20. September 2011

Schulbildung in Russland wird offiziell zum Luxus

Die Zweiklassengesellschaft hält offiziell an russischen Schulen Einzug. Kostenlos ist ab Januar nur noch der Unterricht in wenigen Hauptfächern, Förderkurse und Spielgruppen müssen bezahlt werden.

Susanna Sonzewa ist aufgebracht. Auf einer Kundgebung „gegen die Kommerzialisierung der Ausbildung“ auf dem Moskauer Puschkin-Platz wetterte die Mutter eines Erstklässlers am Donnerstag vergangener Woche gegen die Tiefkühlkost, die es jetzt in der Schule ihres Kindes gibt.

Ihr siebenjähriger Sohn wolle diese Kost nicht essen, weshalb sie ihren Sprössling nach vier Unterrichtsstunden jetzt immer nach Hause holen muss.

Tiefkühlkost als Experiment

An der Mittelschule Nr. 211 im Sawjolowski-Bezirk im Norden von Moskau läuft jetzt ein Experiment zur Bewirtschaftung der Schulküche durch die private Firma Konkord. Dieses Experiment ist ein Vorläufer der geplanten effektiveren Bewirtschaftung der Schulen.
Doch das Experiment ist nach Meinung von Susanna Sonzewa schon jetzt gescheitert. Das Moskauer Küchenpersonal sei entlassen worden, stattdessen wurden billigere Arbeitskräfte aus der russischen Provinz eingestellt. Das von der Firma „Konkord“ gelieferte Essen für die 500 Schüler sei tiefgefroren. Aber nach einer Prüfung durch besorgte Eltern habe sich herausgestellt, dass das Haltbarkeitsdatum der Mahlzeiten abgelaufen war.

Landesweiter Protesttag

Susanna Sonzewa war nicht die einzige Sprecherin auf dem Puschkin-Platz, die sich über die Regierungspolitik im Bildungsbereich erregte. In vielen Bildungsbereichen hat sich Kritik angestaut. Auf der Kundgebung wetterten Studenten gegen niedrige Stipendien, Lehrer gegen die Einführung von Staffel-Löhnen, bei denen Lehrer nach Leistung bezahlt werden und Eltern über das Gesetz Nr. 83, welches Abgaben der Eltern für Förderkurse und Spielkreise legalisiert.

Der allgemeine Tenor der Kundgebung war, dass die Qualität der Ausbildung abnimmt aber die Eigenbeiträge von Eltern und Studenten steigen. Protest-Kundgebungen gegen die Politik im Bildungsbereich fanden auch in Ulan Ude und Jekaterinburg statt. Das staatliche Fernsehen berichtete nicht über den landesweiten Aktionstag.

Neues Unterrichtsprogramm für die Abgangsklassen noch in Arbeit

An den russischen Schulen ändert sich in diesen Monaten ziemlich viel. Für die Klasen eins bis neun gibt es neue Unterrichtsprogramme. Das Programm für die Abgangsklassen zehn und elf steht noch nicht fest. Nachdem es in der Öffentlichkeit zu heftigen Debatten gekommen, weil das Bildungsministerium anfänglich nur vier Pflichtfächer für die Abgangsklassen vorgesehen hatte, nämlich Sport, „Grundlagen der Sicherheit im Leben“, „Russland in der Welt“ und ein frei wählbares Fach (siehe: Russische Bildungsreform: Patriotismus und Sicherheit) wird jetzt weiter in einer Expertenkommission über die Pflichtfächer in den Abgangsklassen beraten.

Die Kritiker befürchteten, dass die Qualität der Ausbildung in den Abgangsklassen sinkt, wenn nicht auch Mathematik, Physik, Russisch und Geschichte zu den Pflichtfächern gehören.

Schulen müssen selbst Einnahmen generieren

Die zweite große Änderung, welche auf die Schulen zukommt, ist das Gesetz Nr. 83. Nach dem Gesetz, welches am 1. Januar in einer Experimentierphase in Kraft tritt und am 1. Juli 2012 dann flächendeckend eingeführt werden soll, können alle staatlichen Einrichtungen, also Schulen, Bibliotheken und Krankenhäuser ihren Haushalt autonom oder halbautonom verwalten.

Eine autonome Verwaltung bedeutet, dass die Schulen selbst für Einkäufe und Einnahmen zuständig sind. Durch das Gesetz wird die schon gängige Praxis, dass nämlich Schulen von den Eltern für Förderkurse, Spielgruppen und Instandsetzungsarbeiten finanziellen Abgaben erheben, legalisiert.

Für gut verdienende Eltern in den Großstädten sind diese Abgaben nicht so problematisch wie für die große Masse der Eltern in der Provinz. Nach Angaben des russischen Statistikamtes leben immerhin 22,9 Millionen Russen – bei einer Gesamtbevölkerung von 141 Millionen - unterhalb der Armutsgrenze. Die Zahl der Armen hat übrigens im ersten Quartal 2011 um 2,3 Millionen Menschen zugenommen.

Regierung redet sich heraus

Die Kritik der Schulreform-Gegner, dass die in der Verfassung garantierte kostenlose Ausbildung immer mehr ausgehöhlt werde, wies Staatssekretär Igor Remorenko vom Bildungsministerium in einem Kommersant-Interview zurück. Die Fächer Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Sport, Russische Sprache und Literatur werde der Staat weiter finanzieren, erklärte der Beamte.

Auch Wladimir Putin wird nicht müde zu beteuern, dass die Ausbildung in Russland kostenlos bleibt.

Merkwürdig nur, dass das Fernsehen, die Debatte über die Bildungsreform, die bereits im Internet läuft, nicht aufgreift. Talkshows mit Reform-Kritikern und Befürwortern gibt es nicht. Das Bildungsministerium drückt sich vor klaren Aussagen und wirft den Kritikern stattdessen Panikmache vor. Dabei wäre das beste Mittel Ängste zu beseitigen, wenn im Fernsehen öffentlich über das von der Höheren Schule für Ökonomie ausgearbeitete Gesetz Nr. 83 debattiert würde.

Sowjetisches Ausbildungssystem auf den Müll?

Wie wichtig eine Debatte über die Bildungsreform in Russland ist, zeigt die Äußerung von Norilsk-Nickel Miteigner, Michail Prochorow. Der Oligarch erklärte Ende August auf einer Sitzung der von Präsident Dmitri Medwedew geleiteten Modernisierungs-Kommission, die Schulen bildeten am Bedarf vorbei aus.

Der Arbeitsmarkt habe einen Bedarf von nicht mehr als 20 Prozent Höherqualifizierten. Das ist eine klare Absage an das sowjetische Schulsystem, welches bis heute faktisch noch existiert und wegen seiner breiten Grundausbildung auch im Westen als Errungenschaft anerkannt wird.

Landeseinheitliche Abschlussprüfung in der Kritik

Sicher gibt es bei der russischen Bildungsreform auch positive Ansätze. Russlands Bildungsminister, Andrej Fursenko, führte Russland in den Bologna-Prozess ein. An russischen Hochschulen gibt es jetzt ein zweigliedriges Ausbildungssystem mit Bachelor- und Magister-Abschlüssen. Mit diesen Abschlüssen können Fachkräfte aus Russland auch in Europa weiter studieren.

Doch das von Minister Fursenko eingeführte einheitliche Abschlussexamen „EGE“ steht in der Kritik. Wegen des „EGE“ gehen die Lehrer dazu über, die Schüler auf die Themenbereiche der Abschlussprüfung „zu dressieren“, meint die Mutter Susanna Sonzewa.

Und die Korruption bei den Abschlussprüfungen sei durch das EGE in keiner Weise gestoppt worden, wenden Kritiker ein. Schon werden Stimmen laut, das EGE wieder abzuschaffen. Diese Forderung wird von Sergej Mironow, dem Vorsitzenden der kleinen sozialdemokratischen Partei „Gerechtes Russland“ unterstützt.

veröffentlicht in: Russland-Aktuell

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