Putins Gegner formieren sich über das Internet
60.000 Menschen demonstrierten in Moskau. Die Redner wurden auf Facebook gewählt. Den meisten Beifall bekam ein Blogger.
Moskau. In Russland wächst etwas Neues. Die Pflanze, die da wächst, sieht auf den ersten Blick sympathisch aus, bunt mit Humor und gewaltlos: Auf dem Sacharow-Prospekt in Moskau versammelten sich am Samstag 60.000 Menschen - noch einmal um die Hälfte mehr als zwei Wochen zuvor auf dem Bolotnaja Ploschad.
Trotz eisiger Temperatur herrschte Volksfeststimmung. Ganze Freundeskreise und Familien waren geschlossen angerückt, ausgerüstet mit Thermoskannen, selbstgemalten Plakaten und langen Unterhosen.
Die neue Protestbewegung hat keine einheitliche Führungsfigur und kein Programm. Liberale, Anarchisten, Neue Linke, Kommunisten und Rechtsradikale und viele politisch nicht Festgelegte, alle demonstrierten am Sonnabend friedlich vereint für ihr Ziel, Neuwahlen durchzusetzen und Putins Wiederwahl zum Präsidenten zu verhindern. Die gemeinsame Plattform ist das Internet.
So war es auch kein Zufall, dass der Schriftsteller Boris Akunin die Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt eröffnete: Akunin war zuvor bei einer Facebook-Abstimmung als Top-Redner ausgewählt worden. Während Kulturschaffende und Journalisten dabei auf den vorderen Plätzen landeten, erging es den altbekannten Politikern der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition schlecht. Sie landeten auf den hinteren Plätzen. Durch die offene Abstimmung im Internet schafften es jedoch auch drei stadtbekannte Führer der Rechtsradikalen auf die Rednertribüne, für sie gab es vor Ort aber „Abtreten“-Sprechchöre.
Den den meisten Beifall bekam der Blogger Aleksej Nawalny. Der hatte sich mit seinen Enthüllungen über die Korruption beim staatlichen Pipeline-Konzern Transneft einen Namen gemacht. Inzwischen genießt er einen Kult-Status, der durch die gerade abgesessene 15-tätige Haftstrafe wegen „Widerstandes gegen die Staatsgewalt“ noch verstärkt wurde. Auf der Kundgebung trat Nawalny denn auch auf wie ein Volkstribun. Immer wieder überschlug sich die Stimme des neuen Helden, als er rief, „die Macht, das sind wir!“ Er wolle auf dieser Kundgebung nicht die hören, „welche an die Macht appellieren“, rief Nawalny kategorisch und traf damit offenbar den Nerv der Versammelten, die eine von Medwedew angekündigte Wahlrechtsreform für ein reines Ausweichmanöver halten.
„Es sind genug Leute da. Wir können den Kreml jetzt einnehmen“, rief Nawalny, wollte dann aber dann doch noch nicht losziehen. Wenn aber die Macht aber „weiter betrügt“, dann werde man eine Millionen Menschen auf die Straße bringen „und dann nehmen wir uns die Macht“.
veröffentlicht in: Mittelbayrische Zeitung