15. September 2024

Tango, Mäuse und Sturm-Soldaten – Ein Erfahrungsbericht aus dem Donbass (Globalbridge.ch)

Im Februar 2017 besuchte ich das Dorf Kominternowo in der Volksrepublik Donezk. Auf einer Zufahrtsstraße sah ich diesen ukrainischen Panzerturm. Foto: Ulrich Heyden
Foto: Im Februar 2017 besuchte ich das Dorf Kominternowo in der Volksrepublik Donezk. Auf einer Zufahrtsstraße sah ich diesen ukrainischen Panzerturm. Foto: Ulrich Heyden

14. September 2024 Von:  in GeschichteMilitärPolitik

Aleksej kenne ich schon viele Jahre. Wir trafen uns auf Tango-Tanzveranstaltungen. Manchmal wechselten wir ein paar Worte. Neulich erwähnte er, er sei von der Front im Donbass zurückgekehrt. Dort sei er als Freiwilliger mit der Waffe ein Jahr im Einsatz gewesen. Ich war überrascht, denn in der Moskauer Tango-Szene gibt es viele kategorische Kriegsgegner. Ich bat Alexej, mir seine Geschichte von der Front zu erzählen. Er sagte, er sei bereit, seine Geschichte zu erzählen, damit die Leser in Deutschland besser verstehen, was zurzeit in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk vor sich geht und wie der Konflikt entstanden ist. Mancher wird mit den Aussagen meines Interviewpartners nicht einverstanden sein. Aber gehört die Geschichte eines russischen Freiwilligen nicht auch zum Gesamtbild des Krieges?

Aleksej kommt aus St. Petersburg. Er arbeitet seit vielen Jahren in einer Moskauer Baufirma, wo er umgerechnet 1.400 Euro im Monat verdient. Seine Aufgabe ist, zu prüfen, ob die für einen Bau angelieferten Materialien mit dem in der Projektbeschreibung angegebenen Materialien übereinstimmen. 

Der Job als Prüfer ist für Aleksej nicht neu. Der 58jährige hat zu Sowjetzeiten seinen dreijährigen Wehrdienst bei der Marine abgeleistet. Damals war er zuständig für die Prüfung der Messinstrumente in den Maschinenräumen der Schiffe. „Ich habe fast alle Schiffe der Nordmeer-Flotte besucht, um zu prüfen, ob die Instrumente noch funktionsfähig sind.“ 

Um sicher zu gehen, dass mein Bekannter mir keinen Bären aufbindet, bat ich ihn um Beweise für seinen Fronteinsatz. Er zeigte mir unter anderem seinen Freiwilligenausweis und Fotos von der Front. Auf einem Foto sah ich ihn mit Gewehr und einer Katze im Arm. Aleksej erklärte mir, die Katzen seien in den Erdhöhlen an der Front eine große Hilfe. Denn auf den Feldern, die wegen dem Krieg nicht abgeerntet werden, gibt es viele Mäuse. Oft seien ihm die Tiere im Halbschlaf übers Gesicht gelaufen. Die Katzen sind meist wild. Sie werden von den Soldaten gefüttert und werden dann heimisch. Wenn eine Katze in der Erdhöhle wohnt, verschwinden die Mäuse.

Aleksej erzählte, dass er für den Einsatz als russischer Freiwilliger in der Ukraine im Monat umgerechnet 2.200 Euro bekam. Das Geld sei aber nicht der Grund gewesen, warum er an die Front gegangen ist.

Ich hatte mich mit dem Freiwilligen an einem Sonntagabend in einem Park nördlich des Moskauer Stadtzentrums getroffen. Nicht weit von einer Tango-Tanzveranstaltung unter freiem Himmel, die dort regelmäßig stattfindet, hatten wir uns auf eine Bank gesetzt. Während der Sommerwind Tango-Musik zu uns herübertrug, stellte ich meine Fragen.

Warum bist Du als Freiwilliger an die Front gegangen?

Weil ich der Meinung bin, dass es heute für unser Land und für die ganze Welt sehr bedeutende Ereignisse gibt. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Weltordnung. Meiner Meinung nach befinden wir uns heute wieder in einer Zeit, in der sich die Weltordnung ändert. In so einer Zeit kann man nicht abseits stehen. Man muss seine Heimat verteidigen. 

Russland ist in einer gefährlichen Lage, so dass es Dich als Soldaten braucht?

Mein Land befindet sich im Moment in einer harten Auseinandersetzung mit den Ländern der NATO. Obwohl wir von unserem Sieg überzeugt sind, habe ich mich als Freiwilliger gemeldet, um mein Land zu verteidigen und weil ich der Meinung bin, dass die Interessen und die Unversehrtheit meines Landes geschützt werden müssen. Ich meine, wenn Russland 2022 nicht in der Ukraine eingegriffen hätte, dann wäre der Krieg auf unser Territorium gekommen. 

In Kiew gab es einen Staatsstreich. Kiew hat seit 2014 gegen die russischen Menschen im Donbass gekämpft. Die Menschen im Donbass sagten, dass man aus der Ukraine austritt, wenn die Ukraine sich der NATO anschließt. Man werde sich von der Ukraine abspalten, so wie sich der Kosovo von Jugoslawien abgespalten hat. Die westlichen Länder haben eine Vereinbarung über freie Wahlen im Donbass unterlaufen.

„Alles begann mit dem Krieg in Jugoslawien“

Der Krieg begann nicht 2022 und nicht 2014. Er begann mit einem Ereignis über dem Atlantischen Ozean. Im März 1999 flog der russische Ministerpräsident Jefgeni Primakow mit einem Regierungs-Flugzeug zu Gesprächen nach Washington. Auf der Hälfte der Strecke bekam der russische Außenminister die Nachricht, dass die USA Jugoslawien angegriffen haben, und das ohne einen Beschluss der Vereinten Nationen. Für Primakow war das der Grund, die Reise in die USA abzubrechen. Das Flugzeug flog zurück nach Russland. 

Als die NATO das mit uns befreundete Land Jugoslawien angriff, mit dem wir historisch freundschaftliche Beziehungen haben, von diesem Moment an veränderten sich die Beziehungen zu den USA und wir begannen unseren eigenen Entwicklungsweg zu gehen. 

Bis dahin hatte sich Russland den westlichen Ländern und den USA angenähert. Russland hatte ohne Vorbedingungen seine Truppen aus Ostdeutschland abgezogen. Die Amerikaner versprachen mündlich, dass sich die NATO nicht nach Osten erweitert. Doch die NATO breitete sich nach Osten aus.

Es gab Gespräche darüber, dass auch die Ukraine Mitglied der NATO wird. Aber was bedeutet das für Russland? Das bedeutet, dass Raketen von der Ukraine auf uns zielen. Jetzt hat Deutschland beschlossen, amerikanische Mittelstreckenraten in Deutschland zu stationieren. Seit den 1990er Jahren gibt es eine Eskalation. Anstatt zu verhandeln, schieben die europäischen Staaten ihre Truppen immer weiter an unser Land heran. Es ist wie in einer Wohnung, wo im Korridor schon Unruhestifter Randale machen. 

Es ist eine Eskalation ohne Ende?

Je mehr sich der Konflikt entwickelt, desto mehr besteht die Gefahr, dass er ein neues Niveau erreicht. Man spürt schon den Beginn des Dritten Weltkrieges. Faktisch ist er schon im Gange. Bis zu einem nuklearen Konflikt ist es nur noch ein Schritt. Aber das ist nicht unsere Schuld. Im Westen, insbesondere von Seiten der USA, denkt man ernstlich über den Einsatz von Nuklearwaffen geringer Stärke nach. Von einer Bombe geringer Stärke zu einer großen Atombombe ist es dann nur ein kleiner Schritt. Das würde eine atomare Apokalypse bedeuten, die wohl kaum Jemand überleben würde.

„Meine Freunde waren über meine Entscheidung erstaunt“

Wie reagierte Deine Frau – oder Freundin – auf Deine Entscheidung, an die Front zu gehen?

Ich bin geschieden, habe aber mit meiner ehemaligen Frau ein freundschaftliches Verhältnis. Als ich meinen Freunden und Bekannten meine Entscheidung mitteilte, waren sie über meine Entscheidung erstaunt. Sie sagten, nun, es ist deine Entscheidung. Meinen Eltern habe ich es erst später erzählt. Sie sind schon älter. 

Warum waren Deine Freunde schockiert? Weil Du schon älter bist oder weil Du Dein Leben riskierst?

Beides. Einige sagten, du hast eine gute Arbeit. Warum dann das. Ich habe gesagt, es ist meine Pflicht an die Front zu gehen. 

Hast Du Kinder?

Ich habe eine Tochter. Sie wird bald 18. Sie war erstaunt über meine Entscheidung. Für sie kam das aus heiterem Himmel, aber sie hat mich verstanden. Sie hat nicht geweint. Einige haben ihre negative Haltung zu meiner Entscheidung geäußert. „Warum machst du das?“, haben sie gesagt. Um nicht unnötig zu streiten, sagte ich, „rede nicht weiter. Wenn du das falsch findest, ist das deine Meinung. Lass uns nicht weiter darüber streiten.“ 

Hast Du viele Freunde verloren?

Nun, wir haben hier in der Tango-Gemeinschaft einige Leute verloren. Sie sind nach Italien oder Argentinien übergesiedelt. Ich glaube fünf Prozent unserer Tango-Leute haben Russland verlassen. Als ich von der Front zurückkam, habe ich erzählt, dass ich dort war. Viele haben gesagt, das hättest du lieber nicht tun sollen. Ich habe gesagt, doch, ich musste das tun. 

Die Leute in der Moskauer Tango-Gemeinschaft sind nicht unbedingt typisch für Russland …

Nein, die Tango-Gemeinschaft ist nicht typisch und Moskau ist nicht typisch für Russland. Nach meinem persönlichen Eindruck leben viele Menschen in Moskau besser als im übrigen Russland. Außerdem war Moskau wegen der Reisemöglichkeiten Europa näher. In Moskau gibt es mehr liberale Einstellungen. Beim Tango sammeln sich liberaler eingestellte Leute. 

Ich komme eigentlich aus St. Petersburg. Als ich von der Front in der Volksrepublik Donezk zurückkam, fuhr ich nach St. Petersburg, um Verwandte und Freunde zu besuchen. In der Tango-Szene von St. Petersburg ist die Ablehnung des Krieges noch stärker. Und so kam es, dass mit einigen meiner Freunde dort kein Gespräch zu Stande kam und wir uns noch nicht mal die Hände geschüttelt haben. Doch ich muss sagen, ungeachtet der Tatsache, dass einige Leute in Russland gegen die militärische Spezialoperation in der Ukraine sind, wird die Operation von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. 

Hast Du neue Freunde gefunden?

Ja, an der Front habe ich neue Freunde gefunden. Sie kamen aus verschiedenen Städten. Sie kamen aus Woronesch, Kaluga, Tambow, St. Petersburg, Irkutsk und dem russischen Fernen Osten.

Was hattest Du für ein Gefühl, als Du als Soldat die Grenze zur Ukraine überschritten hast?

Ich bin von Russland in die Volksrepublik Donezk eingereist, welche zu der Zeit schon zur Russischen Föderation gehörte. Meine Stimmung war so: Ich bin in ein Kriegsgebiet gereist. 

„Ich habe keinen Hass auf die ukrainischen Soldaten, die gegen uns gekämpft haben.“

Wie wirst Du nach dem Krieg mit Menschen aus der Zentralukraine über das Alles sprechen?

Das ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich werden wir uns in der Zukunft mit Menschen treffen, die auf der anderen Seite der Front leben und kämpfen. Ich habe nicht mit der Ukraine gekämpft, sondern mit den Staaten der NATO. Ich habe auf dem früheren Territorium der Ukraine für die Unabhängigkeit meines Landes gekämpft. Ich habe keinen Hass auf die ukrainischen Soldaten, die gegen uns gekämpft haben. 

Wo genau hast Du gekämpft?

Unser Stützpunkt war im Hinterland in einer Stadt der Volksrepublik Lugansk. Dort kämpfte ich von Juli 2023 bis Juli 2024 an einem mehrere Kilometer langen Frontabschnitt sieben Kilometer vor der Stadt Soledar (die Stadt liegt nördlich von Bachmut, welche im Januar 2023 von „Wagner“-Einheiten und russischen Luftlandetruppen erobert wurde). Ich war in einem Freiwilligen-Bataillon mit mehreren hundert Soldaten. Wir wechselten alle zwei, drei Monate die Stellung. Im zweiten Halbjahr 2023 war es an unserem Frontabschnitt verhältnismäßig ruhig. Die Hauptkämpfe gab es damals in der Richtung Saparoschje, Bachmut/Artjomowsk und Kupjansk. 

Aber auch bei uns gab es Bewegungen. Erst haben uns die Ukrainer verdrängt, dann haben wir sie verdrängt. Von Herbst 2023 bis März 2024 gab es keine Veränderungen an der Front, sondern einen Stellungskrieg. Es gab aber ständig Beschießungen und unsere und ihre Aufklärungstrupps schwärmten aus. Nachdem ich die Front verlassen habe, hat sie sich zu Ungunsten der Ukrainer verschoben. Solche Bewegungen zu unseren Gunsten gibt es jetzt an vielen Frontabschnitten.

Du hast in einem Bataillon von Freiwilligen gekämpft. Wie hat man Euch vorbereitet?

Ich diente bei der Marine. Außerdem war ich Jäger. Also kenne ich Schusswaffen. Wir wurden vor unserem Kampfeinsatz mit Leuten, die keine Erfahrung im Kampfeinsatz hatten, vier Wochen auf verschiedenen Übungsgeländen trainiert. 

Hattest Du genügend Kondition?

Die Belastung ist natürlich größer als wenn man jung ist. Aber auf dem Übungsgelände habe ich mich selbst auf größere Belastungen vorbereitet. Im Sommer ist es schwer. Es wird bis zu 35 Grad heiß. Mit dem Helm und der Ausrüstung trägt man ein zusätzliches Gewicht von 30 bis 35 Kilogramm. Während der ersten Woche tun die Muskeln und der Rücken weh. Danach gewöhnst du dich mehr oder weniger an Alles. Ich habe immer Sport gemacht. Das hat mir geholfen. Viele hatten es schwer. Einige junge Leute hatten Probleme mit den Knien, dem Rücken und den Füßen. Mit dem Gewicht, welches du trägst, musst du ja auch laufen, fallen und robben.

War es für Dich ein Problem, auf Menschen zu schießen, die ja wie Du Slawen sind, die teilweise Russisch sprechen und von denen man annehmen kann, dass sie von ihrer Regierung manipuliert werden?

Bei mir ging es im August 2023 los. Wir wurden in aller Eile an einen Frontabschnitt bei der Stadt Soledar gefahren. Dort waren die Ukrainer durchgebrochen. Wir hatten zwei Nächte schlecht geschlafen und mussten noch schnell Munition abladen. Dann sagte man uns, „erholt Euch“. Um uns herum gab es nur zerstörte Häuser. Dort suchten wir uns ein Plätzchen. Es gab nichts, worauf man sich setzen konnte. So setzte ich mich auf gestapelte Panzerminen ohne Zündung. Nach einer halben Stunde – nachts um halb eins – kam der Kommandeur und gab den Befehl, dass wir zu einer Stellung fahren. Um vier Uhr morgens sollte der Sturmangriff auf die Ukrainer beginnen. Ich leitete eine Gruppe von zehn Soldaten. 

„Dort geht alles sehr schnell und man muss augenblicklich reagieren.“

Es wurde gerade hell und die Ukrainer begannen zu schießen. Einer aus meiner Gruppe wurde tödlich getroffen. Kurz vorher ging er noch neben mir. Nach der Explosion gab es von ihm nur noch Überreste. Außerdem gab es drei Schwerverletzte. Sie hatten eine Hand oder ein Bein verloren. Als wir die Stellung verließen, sahen wir sehr viele Verwundete. In dieser Situation, in der wir waren, gab es keine Zeit, darüber nachzudenken, wenn du schießt. Dort geht alles sehr schnell und man muss augenblicklich reagieren. Dir steht der Feind gegenüber, der auf dich schießt und du schießt auf ihn. 

Die Situation hat dich in den Krieg hineingezogen. Du hörst ein Pfeifen, lässt dich fallen. Dann siehst du, wie jemand, der ein paar Meter von dir entfernt ging, von einem Geschoss zerfetzt wurde. Dem einen wurde die Hand abgerissen. Er ist voller Blut. Du verbindest ihn schnell. Du bist voller Blut. 

Wir wurden mit leichter Artillerie beschossen. Wir suchten in einem Wäldchen Deckung, doch, um uns herum flogen die Kugeln und es gab Explosionen. Ich wurde verletzt. Ein Splitter bohrte sich in mein Knie. Mehrere Stunden ging ich mit dieser Verletzung. 

Diese Sturmangriffe sind unausweichlich?

Die Landschaft im Donbass besteht aus Feldern und einzelnen Waldstreifen. Richtigen Wald gibt es dort nur selten. Nach der Ankunft in einer Stellung beginnen die Soldaten dort sofort zu graben, zunächst nur eine kleine Grube, in der man selbst Schutz findet, dann Schützengräben. Unsere Angriffe finden in der Regel auf offenem Feld statt. Aber zu Beginn wird immer unsere Artillerie eingesetzt. 

Etwas anderes ist es in den Städten, wo man sich hinter Gebäuden verstecken kann. Wir hatten ein kleines Stück Wald. Aber als wir den Wald verließen, standen da nur noch nackte Baumstämme. Alle Zweige lagen am Boden.  Wir lagen auf dem Boden, von Explosionen und Splittern getroffen. Ich lag dann mit meiner leichten Verletzung drei Wochen in einem Krankenhaus. Das Krankenhaus befand sich sieben Kilometer von der Front entfernt, in der Stadt Soledar, in einem Haus. Der Splitter im Knie wurde entfernt. Aber bei vielen Soldaten hat man die kleinen Splitter, die nicht stören, drin gelassen, weil es eine große Zahl von Verletzten gab. Diese Splitter werden später entfernt. Manche Splitter lassen sich einfacher entfernen, wenn die Wunde verheilt ist.

Wie ich später im Krankenhaus hörte, gelang es erst am zweiten Tag unseres Angriffes, die Stellung der Ukrainer einzunehmen, die zuvor unsere Stellung gewesen war. Die Häuser in Soledar sind fast alle stark zerstört. Aber in der Stadt leben immer noch Menschen. Es ist natürlich eine Tragödie, auch wenn man die durch Geschosse zerstörten Mähdrescher und die Mais- und Sonnenblumenfelder sieht, die nicht abgeerntet wurden. 

Hattest Du Kontakt mit der Zivilbevölkerung?

Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk, wo ich eingesetzt war, bestehen jeweils aus zwei Teilen. Einem großen Teil, wo die Menschen friedlich leben, und einer 15 Kilometer breiten Kampfzone an der Front. In der Kampfzone leben fast keine Menschen. Es sind Bewohner, die sich weigern, ihre Häuser zu verlassen. Dort ist fast alles zerstört. Ich habe einige Menschen gesehen, aber ich habe nicht mit ihnen gesprochen. 

„Erst als ich im Schützengraben saß, erinnerte ich mich, dass auch mein Großvater im Krieg kämpfte.“

Dein Großvater war auch Soldat? War er ein Vorbild für Dich?

Mein Großvater hat im Großen Vaterländischen Krieg vor Leningrad gegen Deutschland gekämpft. Er wurde am Bein verwundet. Ich habe nie im Leben daran gedacht, dass ich einmal selber im Krieg sein werde. Und als ich mich als Freiwilliger meldete, hatte ich nicht das Gefühl, dass ich meinem Großvater folge. Erst als ich im Schützengraben saß, erinnerte ich mich, dass auch mein Großvater im Krieg kämpfte. 

Glaubst Du an Gott?

Es gibt ein Sprichwort, ´im Schützengraben gibt es keine Ungläubigen´. Es gibt Tage, wo überhaupt nichts passiert. Es herrscht Stille. Und am nächsten Tag folgt eine Granate auf die nächste. Und du sitzt in deiner Erdhöhle, deren Decke mit Baumstämmen befestigt ist. Wenn der Gegner merkt, dass in einer Erdhöhle Soldaten sind, schickt er eine Kamikaze-Drohne und versucht sie direkt in den Eingang zu steuern. Doch den Eingang versucht man mit Netzen unsichtbar zu machen. 

Ich habe erlebt, wie eine Drohne unmittelbar vor dem Eingang unserer Erdhöhle flog. Aus Sicherheitsgründen ist der Eingang zur Erdhöhle so angelegt, dass man um eine Ecke gehen muss, um in den Schlafraum zu kommen. Also, als ich einmal zum Ausgang unserer unterirdischen Unterkunft ging, hörte ich einen Meter vor mir eine Drohne. Sie „guckte“ offenbar, wo man in die Erdhöhle reinfliegen kann. Die Drohne ist dann weggeflogen und hat eine andere Stellung angegriffen. Ein anderes Mal kam eine Drohne, die direkt vor dem Eingang unserer Erdhöhle explodierte. Der Eingang war wegen der Kälte mit einem dicken Vorhang – es war noch Winter – geschützt. Erdbrocken flogen ins Innere.

Die Erdhöhlen, in denen Ihr gelebt habt, haben keinen Holzfußboden? 

Wenn es genug Zeit gibt, die Erdhöhle auszubauen, gibt es auch einen Fußboden aus Holz. Aber oft ist dazu keine Zeit. Im Winter, also ab November, gibt es Regen und Schnee. Alles fließt in die Schützengräben und wie sehr man sich auch bemüht, in der Erdhöhle mit den Schlafplätzen gibt es wegen der aufgeweichten Erde viel Dreck. Dann beginnt es zu frieren. Dann taut es wieder. Wärme gibt es nur von brennenden Lampen aus Wachs und Karton oder von Öfen. Aber wenn man diese Öfen nicht richtig aufstellt und richtig befeuert, werden sie von Drohnen als Wärmequelle erkannt.

Wie lange lebt man dort in ein und denselben Klamotten?

Normalerweise hast du die Möglichkeit, dich nach einer Woche in einer Banja (russische Sauna mit Dusche) zu waschen. „Rotation“ nennt man das. Aber es gibt Situationen, da kann man nicht zur Banja fahren. In so einer Situation benutzen wir Feuchttücher. Mit denen muss man sich vor dem Schlafen unbedingt die Füße reinigen. Außerdem gibt es eine sogenannte „trockene Dusche“, die für Kosmonauten entwickelt wurde. Das ist so eine Art Seife, mit der man sich – mit Hilfe von etwas Wasser – einreibt. Danach wird die Seife vom Körper abgerieben. Regelmäßig kam ein Wagen, der Wasser brachte. Wir hatten mindestens immer so viel Wasser, um zu trinken und das Essen zuzubereiten. 

Bist Du mit Allen dort in der Stellung klargekommen?

Im Großen und Ganzen ja. Es sind Menschen aus verschiedenen Städten und mit verschiedenen Anschauungen. Sie sind verschiedenen Alters. Die jüngsten sind 18. Es sind aber keine Wehrpflichtigen, sondern Freiwillige. Natürlich gibt es Konflikte. Aber sie werden geschlichtet. Wir sind ja aufeinander angewiesen. In bestimmten Gefahrensituationen muss der Kamerad dich schützen. Niemand außer dem Kameraden kann dir bei einer Schussverletzung helfen. Nur er kann dich wegschleppen. 

Ich habe dort auch Freunde gefunden. Sie kämpfen dort noch. Ich bin mit ihnen im Kontakt. Sie möchten, dass ich wieder bei ihnen bin. Aber ich muss erstmal mein Knie auskurieren. 

Wird Russland das eroberte Gebiet bei Kursk zurückerobern?

Ja, auf jeden Fall. Russland wird auch in der Ukraine weiter vorrücken. Warum dauert der Krieg so lange? Es ist ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, als es einen Stellungskrieg gab. 

Ich habe das Gefühl, dass die ganze Welt schon müde ist von diesem Krieg. Auch wir sind müde vom Krieg. Aber wir schützen unsere Heimat und wir sind bereit, weiter zu kämpfen, so lange es nötig ist. 

Wie kann der Krieg beendet werden?

Dieser Krieg wurde uns aufgezwungen. Wir waren von Anfang gegen diesen Krieg. Von Beginn der 2000er Jahre an haben wir uns bemüht, eine Vereinbarung zu erzielen, dass die NATO nicht an unsere Grenze heranrückt. Seit 2014, als dort unsere Leute, russische Zivilisten, starben, haben wir versucht, mit Friedensgesprächen den Krieg im Donbass zu beenden. Ende 2021 hat sich unser Land in Erklärungen an Alle gewandt, mit der Bitte, uns Garantien für Frieden und Sicherheit an unserer Grenze zu geben. Aber Europa und die USA haben unsere Bitte ignoriert. Das Resultat ist nun dieser schwere, blutige Krieg. Dieser Krieg lässt sich nur am Verhandlungstisch beenden. Man muss gegenseitige Sicherheitsvereinbarungen aller Seiten erreichen. Das ist meine persönliche Meinung.

 

Unterschiedliche Zahlen über getötete Soldaten

Im Ukraine-Krieg sterben auf dem Schlachtfeld so viele Soldaten wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Doch allgemein anerkannte Zahlen von toten und verletzten Soldaten gibt es nicht. Die von offiziellen Stellen in der Ukraine und Russland und westlichen Geheimdiensten bekanntgegebenen Zahlen klaffen weit auseinander. Nachprüfbare Zahlen wird es vermutlich – wenn überhaupt – erst nach dem Krieg geben. 

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu gab im Juni 2023 bekannt, seit 2022 seien 71.000 russische Soldaten gefallen. Nicht in der Rechnung des Verteidigungsministers enthalten waren die Toten von den Milizen der Volksrepubliken Donezk und Lugansk und von den Spezialeinheiten, wie der russischen Rosgwardija, der tschetschenischen „Achmat“ und der Privatfirma „Wagner“. 

Allein in der Volksrepublik Donezk starben nach Angaben der örtlichen Menschenrechtsbeauftragten Darja Morosowa im Jahr 2022 4.176 Soldaten der Donezker Miliz.

In einem seiner letzten Interviews gab „Wagner“-Chef Jefgeni Prigoschin bekannt, dass beim Kampf um die Stadt Bachmut 2022/23 20.000 Soldaten der „Wagner“-Einheiten und 50.000 Soldaten der ukrainischen Armee gestorben seien. 

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu erklärte im Dezember 2023, in der Ukraine seien 5.800 ausländische Söldner getötet worden, darunter 1427 aus Polen, 466 aus den USA und 344 aus Großbritannien. Stellungnahmen der betreffenden Staaten zu diesen Zahlen sind nicht bekannt. 

Im Februar 2024 erklärte Schojgu, die Ukraine habe seit 2022 einen Verlust von 444.000 Soldaten. 

Wladimir Putin erklärte im Juni 2024 gegenüber ausländischen Journalisten in St. Petersburg, die Zahl der getöteten und verwundeten ukrainische Soldaten sei fünfmal höher als bei den russischen Soldaten. Die ukrainische Armee verliere im Monat 50.000 Soldaten. Der Verlust verteile sich jeweils zur Hälfte auf Getötete und Verwundete. 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte im Februar 2024, die ukrainische Armee habe seit 2022 31.000 Soldaten verloren. Die Zahl der getöteten und verletzten russischen Soldaten gibt die Ukraine mit einer halben Million an. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte am 14. März 2024 – gestützt auf westliche Geheimdienste – dass 350.000 russische Soldaten verletzt oder getötet worden seien. 

Der ukrainische Fernsehkanal 1+1 blendete Ende November 2023 eine Laufzeile ein, in der mitgeteilt wurde, dass seit Beginn des Krieges 1.126.652 ukrainische Soldaten gestorben seien oder vermisst werden. Doch nach einer Beschwerde der ukrainischen Präsidialverwaltung teilte die Leitung des Fernsehkanals mit, dass ihnen ein Fehler unterlaufen sei. 

Von Ulrich Heyden erschien 2022 „Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass“. 340 Seiten, 19,90 Euro, tredition (Selbstverlag), ISBN: 978-3-347-59573-6

PS der Redaktion: Wer Russland kennt, der weiß, dass sich Russland wenn nötig noch etliche weitere Jahre gegen die von den USA und von der NATO geplante Zerstörung verteidigen werden. Der Zweite Weltkrieg, bei dem durch die deutsche Wehrmacht um die 27 Millionen Menschen der Sowjetunion – die Hälfte davon Zivilisten – zu Tode kamen, ist in Russland unvergessen. Es wird nie an Freiwilligen fehlen. (cm)

 

veröffentlicht in: Globalbridge.ch

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