5. February 2012

„Putin, hau ab“

In Moskau gingen Zehntausende Gegner des russischen Regierungschefs auf die Straße. Sie wollen ehrliche Wahlen. Doch diesmal gab es auch eine Gegenkundgebung.

Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau

Die Demonstranten hüpften zu Rock-Musik im Schnee. Das Thermometer zeigte 20 Grad unter Null. Die Bärte der Männer waren vom Atem vereist. Doch die Stimmung war zuversichtlich. Nach Angaben der Veranstalter kamen über 120000 Menschen auf den Bolotnaja-Platz, der vom Kreml durch die Moskwa getrennt ist.

Es war schon das dritte Mal nach den umstrittenen Duma-Wahlen Anfang Dezember, dass die Protestbewegung „für ehrliche Wahlen“ zu einer Großkundgebung aufgerufen hatte. Obwohl bisher keine der Forderungen, wie Neuwahl der Duma und der Rücktritt des Leiters der Zentralen Wahlkommission, durchgesetzt wurde, ist die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen, noch nicht erlahmt.

Wut auf die Korruption

In einem Gespräch erklärte eine etwa 50-jährige Demonstrantin, sie rechne nicht mit einer schnellen Durchsetzung der Forderungen. Sie gehe für ihre Kinder und Enkelkinder auf die Straße. Denen könne sie nicht zumuten, dass sich „politisch nichts bewegt“.

Die politische Elite geht nicht wirklich gegen die Korruption vor und habe selbst schon ihre Reichtümer ins Ausland gebracht, so lautet der Hauptvorwurf der Protestbewegung. Die Korruption in Russland sitzt den Menschen wie eine Geißel im Nacken. Trotz gesetzlicher Pflichtversicherung müssen viele Bürger vor der Behandlung m Krankenhaus Schmiergelder zahlen, ebenso wie Unternehmer, die ein neues Geschäft eröffnen wollen.

Ausgelöst wurde die Protestbewegung Ende September, als Ministerpräsident Wladimir Putin und Präsident Dmitri Medwedjew ihren „kalten“ Ämtertausch verkündeten. Vor allem die gut ausgebildeten Russen standen nach der Ankündigung wie unter Schock. Denn unter Putin erwarten sie ein Fortbestehen der „gelenkten Demokratie“ und einen weiteren Niedergang Russlands zum Rohstofflieferanten.

Das Moskauer Meinungsforschungsinstitut „Lewada“ hatte bei einer Befragung der Teilnehmer einer Protestkundgebung Ende Dezember herausgefunden, dass ein Viertel der Demonstranten Unternehmer sind. 46 Prozent haben eine höhere Ausbildung. 16 Prozent waren Büroangestellte und Arbeiter. 69 Prozent bezeichneten sich als Demokraten und Liberale. 25 Prozent als Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten und sechs Prozent als Nationalisten.

Doch die politischen Differenzen stellt man in der Protestbewegung zunächst zurück. Erst mal organisieren wir ehrliche Wahlen, dann sehen wir weiter, so lautet die stillschweigende Vereinbarung. Jede beteiligte politische Strömung hofft, dass sie bei „ehrlichen Wahlen“ gewinnt.

Das erste Mal seit den umstrittenen Duma-Wahlen vom Dezember sammelten sich am Sonnabend in Moskau auch Zehntausende Putin-Anhänger zu einer „Anti-Orange“-Kundgebung. Nach offiziellen Angaben nahmen an dieser pro-Putin-Kundgebung 138000 Menschen teil. Mit dem Motto der Kundgebung spielte man auf die orangene Revolution in der Ukraine und die chaotischen 1990er Jahre in Russland an, die nicht die versprochenen sozialen Verbesserungen brachten. Das Hauptmotto der Kundgebung lautete denn auch: „Wir haben etwas zu verlieren“. Die Demonstranten trugen Transparente mit Aufschriften wie „Putin, wir sind mit Dir“ und „Ehrliche Wahlen, ja. Orangene, nein“.

Vom Ausland gesteuert?

Die Pro-Putin-Kundgebung fand nicht zufällig auf dem Verneigungshügel statt, wo sich ein Gedenkkomplex zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg befindet. Der Regisseur Sergej Kurkinjan rief den Versammelten zu, „wir helfen Russland, aber nicht mithilfe der amerikanischen Botschaft“. Der Vorwurf, die Protestbewegung werde aus den USA gesteuert, hörte man am Sonnabend auch im russischen Fernsehen. Dort erklärte ein Sprecher des russischen Ermittlungskomitees, bei 100 geprüften Videos über angebliche Wahlfälschungen habe man „Elemente von Montage“ festgestellt. Außerdem befänden sich diese Videos alle auf einem Server in Kalifornien.

Dass sie von außen gesteuert sind, wollten die Demonstranten auf dem Bolotnaja-Platz nicht auf sich sitzen lassen. Als der Rock-Musiker Juri Schewtschuk sein Lied „Heimat“ anstimmt – es entstand während der Perestroika-Zeit Ende der 1980er-Jahre –, singen alle mit. Die Heimat, so heißt es im Text, sei eine Missgeburt. „Aber wir mögen sie.“

veröffentlicht in: Sächsische Zeitung

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