27. December 2011

Putin hat die Mittelschicht ignoriert

Moskau wirkt plötzlich fast europäisch. 60 000 Demonstranten im Zentrum der Hauptstadt, welche Neuwahlen und den Rücktritt von Wladimir Putin fordern, ohne dass die Polizei einschreitet.

Fernsehnachrichten, in denen die Führer der ausserparlamentarischen Opposition zu Wort kommen. Wer hätte das vor einigen Monaten für möglich gehalten?

Ohne Not hat der Kreml die Schrauben nicht gelockert. Jahrelange Arbeit und Druck der ausserparlamentarischen Opposition waren nötig, um diesen Freiraum zu erkämpfen. Doch es wird auch deutlich, dass die Opposition nur in Moskau eindrucksvolle Demonstrationen zustande bringt. In der russischen Provinz – vor allem in den Mono-Städten, wo ein ganzer Ort von einer Fabrik abhängt und man jetzt in der Wirtschaftskrise auf Zuwendungen aus dem föderalen Budget hofft – gehen nicht mehr als ein paar Hundert bis höchsten ein paar Tausend Menschen auf die Strasse.

Wie der Kreml die innenpolitische Krise in Russland lösen will, ist bisher unklar. In einer «gelenkten Demokratie» gleicht jedes Zurückweichen der Macht fast einer Staatskrise. Faktisch befindet sich Russland heute in einem politischen Ausnahmezustand, den der Kreml möglichst schnell überwinden muss. Denn mit den Strassenprotesten meldet eine «fünfte Partei» ihren Machtanspruch an. Sie ist die Partei des aufgeklärten Mittelstandes und nicht in der Duma, dem russischen Parlament, vertreten. Ihr müsste der Kreml Mitsprache zubilligen. Doch das passt nicht in Putins Konzept, Russland mit einer straffen und notfalls auch autoritären Führung durch die internationale Wirtschaftskrise zu steuern.



Die Polit-Technologen in der Präsidialverwaltung haben schon vor Jahren erkannt, dass die russische Mittelschicht eine politische Partei braucht. Aber immer dann, wenn es mit der Gründung ernst wurde, hat man ihre Führer kaltgestellt. Die mangelnde Entschlossenheit des Kreml zu politischen Reformen zahlt sich für Putin nun bitter aus.

veröffentlicht in: Südostschweiz

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