Russischer Zangengriff auf die erträgliche Art
Post aus Moskau
Man empfing mich in einem blütenweißen Behandlungszimmer. Arzt und Assistentin hatten sich von oben bis unten eingehüllt, hellblaue Arztkittel bis zum Knie, das Kopfhaar unter Hauben versteckt, Latex-Handschuhe und Mundschutz. So viel Schutz vor Bakterien hatte ich selbst in Deutschland noch nicht erlebt.
Ich lag auf dem Behandlungsstuhl vergleichsweise unverhüllt. Nur meine Straßenschuhe steckten in hellblauen Einweg-Überziehern. Auf dem Programm stand das Ziehen eines Backenzahns. Ein Journalisten-Kollege aus Holland hatte mir eine Zahnarztpraxis im Stadtzentrum empfohlen, die auch von gut verdienenden Russen frequentiert wird. Die Preise in dieser Praxis liegen leicht über deutschem Niveau, aber bei den Zähnen möchte man ja keine Scherereien haben.
Der Nerv des betreffenden Backenzahns war schon vor Jahren gezogen worden. Nun hatte aber der Röntgenarzt in der etwas teureren Moskauer Zahnarztpraxis schwarze Ränder um den Zahn geortet und eine schlummernde Entzündung diagnostiziert. Etwas später kam ich dann also zum Zahnziehen. Der Chirurg, ein stämmiger Russe mit kräftigen Armen, inspizierte noch einmal das verdächtige Objekt und stach dann mit der Betäubungsspritze mehrmals beherzt ins Zahnfleisch.
Während wir auf die Wirkung warteten, kamen wir ins Gespräch. In Moskau gab es gerade Jugend-Krawalle wegen der vielen Zuwanderer aus dem Kaukasus, und so sprachen wir über Einwanderungs-beschränkungen für Gastarbeiter. Mein russischer Chirurg erklärte freudig, nun hätte ja wohl auch die deutsche Politik begriffen, dass es zu viele Türken im Land gibt.
Bei diesen harten Worten musste ich schlucken. Sollte ich diesen politischen Grobian an mein zartes Gebiss lassen? Ich versuchte es mit ein paar Gegenargumenten und erzählte von Türken, die es in Deutschland in hohe Positionen geschafft haben. Doch ich merkte schnell, dass meine Worte an dem Mann vorbeirauschten.
Während mir noch Gegenargumente durch den Kopf schwirrten, wurde ich plötzlich von beiden Seiten in die Zange genommen. Von rechts fühlte ich den mächtigen Oberkörper des Arztes, der sich schnaufend an meinem Backenzahn rechts oben zu schaffen machte, und auf der linken Seite spürte ich die angenehme Wärme der Assistentin, die sich dicht an mich schmiegte und dabei den Absaugschlauch hielt.
Verwirrt über diesen russischen Zangenangriff hätte ich fast nicht bemerkt, dass der Zahn schon draußen war. Mit vielen Dankesworten verließ ich das Behandlungszimmer. In weiteren sage und schreibe drei Sitzungen wurde mir dann später eine neue Zahnkrone eingesetzt. Nach deren Anfertigung wurde so lange probiert, geschliffen und poliert, bis ich endlich wieder einen normalen Biss hatte. Und in einer weiteren, letzten Sitzung ging dann mein russischer Chirurg mit den kräftigen Armen ans Werk. In atemberaubender Geschwindigkeit versenkte er ein Schweizer Implantat in meinem Zahnbett. Das Import-Produkt wuchs gut an und ich bedankte mich wortreich und wirklich aufrichtig.
Das Thema Gastarbeiter habe ich bei dem Zahnchirurgen jedoch nie wieder angeschnitten. Überhaupt war der sonst gar nicht so zurückhaltende Mann mir gegenüber einigermaßen wortkarg geworden. Vielleicht schwante ihm schon, dass ich mich über seine Leistungen in einer ausländischen Zeitung auslassen könnte.
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung