16. July 2010

Russland schweigt Aids-Katastrophe tot

Russland. Im Kampf gegen Aids orientiert sich Moskau an den Fundamentalreligiösen in den USA. Statt „Safer Sex“ propagiert man nämlich lieber „Treue und Enthaltsamkeit“.

ULRICH HEYDEN MOSKAU (SN). Aids ist in der russischen Öffentlichkeit kein Thema. Das Problem scheint es gar nicht zu geben. Die Zeitungen berichten so gut wie gar nicht darüber. Pro Schuljahr widmen die Lehrer dem Problem eine einzige Unterrichtsstunde. Dabei hat Russland zusammen mit der Ukraine und den Staaten Zentralasiens die weltweit höchsten Aids-Raten.

Nach Angaben von Denis Brun, dem Osteuropa-Beauftragten des UNO-Hilfsprogramms für Aids-Infizierte in Osteuropa (UNAIDS), geht die Sterblichkeit bei der Aids-Erkrankung weltweit zurück. Doch in Russland nimmt die Zahl der Erkrankungen und Sterbefälle zu. So gab es im vorigen Jahr 58.000 neue Aids-Infektionen und 14.000 Todesfälle. Im Mai waren laut Vadim Pokrowski, dem Leiter des föderalen Zentrums zum Kampf gegen Aids, in Russland 544.151 Menschen mit der Immunschwäche Aids registriert. Die Zahl der Toten steigt kontinuierlich: Während 2007 11.159 Menschen gestorben waren, kamen 2009 bereits 13.990 um.

Angesichts der Steigerungsraten ist erstaunlich, dass die russische Regierung 2010 keine neuen Mittel zur breiten Aufklärung der Bevölkerung bereitgestellt hat. Die Aufrufe zur Eindämmung der Aids-Epidemie gebe es schon seit Jahren, doch eine langfristige Strategie der Regierung sei bisher nicht erkennbar, sagt Pokrowski. Der Grund: Die konservativen Kreise in der russisch-orthodoxen Kirche und der Politik fürchten einen weiteren Bevölkerungsrückgang in Russland und kämpfen deshalb gegen die von westlichen Hilfsorganisationen initiierte Safer-Sex-Aufklärung. Präservative – so behaupten die Konservativen in der russisch-orthodoxen Kirche – seien kein Schutz gegen das Virus; der Gummiteil sei porös.

Das Aids-Prävention-Programm des Moskauer Stadtparlaments heißt „Treue und Enthaltsamkeit“. Man empfiehlt der Jugend, auf Sex so lang zu verzichten, bis man den richtigen Partner fürs Leben gefunden hat. Das Programm orientiert sich an dem berüchtigten „ABC“-Programm religiöser Fundamentalisten in den USA, welches von Präsident Barack Obama gestoppt wurde. Die Stadtregierung will nur mit Aids-Beratungsgruppen zusammenarbeiten, die sich an der Linie „Treue und Enthaltsamkeit“ orientieren und nicht „asozialen Lebenswandel“ unterstützen. Der Wissenstand über Aids in der Bevölkerung ist folglich nach wie vor extrem niedrig. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM kennen nur 45 Prozent der Befragten einen Unterschied zwischen den verschiedenen Krankheitsstadien Aids und HIV positiv. Mittel zur Prophylaxe – wie die in einigen europäischen Ländern praktizierte Ausgabe der Ersatzdroge Methadon für Heroinabhängige – ist in Russland verboten. Experte Brun lobte das Programm der russischen Regierung zur Vorsorge bei den schwangeren Frauen, die alle auf Aids untersucht werden. Doch liege die Prävention in anderen Bereichen, sagt er, wie der Ausgabe von Spritzen an Drogenabhängige, total auf den Schultern von Nichtregierungsorganisationen, die aus dem westlichen Ausland finanziert werden.

Die Dunkelziffer der Aids-Infizierten in Russland liegt doppelt so hoch wie die Zahl der offiziell Registrierten. In einem Klima von Unwissenheit und Angst ist die Zahl derjenigen, die einen Aids-Test machen, sehr gering. Man fürchtet die gesellschaftliche Ausgrenzung und geht oft erst zum Arzt, wenn der Einsatz von Medikamenten schon keinen Erfolg mehr bringt.

"Salzburger Nachrichten"

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