Putin fordert aufständische Wagner-Kämpfer auf, ihr „verbrecherisches Abenteuer“ zu beenden (Nachdenkseiten)
24. Juni 2023 um 16:30 Ein Artikel von Ulrich Heyden
Der monatelange Streit zwischen dem Chef der privaten Sicherheitsfirma Wagner und der russischen Militärführung hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Soldaten des Wagner-Bataillons unter Kommando des Unternehmers Jewgeni Prigoschin haben strategisch wichtige Punkte in der südrussischen Stadt Rostow am Don unter ihre Kontrolle gebracht. Nach Angaben des Telegram-Kanals von Prigoschin ist die Wagner-Truppe auf dem Weg nach Moskau, was von offiziellen russischen Stellen aber nicht bestätigt wird. Was mit dem Marsch auf Moskau genau erreicht werden soll, darüber äußert sich Prigoschin nicht. Im Gebiet Moskau und Woronesch gibt es verschärfte Sicherheitsbestimmungen. Von Ulrich Heyden, Moskau.
Viele Russen waren geschockt, als sie am Sonnabendmorgen die Nachrichten hörten. Der bekannte russische Radio-Journalist und Fernsehmoderator Wladimir Solowjow erklärte, er sei bei den Wagner-Kämpfern in Saparoschje, Soledar und Bachmut gewesen. Die 25.000 Mann starke Wagner-Truppe, die sich nach der Einnahme der Stadt Bachmut in ein Trainingslager zurückgezogen hat, würde an der Front gebraucht. Die Wagner-Leute würden auch gebraucht „für einen Marsch nach Lviv und Kiew. Aber wenn du siehst, was vor sich geht, denkst du, ist das ein Kornilow-Aufstand oder der Marsch von Mussolini auf Rom?“ Es könne nicht angehen, dass wir unser Land wegen „Streits verschiedener Gruppen verlieren“, erklärte Solowjow, der verzweifelt wirkte.
Mit dem Kornilow-Aufstand spielte der Fernsehmoderator auf einen Putschversuch des russischen Generals Lawr Kornilow an, der im Juli 1917, zum Ende des Ersten Weltkrieges, einen Militärputsch organisierte, der sich gegen die damalige bürgerliche provisorische Regierung Russlands und die linken Arbeiter- und Soldatenräte richtete. Der Putsch fand damals in der russischen Bevölkerung keine Unterstützung. Kornilow wurde verhaftet. Im russischen Bürgerkrieg schloss sich Kornilow der weißen, anti-bolschewistischen Armee an. Er wurde im Kampf 1918 getötet.
Was ist mit dem „Marsch auf Moskau“?
Auf dem Telegram-Kanal von Prigoschin wurde heute mitgeteilt, dass sich die Wagner-Truppe von Süden kommend auf der Fernstraße M4 auf dem Weg nach Moskau befindet, die Stadt Woronesch passiert hat und sich bereits im Lipezki-Gebiet befindet. Eine Bestätigung für diese Behauptung von offizieller russischer Seite gibt es nicht. Ein Marsch auf Moskau ist eine abenteuerliche Sache und sollte es diesen Marsch tatsächlich geben, wird er wohl vom russischen Militär niedergeschlagen.
Prigoschin genießt als Sieger von Bachmut zwar Ansehen in der russischen Bevölkerung, aber es gibt keine Hinweise, dass ein militärisches Vorgehen gegen das russische Verteidigungsministerium in der russischen Bevölkerung auf Sympathie stößt.
Auf dem Prigoschin-Kanal wurde ein Video gepostet, welches angeblich Wagner-Panzer auf dem Weg nach Moskau zeigt. Nach Darstellung des Prigoschin-Kanals habe die russische Luftwaffe ein Fahrzeug auf der Fernstraße bombardiert (Video Prigoschin-Kanal), angeblich um die Kolonne der Wagner-Truppe zu stoppen. Ein anderes Wagner-Video zeigt angeblich die Beschießung eines russischen Kampfhubschraubers durch eine Wagner-Luftabwehrrakete.
Erstaunlich ist, dass Prigoschin seine operativen Videos auf dem russischen Telegram-Kanal posten kann, wo diese Videos teilweise 3.000 Likes bekommen, ohne dass die russischen Behörden einschreiten.
Zuvor hatte die Gebietsverwaltung von Woronesch an die Bevölkerung appelliert, die Fernstraße M4 nicht zu benutzen, da dort eine Militär-Kolonne unterwegs sei. Möglicherweise handelte es sich dabei aber nicht um die Wagner-Kolonne, sondern um eine Kolonne des russischen Militärs.
In Moskau, dem Moskauer Umland und dem Gebiet Woronesch wurden Sicherheitsmaßnahmen im Rahmen einer „Antiterroristischen Operation“ eingeleitet. Im Rahmen eines solchen Sicherheits-Regimes kann es zu verstärktem Einsatz von Sicherheitskräften, Ausweiskontrollen, Einschränkungen im Bereich der Telekommunikation und Verkehrsbeschränkungen kommen. Die Museen in Moskau blieben heute geöffnet.
Hauptquartier der russischen Armee in Rostow am Don „blockiert“
Am Sonnabendmorgen brachte der Telegram-Kanal von Prigoschin Videos, auf denen zu sehen war, dass die Wagner-Truppe im Zentrum der südrussischen Stadt Rostow am Don Panzer auf den Straßen stationiert hat.
Außerdem sah man ein Video – offenbar aufgenommen im Hauptquartier der russischen Armee in Rostow am Don -, auf dem Prigoschin schwerbewaffnet zusammen mit dem stellvertretenden Leiter der russischen Militärabwehr, Generalleutnant Wladimir Aleksejew, und dem stellvertretenden russischen Verteidigungsminister Junus-Bekom Jewkurow auf einer Bank sitzt, geschützt von Wagner-Sicherheitsleuten. In dem Video erklärt Prigoschin den beiden hohen russischen Militärs, man habe die Stadt Rostow blockiert und man werde bis nach Moskau ziehen.
Man sieht, dass Prigoschin eine blutige Schramme auf der Wange hat. Es ist unklar, woher sie stammt. Am Freitagabend hatte Prigoschin die russische Militärführung beschuldigt, dass sie das Lager der Wagner-Truppe in Südrussland mit Raketen beschossen habe. Das russische Verteidigungsministerium widersprach der Darstellung von Prigoschin und erklärte, ukrainische Militärs hätten die Situation genutzt und das Gebiet bei Bachmut beschossen.
Für Russland ist der Aufstand der privaten Wagner-Truppe eine schwere Erschütterung. Es ist das erste Mal seit 1993, dass es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen russischen Machtstrukturen kommt. Im Oktober hatte Boris Jelzin das Weiße Haus in Moskau mit Panzern beschießen lassen, weil sich dort sein Vizepräsident Aleksandr Ruzkoj aufhielt, der sich Jelzins Anordnungen und seiner marktradikalen Politik nicht unterwerfen wollte.
Wladimir Putin: Man will Russland „von innen untergraben“
Am Sonnabendmorgen um 10 Uhr wandte sich Wladimir Putin in einer Fernsehansprache (hier ist die ins Deutsche übersetzte Rede Putins) an die Bevölkerung und die Aufständischen in Rostow. Er rief die Aufständischen um den Chef der Sicherheitsfirma Wagner, Jewgeni Prigoschin, auf, ihr „verbrecherisches Abenteuer“ zu beenden. Gegen Russland kämpfe zurzeit die „gesamte militärische, wirtschaftliche und Informations-Maschine des Westens“. In diesem Kampf seien die „Einheit aller Kräfte, Verantwortung und Konsolidierung“ erforderlich. „Streitigkeiten, welche unsere äußeren Feinde nutzen können“, um uns „von innen zu untergraben“, müsse man „beiseite lassen“.
Der russische Präsident kündigte „entschiedenes Handeln zur Stabilisierung der Situation in Rostow am Don“ an. Die Situation in der Stadt sei „schwierig“. Faktisch sei „die Arbeit der zivilen und militärischen Verwaltung blockiert,“ erklärte der russische Präsident. Die Aufständischen seien „Verräter“. Der Kreml-Chef forderte die Wagner-Soldaten auf, sich an dem „Verbrechen gegen die eigene Armee“ nicht zu beteiligen.
Wagner-Truppe hatte bisher hohes Ansehen in der Bevölkerung
Die Wagner-Soldaten haben in Russland hohes Ansehen, weil sie in einem monatelangen Kampf die Stadt Bachmut (russisch: Artjomowsk) eroberten und der ukrainischen Armee eine schwere Niederlage bereiteten. Dieser Erfolg wiegt viel angesichts dessen, dass die russischen Streitkräfte in den letzten Monaten an der ukrainischen Front nur noch kleine Geländegewinne erzielen konnten.
Wladimir Putin erwähnte in seiner Ansprache heute, es seien „Helden“ der Wagner-Truppe gewesen, die gemeinsam mit anderen russischen Einheiten „die Städte Soledar, Artjomowsk und Dörfer im Donbass“ erobert hätten. Die „Ehre dieser Helden“ werde verraten „von denen, die jetzt einen Aufstand organisiert haben“.
Die Frage ist, warum die russische Führung bis heute keinen anderen Weg gefunden hat, um mit Prigoschin ein Auskommen zu finden. Die russische Führung wirkt unentschlossen. Es ist – seitdem Putin Präsident Russlands ist – noch nie vorgekommen, dass ein Unternehmer, der eine Sicherheitsfirma leitet, das russische Verteidigungsministerium öffentlich in Videos straflos der schlimmsten Verbrechen beschuldigen kann. Während des Kampfes um Bachmut hatte Prigoschin den russischen Verteidigungsminister und verschiedene Generäle als unfähig beschimpft. Sie trügen die Verantwortung für schleppende oder ausbleibende Munitionslieferungen, wodurch tausende Kämpfer der Wagner-Truppe getötet oder verletzt worden seien. Das russische Verteidigungsministerium hat auf diese Vorwürfe öffentlich nicht geantwortet.
Putin zieht Parallele zur russischen Niederlage im Ersten Weltkrieg
Auch der russische Präsident zog in seiner heutigen Fernseh-Ansprache eine Parallele zur Situation am Ende des Ersten Weltkrieges. 1917 habe Russland „einen Schlag in den Rücken bekommen“. Der Sieg sei Russland damals „gestohlen“ worden. „Intrigen, Hader, Biertischpolitik hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zu großen Erschütterungen, der Zerstörung der Armee, dem Zerfall des Staates und dem Verlust von großem Territorium.“
Man erinnert sich: In der Februarrevolution 1917 dankte der Zar ab. Wenige Monate später kam es zur Oktoberrevolution. Die russische Bevölkerung war kriegsmüde. Im Friedensvertrag von Brest-Litowsk im März 1918 verzichtete Russland auf Lenins Anweisung auf ehemals russische Gebiete, zu denen damals die Ukraine, Estland und Lettland gehörten.
Nach Meinung des Moskauer Linkssozialisten Boris Kagarlitsky, der in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet ist, hat der Aufstand von Prigoschin keine Erfolgsaussichten. Die Wagner-Truppe könne wohl Moskau erreichen, aber sie habe keinen politischen Flügel und kein politisches Programm. Mussolini sei vor seinem Marsch auf Rom schon ein einflussreicher und erfahrener Politiker gewesen. Prigoschin sei ein Feldkommandeur mit krimineller Vergangenheit. Völlig unklar sei die Position von Prigoschin zum Ukraine-Konflikt, den Sanktionen und zur Wirtschaftspolitik.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch unklar, ob die Wagner-Truppe Moskau erreichen wird. Wahrscheinlich wird die Truppe vor Moskau vom russischen Militär gestoppt. Wir wissen bisher auch nicht, wer möglicherweise hinter Prigoschin steht. Möglicherweise fühlt sich der Wagner-Chef sehr stark, weil ein oder sogar mehrere russische Oligarchen ihn unterstützen.
Für Wladimir Putin ist die Situation kritisch. Er hatte es bisher geschafft, alle politischen Kräfte in Russland auszutarieren und im Interesse der Nation zu vereinen. Der Konflikt zwischen Prigoschin und Putin deutet auf eine ernste innere Krise Russlands hin. Viel wird davon abhängen, wie die russische Bevölkerung auf den Konflikt reagiert.
veröffentlicht in: Nachdenkseiten