18. August 2012

Russlands gespaltene Seele

Kaum hatte die Richterin Marina Syrowa das Strafmaß für die drei Frauen von Pussy Riot verkündet, schallte es laut „Schande!“ im Gerichtssaal. Ein Zuschauer hatte sich erdreistet.

Die Polizei schritt nicht ein. Die etwa 60 Zuschauer hatten wohl schon so etwas geahnt. Viele von ihnen standen aber trotzdem wie unter Schock. Die schlimmste Befürchtung wurde wahr: Die drei Frauen, von denen zwei kleine Kinder haben, müssen für zwei Jahre in ein Arbeitslager.

Anwalt Mark Fejgin machte ein betrübtes Gesicht und strich sich ratlos über seinen Bart. Ganz anders dagegen die Reaktion der drei Verurteilten. Als die Richterin die Strafen für Nadeschda Tolokonnikowa (22), Maria Aljochina (24) und Jekaterina Samuzewitsch (30) verkündete, ging ein Lächeln über die Gesichter der Frauen. Es schien, als ständen sie über diesem harten Urteil, so selbstsicher und unbeeindruckt guckten sie durch die Scheibe ihres Glaskäfigs. Sie wollen sich Kremlchef Putin nicht beugen. Einem Gnadengesuch an Putin erteilten die Künstlerinnen im Vorfeld eine Absage. „Machen Sie Witze? Natürlich nicht. Eher sollte er uns und Sie um Gnade bitten“, schrieb Tolokonnikowa der regierungskritischen Zeitung „Nowaja Gaseta“. Bereits vor der Urteilsverkündung hatten die drei Verteidiger der Punk-Aktivistinnen allerdings angekündigt, sie würden gegen das Urteil Berufung einlegen.

Als dann die Zuschauer den Saal verließen und sich eine Kette von Polizisten vor dem Glaskäfig aufbaute, scherzten die drei Frauen, lachten laut und winkten ihren Freunden und Verwandten zu. Als Nadja aus dem Saal geführt wurde, rief sei laut „Revolution!“

Die Verlesung des Urteils durch die Richterin Marina Syrowa dauert über zwei Stunden. Während der Verlesung mussten alle im Gerichts-Saal Anwesenden stehen. Die drei Frauen standen während der ganzen Urteilsverkündung in Handschellen. Ab und zu bellte ein Polizeihund.

Die Richterin erklärte, die drei Frauen würden wegen der Bildung einer „kriminellen Verschwörung“ verurteilt. Die „Verschwörung“ habe das Ziel gehabt, „die öffentliche Ordnung grob zu stören“. Die Frauen hätten mit ihrer Aktion ihre „Geringschätzung gegenüber der Gesellschaft“ ausgedrückt, mit ihrer Aktion einen „Anschlag auf die Bedeutung der russisch-orthodoxen Kirche“ verübt und ihren „Hass gegenüber religiösen Symbolen“ ausgedrückt. Sie hätten vor dem Altar „Arme und Beine gehoben“ und „Schmäh-Rufe“ ausgestoßen. Damit folgte die Richterin dem Eindruck des Kirchen-Personals, das sich während der Zeugen-Vernehmung über „teuflische Zappelei“ vor dem Altar beklagt hatte.

Die Künstlerinnen sahen sich schon vorab als „Gesandte des Teufels“, „Ausgeburten der Hölle“ und „Hexen“ in den Staatsmedien verurteilt.

„Das Herz wird mir schwer – keine Gnade“, twitterte im Gerichtssaal die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck. „Einem Putin stellt frau sich nicht ungestraft entgegen... Es läuft mir kalt den Rücken herunter.“ Beck fühlt sich wie viele an die grauen sowjetische Zeiten erinnert, als Dissidenten verfolgt wurden.

Der Staatsapparat zeigte auch vor dem Gerichtssaal seine Stärke. Das Gebäude war wie ein Hochsicherheitstrakt gesichert – aus Angst der Richterin vor den wütenden Demonstranten. Schon 100 Meter vor dem Chamowniki-Gericht standen Polizeisperren. Vor dem Gerichtssaal hatten sich seit den Morgenstunden Hunderte von Unterstützern, aber auch Gegner der drei Frauen versammelt. Als das Urteil verlesen wurde, war die Menge auf etwa 1000 Menschen, darunter viele Journalisten, angewachsen. Kosaken sangen und riefen: „Gott ist mit uns.“ In einer anderen Ecke sangen junge Frauen mit bunten Masken unverdrossen das Pussy-Riot-Lied.

Die Polizei forderte über Megafone, die öffentliche Ordnung nicht zu stören, ging dann aber zu Verhaftungen über. Aus der Gruppe der Protestierenden wurden 30 Personen, darunter die bekannten Oppositionsführer Sergej Udalzow und Garri Kasparow, festgenommen und in bereitstehende Polizei-Transporter gezerrt.

Das Spektakel, das mit der Verhaftung der Frauen im März dieses Jahres begann und nun mit der Urteilsverkündung sein Ende findet, hat wie kein anderes Gerichtsverfahren der letzten Jahre die russische Gesellschaft gespalten. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums sind jedoch 44 Prozent der Befragten mit dem vom Staatsanwalt geforderten Strafmaß von drei Jahren Arbeitslager einverstanden.

Der Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten, Wladimir Lukin, erklärte hingegen, wenn die Berufung des Urteils abgelehnt werde, werde er die Anfechtung des Urteils vor dem Obersten Gericht unterstützen. Lukin bewertete das Punk-Gebet in der Christi-Erlöser-Kirche als „Vergehen“, welches man mit einer Ordnungsstrafe hätte ahnden müssen. Ein Verbrechen sei die Aktion der drei Frauen aber nicht gewesen.

Der August gilt in Russland als Unglücksmonat mit schicksalsschweren Ereignissen. Im August 1991 gab es den Putsch der Gorbatschow-Gegner, im August 2000 sank das U-Boot Kursk mit 118 Mann an Bord. Keiner konnte gerettet werden. Im August 2010 versank Moskau durch Waldbrände tagelang in Rauch und Gestank. Und als gestern im Moskauer Chamowniki-Bezirksgericht die Richterin mit der Verlesung der Anklage begann, war den meisten Zuschauern im Gerichtssaal klar, dass auch der 17. August 2012 als ein trauriges Datum in die russische Geschichte eingehen wird.

veröffentlicht in: Südkurier

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