Ulrich Heyden, Moskau
Im Wahlkampfstab des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Wolodymyr Selenski wurde in der Nacht auf Montag gefeiert. „Ich habe noch nie so viele Fernsehkameras gesehen“, scherzte der 41 Jahre alte Showmaster, der in der Ukraine durch seine Satire-Sendung „95. Kwartal“ berühmt wurde.
Selenski bekam 30,16 Prozent der Stimmen, gefolgt von Poroschenko mit 16,71 und Timoschenko mit 13,09 Prozent. Für den Russland-freundlichen Kandidaten Juri Boiko, der sich am 22. März in Moskau demonstrativ mit dem russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew getroffen und mit ihm über die russisch-ukrainischen Handelsbeziehungen gesprochen hatte, stimmten 11,51 Prozent der Wähler.
Auf die erste Frage von einem Journalisten, was er Putin bei einem Treffen sagen würde, erklärte Selenski keck, „gibt es denn schon ein Datum, wann ich Putin treffen werde?“ Als er erneut gefragt wurde, was er dem russischen Präsidenten sagen werde, erklärte der Wahlsieger, „Sie werden uns unsere Territorien endlich zurückgeben! Wir müssen auch noch über Entschädigungen reden.“
Überraschungssieg
Dass der junge Showmaster den Amtsinhaber mit vierzehn Prozent der Stimmen überflügelt, war eine Überraschung. Offenbar hat Selenski, der als Politiker noch unverbraucht und nicht in Korruption verwickelt ist, viele Wähler zu den Wahlurnen mobilisiert. Insbesondere im russischsprachigen Südosten der Ukraine stimmten viele für den Komiker.
Nach dem Stand der Auszählung von 45 Prozent der Stimmen am Montagmorgen erreichte bei der ukrainischen Präsidentschaftswahl keiner der 38 Kandidaten 50 Prozent und eine Stimme, weshalb es aller Voraussicht nach am 21. April zu einer Stichwahl der beiden stärksten Kandidaten kommen wird. Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben der Zentralen Wahlkommission bei 63 Prozent. Allerdings wird diese Ziffer von vielen Kritikern angezweifelt.
Das offizielle Ergebnis der Wahl wird in zehn Tagen bekannt gegeben.
Die am Sonntagabend veröffentlichen Exit-Poll-Umfragen bestätigten, dass Julia Timoschenko nur auf Platz drei steht. Die Unterlegene, erkannte die Ergebnisse der Exit-Poll-Umfragen nicht an. Bis Montagabend werden man sich die Originale der Wahlprotokolle besorgen, erklärte Timoschenko. Sie rief ihre Anhänger dazu auf, zu den Wahllokalen zu kommen und die Auszählung der Stimmen zu überwachen.
Timoschenko und Boiko sprechen von Wahlfälschungen
Die unterlegene Kandidatin Timoschenko beschuldigte den ukrainischen Geheimdienst SBU. Dieser habe bei den Wahlen provoziert und gefälscht. Am Sonntag liefen in Kiew maskierte und schwer bewaffnete Mitarbeiter des SBU Patrouille. Außerdem waren gepanzerte Fahrzeuge des SBU auf Plätzen der Stadt zu sehen.
Auch der Kandidat Boiko sprach von Wahlfälschungen. Die Zentrale Ukrainische Wahlkommission dagegen erklärte, es seien keine ernsten Verletzungen der Wahlordnung festgestellt worden.
Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums wurden bis Sonntagabend 22 Uhr 2.100 Meldungen über die Verletzung der Wahlordnung registriert. 39 Strafverfahren seien eingeleitet worden.
Doch ein neuer Maidan, von dem in Kiew schon seit zwei Jahren geredet wird, ist nicht wahrscheinlich, meint das oppositionelle Internetportal Strana.ua. Die Menschen würden lieber zur zweiten Wahlrunde gehen.
Poroschenko: „Wir werden an unseren Fehlern arbeiten“
Poroschenko gab sich am Wahlabend betont selbstkritisch. Es gäbe „keine Euphorie“. „Ich verstehe kritisch und nüchtern das Signal, welches die Gesellschaft der Macht heute gibt. Das ist eine harte Lehre für mich und für unsere ganze Mannschaft. Das ist ein absolut ernster Anlass für eine genaue Arbeit an den Fehlern, die in den letzten Jahren zugelassen wurden.“ Der Präsident forderte alle die Kandidaten, „welche fest auf der patriotischen, proukrainischen Plattform stehen“ auf, sich für die zweite Wahlrunde zusammenzuschließen.
Dass Poroschenko die schwere Schlappe durch Bündnisse mit Timoschenko oder Boiko noch wettmachen kann, ist unwahrscheinlich. Das psychologische Plus liegt bei dem Gewinner der ersten Runde.
Vor der Stichwahl will Poroschenko sich in öffentlichen Wahldebatten seinem Herausforderer stellen. Offensichtlich hofft der Unterlegene den Polit-Neuling durch sein Fachwissen und seine Autorität als vom Westen unterstützter Präsident der Ukraine ausstechen zu können.
Poroschenko fordert Bekenntnis zu EU und NATO
Poroschenko unterstellt Selenski Weichheit und Nachgiebigkeit. Am Wahlabend erklärte der Amtsinhaber, „jeder von uns muss die Antwort auf die wichtigen Fragen geben, wird das Land seinen Weg in die EU und die Nato fortsetzen oder wird es sitzen und in einem Referendum auf die Erlaubnis des Kremls warten“.
Das war eine Anspielung auf Selenski, der vor einem Nato-Beitritt vermutlich ein Referendum abhalten wird.
Selenski sei einfach nicht der richtige Mann bei Gesprächen mit Putin, erklärte Poroschenko am Wahlabend in seinem Wahlkampfstab. Der Amtsinhaber warnte: „In Russland werden zu Gesprächen nicht Maxim Galkin und Jewgeni Petrosjan (zwei russische Komiker) antreten, sondern Putin.
Panik unter Poroschenko-Anhängern
Obwohl Selenski mit Shows vor ukrainischen Soldaten aufgetreten ist, die im Donbass kämpfen, obwohl er eine Million Griwna für die „Verteidiger des Vaterlandes“ gespendet hat und obwohl seine Unterhaltungs-Show „Abendliches Quartal“ im russischen Fernsehen gestrichen wurde, weil Selenski sich über russische Politiker und die Bewohner des Donbass lustig gemacht hatte, schlägt dem Wahlsieger jetzt der Hass aus dem Poroschenko-Lager entgegen.
Im Poroschenko-Lager gibt es eine regelrechte Panik. Nationalistische Politologen, Blogger und Feldkommandeure glauben nicht mehr an einen Sieg von Poroschenko in der zweiten Wahlrunde.
Die Bevölkerung sei „dumm“ und erkenne die großen Leistungen des Präsidenten nicht an, der „wie ein Titan“ gearbeitet habe, meinen diese Leute. Die Bevölkerung folge „Verrätern“ wie Selenski, Timoschenko, Boiko, Wilkul und anderen „Vertretern Moskaus“, so der Journalist Ajder Muschdabajew.
Im Deutschland wird leider nicht realisiert, was für eine nationalistische Gefolgschaft sich der Oligarch Petro Poroschenko mit seinem Krieg im Donbass und seinem Wahlkampf unter dem Slogan „Armee, Sprache, Glaube“ herangezogen hat. Deshalb hier zur Veranschaulichung einige Original-Zitate aus dem Poroschenko-Lager.
Der Politologe Taras Beresowez erklärte, über die Hälfte der Bewohner der Ukraine „fühlen sich nicht als ihre Bürger. Das sind keine Bürger, das ist Bevölkerung“.
Der Blogger Aleksej Petrow schrieb, die Wähler von Selenski folgten „primitiven Bedürfnissen“. Sie wollten nur „pissen, kacken und fressen“. „Allerdings habe wir im Magazin noch letzte Patronen. Entweder wir führen den letzten Kampf oder uns bleibt nur, die patriotischen Tatoos abzuziehen und langsam die kurze Episode in unserer Geschichte zu vergessen, als wir fast siegten.“
Der härteste Kommentar kam von dem Journalisten Ajder Muschdabajew. „Es scheint, dass uns nichts bleibt, außer zu schießen. Wenn man dich in den Rücken schießt, hast du keinen anderen Ausweg. Das heißt es wird eine neue Revolution, einen Sieg der Patrioten geben, aber gleichzeitig verlieren wir noch sechs bis acht Gebiete.“ Gemeint sind offenbar Gebiete im Südosten der Ukraine, in denen Selenski und Boiko ihre besten Stimmenergebnisse holten und die bei einer Ausweitung des Bürgerkrieges verloren gingen.
Aus dem Chor des Hasses, schert nur Einer aus. Michail Saakaschwili, der ehemalige Gouverneur von Odessa und ehemaliger Präsident Georgiens, der die Ukraine auf Druck von Poroschenko verlassen musste, rief „die demokratischen Kräfte“ in der Ukraine auf, Selenski „ohne jede Vorbedingung“ zu unterstützen. „Die Niederlage von Poroschenko und seiner Clique“ sei eine „fantastische Chance für die Ukraine.“
Saakaschwili kennt die Ukraine über Jahre aus eigener Erfahrung. Und aus dieser Erfahrung versteht er offenbar, dass die prowestlichen Kräfte in der Ukraine nur mit Selenski eine Chance haben. Poroschenko ist einfach zu verbraucht.
Die ARD sorgt sich um den antirussischen Kurs
Die ARD mischt sich mal wieder einseitig in die ukrainische Innenpolitik ein. ARD-Korrespondentin Ina Ruck bemängelte in ihrem Bericht aus Kiew am Sonntagabend – unter Bezug auf europäische Botschafter in Kiew – die mangelnde politische Erfahrung von Selenski. Dieser werde von Putin „zum Frühstück verspeist“.
Die Korrespondentin erinnerte daran, dass Selenski auch Oberkommandierender der ukrainischen Armee werden kann und legte nahe, dass das für einen Polit-Neuling nicht das richtige Amt sei. Die Ukraine „stehe in einem Krieg“ und habe ein „schweres Zerwürfnis mit Russland“. Vor diesem Hintergrund sei Poroschenko, mit dem der Westen nun seit fünf Jahren gedeihlich zusammenarbeitet, der geeignetere Mann, legt die Korrespondentin nahe. Ruck erklärte, sie hoffe, dass die Ukrainer sich besinnen und nach einer „Protest-Wahl“ dem Amtsinhaber in der zweiten Runde doch noch einmal ihre Stimme geben.
Meine Frage: Warum beschränkte sich Ina Ruck bei ihrer Arbeit in Kiew nicht auf Gespräche mit der Bevölkerung und Interviews mit den Kandidaten? Warum musste sie sich in die Pose einer Außenpolitikerin werfen?
Russland: „Eine Wahl ohne Wahl“
Der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, hatte am Sonntag erklärt, der Kreml werde den Wahlkampf in der Ukraine nicht kommentieren. Das sollten die Ukrainer selber tun. Ob man die Wahlen anerkennen werde, hänge davon ab, „wie sie ablaufen“.
Das erste Mal seit der Auflösung der Sowjetunion waren zu den Wahlen in der Ukraine keine Beobachter aus Russland zugelassen worden. Putins Sprecher Peskow erinnerte an zehn Millionen Ukrainer, die in Russland oder in der Ukraine leben, aber keine Erlaubnis erhalten haben, ihre Stimme abzugeben.
In einer Talk-Shows im russischen Fernsehen am Sonntagabend, forderte der russische Nationalist Wladimir Schirinowski, die Wahlen in der Ukraine nicht anzuerkennen. Schirinowski, der für seine unkonventionellen Vorschläge bekannt ist, regte an, darüber nachzudenken, mit den 2014 nach Moskau geflüchteten Ministern der Ukraine eine alternative ukrainische Regierung zu bilden. Russland könne diese Regierung dann anerkennen, „sowie Trump es mit Guaidó (dem Parlamentschef von Venezuela, Anm. U.H.) gemacht hat.“
Der Leiter des Komitees für Auswärtige Beziehungen des russischen Födererationsrates, Konstantin Kosatschow, erklärte am Montag, in der Ukraine habe es „Wahlen ohne Wahl“ gegeben. Die Bürger hätten nur zwischen „50 Schattierungen von Grau“ wählen können. Der Weg der Ukraine in die EU und die NATO sei vorgezeichnet.
Kosatschow erklärte, Europa sehe seine Interessen in der Ukraine am ehesten durch Julia Timoschenko vertreten, „da sie theoretisch mit Allen, auch mit Moskau, verhandeln kann.“ Sie könne den Konflikt in der Ukraine von dem Europa „müde“ sei, „auflösen“. Doch Timoschenko gefalle den USA nicht. Die USA wollten „die Niederlage Russlands. Deshalb setzen sie auf Poroschenko.“
Ulrich Heyden, Moskau, 01.04.19
veröffentlicht in: Nachdenkseiten