11. November 2021

Putin will nicht auf Weißrussland einwirken (Krass und Konkret)

Nach Weißrussland halten sich 2000 Flüchtlinge an der Grenze auf. Sie würden medizinisch und mit Lebensmitteln versorgt. Bild: Belta.by
Foto: Nach Weißrussland halten sich 2000 Flüchtlinge an der Grenze auf. Sie würden medizinisch und mit Lebensmitteln versorgt. Bild: Belta.by

Ulrich Heyden im Gespräch über die aufgeheizte Situation an der weißrussisch-polnischen Grenze. Im Telefongespräch mit Merkel hat Putin gerade noch einmal herausgestrichen, dass er nicht vermitteln will.

Die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. Thema war die Situation an der belarussisch-polnischen Grenze. Merkel, so teilte der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, mit, „unterstrich, dass die Instrumentalisierung von Migranten gegen die Europäische Union durch das belarussische Regime unmenschlich und vollkommen inakzeptabel sei und bat den russischen Präsidenten, auf das Regime in Minsk einzuwirken“. Nach Seibert habe Putin einen „gewissen Einfluss auf das weißrussische Regime“. Nach den Wahlen habe Merkel angeblich versucht, mit Lukaschenko Kontakt aufzunehmen, was dieser aber verweigert habe.

Die Bitte ist offenbar auf Abweisung gestoßen. Die Mitteilung vom Kreml über das Telefonat ist ähnlich knapp und stimmt nur darüber ein, dass das Thema die Flüchtlinge und Belarus waren. Der Anruf sei von deutscher Seite aus gewünscht worden: „Die Parteien erörterten ausführlich die Flüchtlingskrise an der belarussischen Grenze zu den EU-Ländern und äußerten sich besorgt über die humanitären Folgen.“ Putin machte klar, dass er nicht vermitteln wird, sondern forderte die EU auf, direkt mit Lukaschenko zu sprechen: „Der russische Präsident schlug vor, einen direkten Dialog zwischen Vertretern der EU-Mitgliedstaaten und Minsk aufzunehmen, um die in diesem Zusammenhang aufgetretenen Probleme zu erörtern.“

In Belarus sind Tausende von Flüchtlingen an die polnische Grenze gekommen und versuchen nach Europa zu gelangen. Die Polen haben Militär an die Grenze geschickt und den Notstand ausgerufen, es wird ja auch ganz militärisch davon gesprochen, dass Belarus eine hybride Kriegsführung betreibt und Menschen als Waffen einsetzt. Wie schaut denn diese Situation von Russland und Moskau aus? In Europa ist man verärgert, es soll wieder neue Sanktionen geben. Und man fürchtet auch, dass es vielleicht zu Konflikten kommen könnte.

Ulrich Heyden: Russland distanziert sich nicht von Lukaschenko. Das ist vielleicht das wichtigste, was man sagen muss, denn die westlichen Staaten haben die Hoffnung, dass diese Flüchtlingsgeschichte nur mit Russland gelöst werden. Von Russland wird Handlung erwartet. Russland hat aber gerade den Vertrag unterschrieben, durch die Integration der beiden Staaten verstärken werden  soll.

Es gibt schon Kritik, aber dass Russland in dieser Situation sich von Lukaschenko ablösen soll, das ist absolut abwegig. Das fordern nur die liberalen Kräfte in Russland, die aber nicht nicht so viel zu sagen haben in sicherheitspolitischen Fragen.  Aber die mit Sicherheit befassten Spitzenbeamten, die sehen das Ganze aus der sicherheitspolitischen Perspektive und den massiven polnischen Aufmarsch von polnischen Soldaten. Es wird darüber diskutiert, ob das eine Gegenreaktion erforderlich macht, zum Beispiel, ob das Verteidigungsbündnis, zu dem Russland gehört, auch seine anderthalbtausend Mann starke Eingreiftruppe an die Grenze schicken soll, weil man ja nicht ausschließen kann, dass tatsächlich polnische Soldaten schießen und möglicherweise weißrussische Grenzschützer getroffen werden. Weißrussland ist ein Mitglied dieses Verteidigungsbündnisses, zu dem auch Kasachstan gehört.

Aber es sind keine russischen Soldaten an der Grenze?

Ulrich Heyden: Nein. Nach den Protesten in Weißrussland waren drei größere Einheiten von Fallschirmspringern in den Osten Weißrusslands verlegt worden. Das war ein demonstrativer Akt, dass Weißrussland nicht einfach mal platt gemacht werden kann. Es gibt jetzt zwei mögliche militärische Konfliktgebiete. Das eine ist der Donbass, wo Ende Oktober erstmals eine Kamfdrohne türkischer Bauart eine Haubitze der Separatisten beschossen hat. Das war eine Eskalation. Und jetzt Weißrussland, wo sich ein massives Militäraufgebot eines Nato-Staats an der Grenze zusammengezogen hat. Das müsste eigentlich  nach einem Abkommen zwischen Weißrussland und Polen vorher angekündigt werden, was aber nicht geschehen ist. Das schafft natürlich Konfliktstoff, Spekulationen und auch Angst.

Aber das ist ein Powerplay: Der Westen will nicht akzeptieren, dass möglicherweise Weißrussland und Russland sich zusammenschließen. Für viele Politiker im Westen ist das eine ungute Perspektive, also fordert man, dass Lukaschenko und Russland die Flüchtlinge von der Grenze weg halten sollen.

Ich habe den Eindruck, dass die Behauptung, dass Moskau und Minsk selbst die Flüchtlinge an die Grenze bringen, Quatsch ist. Aber man könnte sagen, sie tun wahrscheinlich nichts. Die Flüchtlinge maschieren ja zu Hunderten auf der Straße und es wird keine Polizei eingesetzt. Das heißt, Lukaschenko macht auch keine Prävention. Wahrscheinlich sagt er sich: Wenn ihr Sanktionen gegen mich verhängt und mich als den schlimmsten Diktator Europas bezeichnet, dann sehe ich keinen Grund, euch Flüchtlinge vom Leib zu halten.

Nach westlichen Berichten scheint es schon so zu sein, dass Weißrussland auch Büros in Istanbul oder in Beirut unterhält und die Flüge organisiert (Richtigstellung: Es sollen Konsulate beteiligt sein.) . Die werden natürlich dann teuer bezahlt und sie müssen dann auch in Minsk erst einmal ein paar Tage in Hotels wohnen, um die Papiere zu bekommen. Und dann werden sie möglicherweise auf die Straße geschickt, weil Belarus vermutlich auch kein großes Interesse hat, Tausende von Flüchtlingen aufzunehmen.

Ulrich Heyden: Berichte, dass Weißrussland selbst Büros unterhält, das höre ich jetzt zum ersten Mal. Ich habe nur von Schleusern gelesen, wie sie auch auf der Balkanroute aktiv gewesen waren.

Es ist die weißrussische Fluglinie, die viele Flüchtlinge ins Land bringt. Istanbul, also das Nato-Land Türkei, und Beirut scheinen eine Drehscheibe zu sein.

Ulrich Heyden: Eine weißrussische Fluglinie ist noch kein Beweis. Ein Iraker, der ein weißrussisches Flugzeug besteigt, muss noch nicht mal ein Flüchtling sein. Die Leute werden ja nicht nach den Gründen gefragt, warum sie nach Minsk reisen wollen. Ich weiß nicht, wie das mit den Visa ist. Weißrussland könnte da großzügig sein. Aber Großzügigkeit und selbst organisieren und anwerben, das ist, glaube ich, doch ein Unterschied.

Ich habe heute auf Tass gelesen, dass die EU wie mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal mit Weißrussland abschließen soll. Gegen Geld soll Belarus die Flüchtlinge zurückhalten.

Ulrich Heyden: Weißrussland ist wie Russland kein Land, das eine liberale Flüchtlingspolitik hat, also dass Hunderttausende in Lagern einquartiert werden.

Es geht nicht darum, dass in Minsk oder in Belarus Flüchtlingslager gebaut werden, sondern darum, dass die Flüchtlinge gar nicht nach Weißrussland und dann auch nicht an die europäische Grenze kommen können.

Ulrich Heyden: Das wäre vielleicht vorstellbar, aber ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl. Wie das in den Medien läuft, die Bilder, die gezeigt werden, der Ton, der angeschlagen wird, das ist hart. Dass mit Lukaschenko gesprochen wird, das wird gar nicht als Möglichkeit erwähnt. Es gibt nur die große Anklage gegen Lukaschenko. Ich bin kein Anhänger von ihm, aber dass von einem mit Sanktionen belangten Mann und einem Land etwas verlangt wird, das auch andere Länder nicht einhalten, ist bedenklich. Es gibt viele andere Länder, aus denen Flüchtlinge kommen. Die tun auch nichts dafür, um Flüchtlinge abzuhalten.

Russland hat nun wirklich kein Interesse an einer weiteren Zuspitzung mit der EU. Es ist unanständig, Russland Unmenschlichkeit vorzuwerfen. 2014, 2015 sind nach russischen offiziellen Angaben 2,3 Millionen Ukrainer in Russland aufgenommen worden. Nicht alle konnten da lange bleiben, aber sie waren mehrere Monate als Flüchtlinge oder Übersiedler da. Dass Russland Flüchtlinge nicht aufnimmt, ist eine Lüge. Es ist ja nicht das erste Mal, dass  Flüchtlinge an der Grenze stehen oder illegal nach Polen kommen.

Russland hat nicht drauf reagiert, auch vor dem Hintergrund, dass es noch nicht mal Regierungskonsultationen zwischen Russland und Deutschland gibt. Obwohl es Beschuldigungen gibt, dass der russische Geheimdienst in Berlin Leute umlegt, dass Botschafter ausgewiesen werden, dass bis heute nicht bewiesen ist, dass der russische Geheimdienst Skripal oder Nawalny bedroht hat. Die Russen wollen von Deutschland Dokumente, was im Blut und Urin von Nawalny war, was aber nicht mitgeteilt wurde. Es ist doch lächerlich, große Forderungen zu stellen, ohne selbst wirklich auch Zusammenarbeit zu demonstrieren. Ich bin kein Anhänger der russischen Politik, aber ich bin daran interessiert, dass es diplomatisch korrekt läuft und nicht mit mit unnötigen Zuspitzungen.

Nun habe ich den Eindruck, dass Polen daran interessiert ist, den Konflikt auch militärisch hochzuziehen, um auch von den Schwierigkeiten mit der EU abzulenken. Es findet jetzt eine Solidarität mit Polen statt – und das auch noch im Hinblick auf die Abwehr von Flüchtlingen, was Polen immer auch gegen die EU vertreten hat. Aber wie ist denn  die Lage in Belarus, man hört nichts mehr von der Opposition. Was tut sich da? Ist da alles ruhig?

Ulrich Heyden: Also da habe ich auch leider nicht genug Information. Es gibt äußerst harte Sicherheitsvorkehrungen, die Menschen werden kontrolliert bis dahin, was auf ihrem Handy läuft. Und es gibt zahlreiche Menschen, die im Gefängnis sitzen. Also das ist wirklich schlimm. Aber bei den Menschen, die in Deutschland für die weißrussische Freiheit auf die Straße gehen, habe ich auch kein gutes Gefühl. Es fällt auf, dass es, wenn zum Beispiel etwa in der Ukraine was passiert, wenn dort Oppositionelle bedroht und verfolgt oder Fernsehstation abgeschaltet werden, ein großes Schweigen in den deutschen Medien und keine Demonstrationen und Mahnwachen vor der ukrainischen Botschaft in Deutschland gibt. Aber wenn in Weißrussland etwas passiert, dann ist das ein großes Thema für alle Menschenrechtler.

Das kommt mir doch merkwürdig vor. Menschenrechte sind nun mal universal und dann erwarte ich eigentlich, dass man auch bei der Ukraine genauso scharf kritisiert, wenn zum Beispiel Anatoli Shari, dieser Blogger, bedroht wird von ukrainischen Rechtsradikalen vor seinem Haus, wenn gegen ihn und seine Partei Prozesse laufen und er von Auslieferung bedroht wird. ER sagt, er würde in der Ukraine nicht lange leben. In den deutschen Medien hört man leider überhaupt nichts über diesen Fall. Anatoli Shari ist ja nur einer von sehr vielen. Gerade ist erst wieder ein Abgeordneter der Werchowna Rada, der sich kritisch geäußert hat, auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen. Also alles sehr merkwürdig und naja,

Wir waren ja bei Belarus. Kann man sich nicht vorstellen, dass auch in Weißrussland die Führung des Landes Interesse daran hat, den Konflikt hoch zu kochen, um die Menschen durch Nationalismus hinter sich zu kriegen?

Ulrich Heyden: Für die Weißrussen ist dieser Konflikt mit sehr vielen negativen Konsequenzen verbunden. Die Menschen wollen auch reisen und die ganze Wirtschaft leidet extrem darunter. Es findet ja auch eine Verarmung statt, weil durch die die Sanktionen, die Rohstoffe und Fertigprodukte nicht mehr an den Westen verkauft werden können. Das wirkt sich auf das Leben der Leute aus. Ob man die Unzufriedenheit der Weißrussen mit dieser Flüchtlingsgeschichte besänftigen kann, bezweifle ich. Lukaschenko ist wirklich ein bisschen durchgedreht. Zuzutrauen ist ihm das schon.

Die Polen gehen schon ganz rabiat gegen die Flüchtlinge vor, aber Weißrusslands Behörden helfen oder unterstützen sie auch nicht. Weißt du etwas darüber?

Ulrich Heyden: Davon habe ich bisher nichts gehört. Das von Moskau aus zu beurteilen, ist schwer. Man müsste hinfahren, sich das vor Ort angucken und auch mit den weißrussischen Behörden und Flüchtlingen sprechen, die  in den Wäldern kampieren.

Es wurde auch berichtet, dass Flüchtlinge jetzt versuchen, mit der Hilfe von Schleusern über die ukrainische Grenze zu kommen. Die ukrainische Regierung hat erklärt, jetzt würde die Grenze verstärkt mit Drohnen und so weiter überwacht. Aber die Grenze ist riesig lang. Die Ukraine ist ein großes Land, aber auch sehr arm und die Beamten sind bestechlich. Da kann ich mir schon vorstellen, wenn jemand Geld hat, kann er mit einer kleinen Gruppe durch den Wald geführt werden.

In Weißrussland und Russland heißt es, dass trotz Truppenaufmarsch wohl nichts passieren wird. Aber wenn es zu Schießereien kommen und weißrussische Grenzer oder Soldaten getroffen würden, würde sich dann Russland militärisch hinter Weißrussland stellen?

Ulrich Heyden: Wenn es zu wirklichen Schießereien kommt, dann würde man erwarten, dass das Verteidigungsbündnis Russland, Weißrussland, Kasachstan und Armenien die 1500 Mann der gemeinsamen Einsatztruppe hinschicken, um zu demonstrieren, dass hier keine Provokation zugelassen wird. Und dann wird es kritisch. Ich hoffe, dass es soweit nicht kommt. Jetzt ist das vor allem ein Medienspektakel, vermutlich gibt es parallel dazu hinter den Kulissen Gespräche und Kontakte.

Vor kurzem gab es die Meldung, dass keine offiziellen Kontakte zwischen Russland und der NATO mehr existieren. Das ist beängstigend. Gerade jetzt an der Grenze wäre ein Fall, wo man ständig im Kontakt sein müsste, um Zufallsreaktionen zu verhindern, vor allen Dingen mit Polen, das historische Ansprüche an Weißrussland hat. Es gibt in Polen viele Organisationen, die sich nur damit beschäftigen, die weißrussische Freiheitsbewegung zu unterstützen. Polen sieht sich fast schon als Befreier Weißrusslands. Vor diesem ideologischen Hintergrund kann natürlich militärisch eher etwas passieren als mit einem Staat, der ganz klar sagt: Wir mischen uns nicht in die Angelegenheiten eines anderen Staates ein.

Sind denn die polnischen territorialen Ansprüche an Weißrussland aktuell?

Ulrich Heyden: Nicht offiziell, aber Polen wurde ja durch den Zweiten Weltkrieg nach Westen verschoben.  Deutschland hat an Polen Gebiete nach dem Potsdamer Abkommen abgegeben, dafür hat Polen Gebiete in Weißrussland verloren. Nationalisten in Polen könnten das ausnutzen.

Hat sich denn Putin eigentlich mal zu dem Flüchtlingsthema geäußert?

Ulrich Heyden: Ich habe bisher nichts von ihm gehört. Sein Pressesprecher Peskow, hat sich hinter Lukaschenko gestellt, ziemlich eindeutig. Er hat ihn gegen Vorwürfe der Europäischen Union verteidigt.

veröffenticht in: Krass und Konkret

 

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