Protestaktionen in 84 Städten
In 84 Städten Russlands fanden am Sonntag nach Angaben des Wirtschaftsportals RBK sogenannte "Wahlstreik"-Kundgebungen (Foto-Galerie der Kundgebungen) statt, zu denen der Oppositionspolitiker Aleksej Navalny aufgerufen hatte. Anlass der Protestaktion war, dass die Zentrale Wahlkommission Navalny nicht zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen hatte. Navalny war nicht zugelassen worden, weil er wegen einem Korruptionsfall bei der Holzfabrik Kirowles vorbestraft ist.
Die Kundgebungen waren in allen Städten - außer in Moskau und St. Petersburg - erlaubt worden. In Moskau und St. Petersburg beteiligten sich nach Polizeiangaben jeweils etwa tausend Menschen an den nicht genehmigten Kundgebungen, die aber von der Polizei nicht aufgelöst wurden. Nach Angaben des Navalny-Stabes nahmen an der Kundgebung in Moskau 5.000 Personen teil.
An einer Kundgebung in Jekaterinburg beteiligten sich nach Mitteilung des RBK-Wirtschaftsportals weniger als tausend Personen, obwohl sogar der Bürgermeister der Stadt, Jewgeni Roisman, an der Aktion teilnahm. In Nowosibirsk wurden 600 Teilnehmer gezählt und in Nischni-Nowgorod 550.
Das RBK-Wirtschaftsportal wies darauf hin, dass die Teilnehmerzahl bei der Kundgebungen am Sonntag in Moskau deutlich unter der Teilnehmerzahl der Moskauer Navalny-Kundgebungen im letzten Jahr lag. Im Juni 2017 waren 5.000 Menschen einem Aufruf des Oppositionspolitikers gefolgt, im März 2017 waren es sogar 7.000 Teilnehmer gewesen.
Mit dem Schleifschneider auf dem Weg ins Studio
Die Taktik der Moskauer Polizei sah am Sonntag so aus: die Jugendlichen auf dem Puschkin-Platz in Ruhe zu lassen, die Anführer aber aus dem Verkehr zu ziehen. Am Sonntagvormittag, die Protestaktion in Moskau hatte noch nicht begonnen, brachen Polizisten in einem Business-Center in Moskau zwei Türen auf. Ihr Ziel: Das Studio indem die Nachrichten-Sprecher des Navalny-Internet-Kanals live über die Protestaktionen im ganzen Land berichteten. Während die Schleifschneider ziemlichen Krach machten, berichteten die "Nachrichtensprecher" mit einem sarkastischen Unterton (Video) weiter über die Aktionen im ganzen Land.
Die Polizei begründete ihr Vorgehen damit, dass es eine Bombenwarnung gab. Vier Mitarbeiter des Navalny-Stabes wurden verhaftet. Navalny selbst wurde auf dem Weg zur Protestaktion in Moskau verhaftet. Kurz nachdem er die U-Bahn verlassen und gerufen hatte "Betrüger und Räuber!" (Video) wurde er ziemlich grob von Polizisten festgenommen (Video) und in einen Gefangenentransporter geschleppt. Das war aber auch die einzige brutale Szene an diesem Protesttag.
Gegen Navalny, der auch im Rahmen früherer Kundgebungen verhaftet worden war, läuft jetzt ein Strafverfahren wegen der Verletzung eines Gesetzes für die Genehmigung von Kundgebungen. Ihm drohen 30 Tage Haft.
Die Fernsehjournalistin Ksenia Sobtschak fuhr gegen Ende der Moskauer Kundgebung zur Polizeistation Jakimanko, wo man Navalny festgesetzt hatte. Sie rief ihre Anhänger auf, alle bei der Kundgebung verhafteten Personen zu unterstützen. In Moskau waren nach Angaben des oppositionellen OWD-Infos 16 Personen verhaftet worden. Landesweit lag die Zahl der Verhaftungen nach Angaben des OWD-Infos bei 257 Menschen.
Wie das RBK-Internetportal mitteilt, lag die Zahl der Verhafteten am Sonntag deutlich unter den Verhaftungszahlen im letzten Jahr. Am 26. März und 12. Juni 2017 waren allein in Moskau 900 beziehungsweise 800 Personen verhaftet worden.
"Wowa, wir werden Dich mit den Zähnen beißen"
Auf dem Puschkin-Platz waren Hunderte von Handys und Fernsehkameras im Einsatz. Ab und zu kamen Sprechchöre auf "Rossija bes Putina!" ("Russland ohne Putin"). Ein junger Mann in schwarzem Anorak - nicht älter als 23 Jahre - imitiert einen Anti-Putin-Gesangder Maidan-Demonstranten in Kiew. "Lalalalalal lala". Die Stimme des jungen Mannes wird immer lauter und schriller. Die Umstehenden grinsen verständnisvoll. "Wowa (Putin, U.H.) Dass Du Navalny nicht zu den Wahlen zugelassen hast, ist eine Herausforderung. Putin ergebe Dich! Wowa, Wowotschka, wir werden dich mit den Zähnen beißen." Als einer der Erwachsenen meinen entsetzten Blick sieht, sagt er: "Das ist ein Provokateur. Den habe ich bei uns noch nie gesehen."
Bei der Moskauer Kundgebung war auffällig die große Zahl von Jugendlichen. Ein Viertel der Teilnehmer - so die Einschätzung des Autoren - waren Schüler im Alter von 14 bis 17 Jahren.
Der Elftklässler Wanja meinte im Gespräch: "Als ich geboren wurde, war Putin an der Macht. Jetzt ist er immer noch an der Macht. Und im Land hat sich nichts verändert. Putin - sagen wir es so - erfüllt seine Aufgaben nicht im besten Sinne. Es ist eine Tatsache, dass er raubt. Er raubt Geld aus dem Haushalt. Das Lebensniveau in Russland sinkt." Angesichts der reichen Rohstoffvorkommen könne das Leben der Menschen in Russland besser sein. "Alles Geld landet in den Taschen der Beamten." Was er von den Linken halte, von der KPRF? "Die verstehen die Leute nicht. Die haben eine schlechte Reklame. Navalny hat sehr einfache, verständliche Informationen."
Ob es bewiesen sei, dass Putin sich persönlich aus dem russischen Haushalt bedient? Navalny habe entsprechende Dokumente veröffentlicht, so der Schüler Ob er einen konkreten Fall der Bereicherung nennen könne? "Ich erinnere gerade keinen Fall." Was man in Russland vor allem ändern müsse? "Das Bildungssystem. Es ist zu formal."
In dem Getümmel auf dem Puschkin-Platz kam ich mit einem jungen Paar ins Gespräch. Beide sind 16 Jahre alt. Warum sie hier sind? "Weil Navalny der einzige ist, der die Wahrheit sagt über die Korruption im Land", sagt das junge Mädchen. Ob es nicht besser wäre, sich in einer der vielen sozialen oder ökologischen Initiativen im Land zu engagieren? Das junge Mädchen meint, Navalny verstehe es am besten den Protest anzuführen.
Ein Vierzehnjähriger meint, Russland brauche Reformen. Putin sei zu diesen Reformen nicht bereit. Die Menschen seien arm. Beamte würden sich das Geld einstecken. Der Junge sagt, er studiere am privaten Hayek-Institut studiert und handele mit Bitcoins.
Viele der Anwesenden sind Intellektuelle oder Klein-Unternehmer. Eine junge Frau sagt, sie verdiene ihr Geld mit Übersetzungen. Natürlich müsse man etwas für die Armen in Russland tun, meint sie, aber "für die Armen arbeiten" wolle sie nicht. Ein progressives Steuersystem einzuführen - wie es der KPRF-Kandidat fordert - hält sie aber auch für falsch. Das Unternehmertum in Russland müsse sich so frei entwickeln wie in Singapur.
Extra mit der Vorortbahn angereist
Zwei Schüler aus einer Stadt südlich von Moskau sind extra mit der Vorortbahn angereist. Um dabei zu sein. Einer der beiden Jungen sagt, seine Mutter wisse nicht, dass er hier ist. Sie habe nichts gegen seine Teilnahme an der Demonstration, habe aber Angst, dass ihm etwas passiert.
Navalny sei doch neoliberal und habe nichts vor, um die Armen zu verbessern, sage ich. Die beiden wiedersprechen. Doch, Navalny habe ein Zwanzig-Punkte-Programm vorgelegt. Welches Ideal sie haben, welcher Schriftsteller oder Philosoph ihnen gefällt? "Edgar Snowden", meint der eine. Es war also richtig, dass er die geheimen Informationen veröffentlichte? "Ja, es war gut, dass er die Abhöraktionen aufgedeckt hat."
Navalnys Wahlprogramm: Neoliberal - aber volksnah verpackt
Die Unzufriedenheit über das geringe Wirtschaftswachstum von einem Prozent, die sinkenden Löhne, der große Teil der Menschen, die an der Armutsgrenze leben, all das hat Navalny versucht, in seinem Wahlprogramm aufzugreifen.
Der von der Zentralen Wahlkommission abgelehnte Kandidat verspricht, man könne die Wirtschaft mit Steuersenkungen und dem Abbau bürokratischer Barrieren für Unternehmer ankurbeln. Die Steuersenkungen für Unternehmen würden "eine Barriere für Lohnerhöhungen nehmen", verspricht der Oppositionspolitiker. Kleinunternehmen sollen von Steuerzahlungen komplett befreit werden und stattdessen nur für ein Patent bezahlen müssen. Monopole (gemeint sind offenbar große halbstaatliche Firmen wie Gasprom, Rosneft und die russische Eisenbahn) sollen zerschlagen werden. Die Rentenversicherung soll komplett umorganisiert werden. Die großen staatlichen Rohstoffkonzerne sollen größere Finanzmittel für die Rentenversicherung bereitstellen, wodurch die Renten wesentlich erhöht werden könnten.
Ein weiterer Anreiz für die Wirtschaft werde sein, wenn man "mit der zivilisierten Welt Frieden schließt", behauptet der Oppositionspolitiker in seinem Programm. "Wir stellen die Aggression gegen die Ukraine ein und erreichen auf diesem Wege die Aufhebung der Sanktionen." So könnten die russischen Unternehmer wieder "mit dem Ausland handeln und billige Kredite aufnehmen".
Navalny schreibt in seinem Programm, die Staatsausgaben müssten vor allem in die Bereiche Gesundheit und Bildung fließen. Die Ausgaben für diese Bereiche müssten verdoppelt werden. Dass Geld hierfür könne man durch die Verkleinerung des Beamtenapparates und die Einstellung "nichteffektiver Großprojekte" bekommen. Mit "nichteffektiven Großprojekten" sind vermutlich große Sportveranstaltungen, die Brücke zur Krim und der neue russische Weltraumbahnhof Wostok gemeint, der den Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan ersetzen soll. Großprojekte sollten ausschließlich von Investoren "und nicht von den Steuerzahlern" finanziert werden.
Auch wenn die Teilnehmerzahlen bei den Navalny-Kundgebungen am Sonntag vergleichsweise gering waren, muss man wohl davon ausgehen, dass Navalnys Stern noch nicht am Sinken ist. Er wird hartnäckig um seinen Platz kämpfen, ähnlich wie Michail Saakaschwili, der wie Navalny eine Hochschulausbildung in den USA erhalten und ein fast identisches rechtes und neoliberales Programm hat. Man kann davon ausgehen, dass die russische Führung Sorge hegt, dass der "russische Saakaschwili" nicht wenige Anhänger in der Großstadtjugend hat. Wird sie diesen kritischen Jugendlichen ein Angebot machen?
veröffentlicht in Telepolis