Russland - Rückblick auf Jahrespressekonferenz: Putin stellt sich kritischen Fragen
Am gestrigen Donnerstag war es wieder soweit: Der russische Präsident Wladimir Putin beantwortete auf der Jahrespressekonferenz für in- und ausländische Journalisten souverän alle Fragen - darunter auch äußerst kritische.
Die große Pressekonferenz, die der russische Präsident einmal im Jahr für in- und ausländische Journalisten abhält, war diesmal geprägt von großer Offenheit, aber auch Besorgnis. Über die Angst vor einem großen Krieg wurde in dem Veranstaltungssaal des Moskauer Internationalen Handelszentrums nicht viel gesprochen. Aber man spürte, dass eben diese Frage alle beschäftigte.
Die von manchen geäußerte Befürchtung, die Regierung werde angesichts der feindlichen Haltung westlicher Staaten die Diskussionsfreiheit im Land einschränken, bestätigte sich nicht.
Vor allem Fragen zum Alltag der Russen wurden gestellt. Dabei wurden auch sehr kritische Fragen angesprochen, wie die russischen Protestwähler, die wachsende Kluft zwischen Geringverdienern und den Superreichen, Betrügereien von Firmen, die bereits von Privatkunden finanzierte Wohnungen nicht fertigstellen und eine "Pleite" anmelden, Folter in russischen Gefängnissen, die Tätigkeit von privaten russischen Sicherheitsfirmen im Ausland und die Kommerzialisierung des Fernsehens, was zur Verrohung führen könne.
Die Veranstaltung hatte auch ihre komischen Seiten. Viele der 1.700 akkreditierten Journalisten versuchten auf jede erdenkliche Art, auf sich aufmerksam zu machen, mit Landesflaggen oder mit Schildern und aufgemalten Schlagwörtern wie "Tataren Kasan", "Ethno-Welt" und "Sport".
Wie stark ist das Gefühl des Selbsterhalts?
Ein Journalist fragte Putin, ob er seinen kleinen Sohn beruhigen könne, der, wie er selbst, "Angst vor einem Atomkrieg" habe. Beruhigen konnte Putin den Fragenden nicht. Ein Atomkrieg könne "zum Tod unserer Zivilisation, vielleicht des ganzen Planeten" führen. Diese Gefahr bestehe "und sie wächst sogar", erklärte der Präsident.
Bezeichnend für die wachsende Gefahr sei die Nichtbeachtung der Verträge zur Rüstungsbegrenzung. Diese Nichtbeachtung begann mit dem Ausstieg der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr im Jahr 2001. Nach diesem Schritt sei Russland gezwungen gewesen, "ein neues Waffensystem zur Überwindung der Raketenabwehr zu entwickeln", sagte Putin.
Nun gebe es den Vorwurf, dass Russland einen Vorsprung erreicht hat. "Ja, das ist wahr", so der Präsident. Die von Russland entwickelten Waffensysteme gebe es bisher in keinem anderen Land. "In diesem Sinne gibt es einen bestimmten Vorsprung. Aber insgesamt, bei der strategischen Balance, ist das einfach ein Element der Abwehr und der Wiederherstellung der Parität."
Es sei noch gar nicht abzusehen, was passiert, wenn die USA jetzt aus dem Vertrag über Kurz- und Mittelstreckenraketen aussteigen und solche Raketen in Europa auftauchen. "Natürlich müssen wir unsere Sicherheit mit bestimmten Schritten sicherstellen". Man werde aber wiederum nur die Parität herstellen. Eine militärische Überlegenheit strebe Russland nicht an.
Als drittes gefährliches Moment erwähnte Putin das Auslaufen des New-Start-Vertrages von 2010 im Jahr 2021.
Die Missachtung oder Geringschätzung der Rüstungskontrollverträge sei "für die Menschheit sehr schlecht, weil uns das an eine sehr gefährliche Grenze bringt", so der Präsident.
Und doch hat der russische Präsident eine Hoffnung: "Ich gehe davon aus, dass die Menschheit genug gesunden Verstand und das Gefühl für den Selbsterhalt hat, damit es nicht zum Äußersten kommt."
Hoffen auf ein Treffen mit Trump
Trotz aller Kritik an den USA und den NATO-Staaten war Putin um eine auffallend diplomatische Sprache bemüht. Das schärfste Wort, welches der russische Präsident gebrauchte, war "Russophobie". Das Wort "Faschismus" – etwa in Zusammenhang mit der Regierung in Kiew – fiel nicht.
Putin äußerte auch keine Häme über den Zustand Europas. Er mahnte jedoch Demokratie an. Wenn die Briten für den Brexit gestimmt haben, dann könne man diese Abstimmung jetzt nicht einfach ignorieren und womöglich nochmal abstimmen lassen.
Natürlich sei er sehr interessiert an einem Treffen mit Trump, erklärte Putin. Mit Theresa May habe er immerhin in den Wandelgängen am Rande einer Konferenz sprechen können. Die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien seien zwar an einem Nullpunkt angelangt, aber man müsse sie wieder in Gang bringen. Ein Friedensvertrag mit Japan, über den immer wieder geredet wird, sei wichtig. Aber man könne die Frage der amerikanischen Basen in Japan – insbesondere erwähnte Putin den geplanten Ausbau der US-Militärbasis auf der Insel Okinawa – bei den Gesprächen nicht ausklammern.
Deutschland wurde nur einmal erwähnt
Die deutsche Bundesregierung wurde vom russischen Präsidenten kein einziges Mal erwähnt. Das lag zum einen daran, dass deutsche Korrespondenten entweder die Jahrespressekonferenz von Putin nicht besuchten oder sich nicht aktiv zu Wort meldeten. Zum anderen wird die Bundesregierung von Putin immer noch geschont.
Nur einmal erwähnte Putin Deutschland, und zwar als er die drei größten ausländischen Direkt-Investoren in Russland bekannt gab. Deutschland stehe bei den Direkt-Investitionen in Russland auf Platz zwei. Großbritannien stehe mit 22 Milliarden Dollar auf dem ersten Platz. Aus Großbritannien komme vermutlich viel Kapital von russischen Unternehmern, denen man an der Themse das Leben schwer mache. Auf Platz drei der Direktinvestoren stehe Singapur.
Putin will Wirtschaft in eine "neue Liga" bringen
Die Pressekonferenz vermittelte den Eindruck, dass die russische Gesellschaft lebendig ist und nicht angstvoll auf einen Krieg wartet. Es gibt zahlreiche Alltags-Fragen, welche die Menschen beschäftigen. So zum Beispiel die Müllverarbeitung. Putin erklärte, dass man sich um dieses Thema zu Sowjetzeiten nicht gekümmert habe, sich jetzt aber die westlichen Erfahrungen der Müllverwertung zu Nutze machen wolle. Dabei dürfe man nicht an guten und auch teuren Filtern für die Verbrennungsanlagen sparen. In Tokio stehe eine Verbrennungsanlage mitten in der Stadt.
Gleich zu Beginn der Veranstaltung teilte der Präsident die wichtigsten Kennziffern zur wirtschaftlichen Lage in Russland mit. Das Wirtschaftswachstum für die ersten zehn Monate dieses Jahres bezifferte er auf 1,7 Prozent. Einzelne Wirtschaftssektoren hätten aber wesentlich bessere Ergebnisse. Bei der verarbeitenden Industrie gab es in diesem Jahr ein Wachstum von 3,2 Prozent. Die Einkommen der Bevölkerung seien um 0,5 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosigkeit sei auf 4,8 Prozent gesunken. Der Haushalt befinde sich mit 2,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Profizit. Davon können einige Länder in der EU nur Träumen, meint der Autor dieser Zeilen.
Doch mehrmals kamen von den versammelten Journalisten kritische Fragen zur offiziellen Statistik. Viele Menschen hätten den Eindruck, dass die persönliche Lebenslage in einem Missverhältnis zu den offiziellen Statistiken stünde. Der Präsident wandte ein, dass Statistiken immer nur Mittelwerte angeben.
Nostalgie-Gefühle zur Sowjetzeit
Ein Journalist fragte den Präsidenten, wie er die Nostalgie-Gefühle in der Bevölkerung zur Sowjetunion beurteile, wo es nach weit verbreiteter Meinung sozial gerechter zuging. Dort sei es nach weit verbreiteter Meinung sozial gerechter zugegangen. Putin antwortete, soziale Ausgaben müsse man auch bezahlen können. Weil in der Sowjetunion nicht richtig gewirtschaftet wurde, sei ein ganzer Staat zerfallen. Im Übrigen versuche die russische Regierung mit zahlreichen sozialen Maßnahmen, Armut zu verhindern.
Als dann der Korrespondent der Komsomolskaja Prawda noch einmal nachhakte und fragte, was der Präsident gegen den stärker werdenden Abstand zwischen Milliardären und Geringverdienern zu tun gedenke, wich Putin aus. Er erklärte, dieses Auseinanderklaffen sei eine weltweite Tendenz und besonders seien davon die USA betroffen.
Ob er mit der Regierung unter Dmitri Medwedew einverstanden sei, wurde der Präsident von einem anderen Journalisten gefragt. "Insgesamt ja", lautete die knappe Antwort.
Die Regierung wird von nicht wenigen russischen Wirtschaftsexperten wegen investitionshemmenden hohen Leitzinsen und nicht ausreichender Unterstützung der heimischen produzierenden Wirtschaft kritisiert.
Wladimir Putin bestritt, dass das schwache Wirtschaftswachstum vor allem hausgemachte Gründe hat. Die größten Einbrüche beim russischen Wirtschaftswachstum habe es durch die Weltwirtschaftskrise 2009 und den Ölpreisverfall 2014 gegeben. Beide Krisen seien nicht durch Russland verursacht worden.
Der Präsident verteidigte die sogenannten "nationalen Projekte", mit denen gezielt einzelne Bereiche der Infrastruktur und Wirtschaft gefördert werden sollen. Mit diesen Projekten wolle man die Abhängigkeit vom Öl- und Gasexport mindern. "Wir müssen in eine andere Wirtschafts-Liga kommen. Es geht um die Verbesserung der Qualität."
Kriminalität und Machtmissbrauch
Erstaunlich war, dass auf der diesjährigen Pressekonferenz eine Reihe von äußerst schwierigen Themen zur Sprache kam, von denen man gewöhnlich nur in Kreml-kritischen Medien liest. Eine Journalistin aus St. Petersburg, welche, wie zehntausende andere Russen auch, einer Baufirma Geld für den Bau einer Wohnung zahlte, dann aber keine Wohnung erhielt, weil die Firma auf mysteriöse Weise pleite ging, erklärte, sie sei bei der Aufklärung des betrügerischen Falles von Beamten bedroht worden und ihr Mann sei sogar zu Tode gekommen. Putin fragte nach, ob sie meine, dass der Tod ihres Mannes mit der Aufklärung eines Betrugs zu tun habe? Die Journalistin bejahte die Frage. Darauf versprach der Präsident, er werde sich um diesen Fall kümmern.
Eine junge Journalistin berichtete von ungesetzlichen Zuständen in einigen russischen Gefängnissen. Es gebe Fälle von Folter der Häftlinge durch das Aufsichtspersonal. Außerdem komme es immer wieder vor, dass kriminelle Autoritäten im Gefängnis mit kostbaren Speisen – wie Kaviar – versorgt würden. Der Präsident erklärte, Folter sei auf keinen Fall zulässig. Solche Vorfälle müssten von der Generalstaatsanwaltschaft aufgeklärt und bestraft werden. Die Medien spielten bei der Aufdeckung derartiger Vorfälle eine wichtige Rolle.
Es wäre aber auch nicht richtig, das gesamte System des Strafvollzugs umzumodeln, so der Präsident. Man müsse das System in den Gefängnissen verbessern. Außerdem sei er völlig mit der Forderung einverstanden, dass man die öffentliche Kontrolle über die Gefängnisse erhöhe.
Ulrich Heyden
veröffentlicht von RT deutsch