina Lipp.
Es sind viele Neueinwanderer aus Deutschland nach Moskau gekommen. Hast Du zu ihnen Kontakt?
Ich habe eigentlich nur Kontakt zu Liane Kilinc von der Friedensbrücke Kriegsopferhilfe, die ich auch bereits mehrfach interviewt habe. Durch ihre Reden in Deutschland zu historischen Anlässen, die ich sehr gut fand, dass ich sie bei mir auf Facebook veröffentlicht habe, entstand ein persönlicher Kontakt.
Zu den anderen aber nicht?
Nein. Aber wenn man mich anspricht, helfe ich gerne mit Tipps und meinen Erfahrungen weiter. Aber es ist ja auch nicht schlecht, wenn man neu in einem Land ist, alles selbst auszuprobieren. Ich hoffe, dass die Menschen hier glücklich werden, es ist ja nicht so einfach. Die Übersiedler mit russischer Vergangenheit – wie Alexej Danckwardt – haben es sicher leichter.
Ich nehme Moskau auf der Straße als eher harte Gesellschaft wahr, auch ein hohes Maß an Digitalisierung sowie extrem viele Smartphone-Zombies. Täuscht der Eindruck?
Der Eindruck täuscht Dich nicht. Der erste Eindruck ist meiner Ansicht nach auch immer der ehrlichste, weil man nichts relativiert. Das macht man später, um sich damit abzufinden. Ich finde das auch ziemlich schrecklich.
Ich erinnere mich gerne daran, dass die Menschen in den 90igern in der U-Bahn Bücher gelesen haben. Ich bin Buchfanatiker. Die elektronischen Medien gaukeln eine persönliche Begegnung vor, die in der Realität viel menschlicher ist. Wenn man sich im Gespräch gegenübersitzt, sich in die Augen schaut, ist man ehrlicher, echter und spontaner als bei der Kommunikation über elektronische Medien.
Darum hat mir die Lesereise in Deutschland auch gutgetan. Es war ein lebendiger Dialog, ich habe mitgekriegt, wie Menschen diskutieren, mit welcher Emotionalität sie an Fragen rangehen und natürlich welche Fragen sie stellen.
Ein großes Problem in Russland ist, dass in den letzten 30 Jahren zu viel Massenkultur aus den USA unkritisch übernommen wurden. Die USA und England sind in Russland in der Mode, in der Musik und im Kino sehr präsent. Ich war mal auf einem Open-Air-Rockkonzert mit den Prodigy. Da sangen 6.000 junge Menschen den wahnsinnig schnellen Text mit Sekunden-genauen Einsätzen mit. Ich war begeistert, aber auch irgendwie baff. Rammstein ist hier auch total beliebt und die Stücke sind alle bekannt. Bei allem Respekt vor westlicher Rock-Musik hat es mich aber schockiert, wie sich die realsozialistische Gesellschaft mit Haut und Haaren seelisch verkauft hat.
Aber die russische Kultur ist noch sehr stark, sie kann nicht so einfach ausgehebelt werden. Sie ist in der Familie und im Alltag tief verwurzelt. Aber die Wertigkeiten ändern sich Schritt für Schritt. Man ist in den letzten 30 Jahren sehr konsumorientierter geworden, auch wenn der Kauf westlicher Konsumtechnik durch die Sanktionen wohl zurückgegangen sind. Die Einkaufstempel sind deutlich leerer geworden. In riesigen Boutiquen sieht man oft nur drei Verkäufer und ein bis zwei Kunden. Und das bei voller Beleuchtung. Was das kostet, diese Riesengebäude zu bewirtschaften! Das ist irre. Die ganze Stadt ist auf Konsum ausgelegt aber es wird weniger gekauft. Oft sehe ich jetzt Import-Autos deren Kotflügel mit Klebeband notdürftig geflickt sind. Offenbar fehlt das Geld für Ersatzteile aus dem Ausland.
Zum Abschluss die Frage: würdest Du heute wieder nach Russland gehen?
Die Frage ist sehr theoretisch. Damals hing das sehr stark mit dem Ende der Sowjetunion zusammen. Ich hatte gehofft, es entsteht ein neuer Planet, auf dem ich mich selbst ausprobieren kann. Ich bin ja jetzt auch in einem anderen Alter. Aber ja. Ich glaube, ich würde es noch mal machen.
Danke Dir.
veröffentlicht in: tkp - der Blog für Science und Politik