23. June 2010

Tod im Gefängnis auf einer Moskauer Bühne

Der Anwalt Sergej Magnitzki wurde mit seinem tragischen Tod zur Vorlage des Theaterstücks

Ulrich Heyden, Moskau. Der Wirtschaftsanwalt Sergej Magnitzki starb letztes Jahr in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Das Theater Dok hat den bisher nicht aufgeklärten Fall auf die Bühne gebracht.

Sie habe vorne im Krankenwagen gesessen, das Radio lauter gestellt und sich kein einziges Mal zu dem Häftling umgedreht, sagt die blonde Schauspielerin, die eine Krankenschwester spielt. Also habe sie keine Schuld. Ihr schnippisches Lächeln wirkt zynisch.

„Eine Stunde und 18 Minuten“ heißt das Stück zum Fall Magnitzki, denn die im Untersuchungsgefängnis Aufsichtsführende Ärztin, Aleksandra Gauss, diagnostizierte bei dem Häftling Sergej Magnitzki eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, ließ den schwerkranken Magnitzki dann aber eine Stunde und 18 Minuten allein. Als die Ärztin schließlich wieder bei dem Häftling war, konnte sie nur noch den Tod durch Herzstillstand diagnostizieren.

Herzlose Richter und Ärzte


In dem Theaterstück, welches jetzt in dem kleinen Moskauer Experimental-Theater Dok aufgeführt wird, sprechen die Schauspieler nur Monologe. Aber die haben es in sich. Sie zeigen die Unmenschlichkeit des Gefängnissystems und die Herzlosigkeit von Richtern und Ärzten.

Wer war Sergej Magnitzki? Der 37jährige saß wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in Höhe von elf Millionen Euro in den zwei berüchtigten Moskauer Untersuchungsgefängnissen Butyrka und Matrosenstille ein. Dort wurde er elf Monate gequält. Dann war er tot. „Er wurde gefoltert“, meint der Anwalt des Verstorbenen.

Dem Häftling, der an einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse litt, wurde eine medizinische Behandlung versagt. Medikamente wurden ihm vorenthalten. Als Magnitzki im Gerichtssaal um ein Glas heißes Wasser bittet, antwortet der Richter kühl, „es gibt keine Anordnung, dass der Häftling eine besondere Ernährung bekommt.“

Die Wände des Theaters Dok sind schwarz gestrichen. Der Kellerraum hat nur ein Fenster, die Luft ist stickig. Aber die Stuhlreihen sind mit 50 Zuschauern bis auf den letzten Platz gefüllt.

Medwedew entließ 20 leitende Beamte der Gefängnisverwaltung


Der Tod des Wirtschaftsanwalts hat in Moskau hohe Wellen geschlagen. Dass die ungenügende medizinische Versorgung der Grund seines Todes war, hat jetzt sogar der Rechtsexperte der russischen Generalstaatsanwaltschaft eingestanden. Nach dem Tod des Anwaltes entließ Präsident Dmitri Medwedew 20 hohe Beamte der Gefängnisverwaltung.

Aber im Fall Magnitzki geht es nicht nur um die übliche schlechte Versorgung in russischen Gefängnissen. Indem man Magnitzki Medikamente vorenthielt, wollte man ihn zu einer Aussage gegen William Browder, den Chef der Investmentfirma Hermitage Capital Managment zwingen. Das sagt zumindest der Anwalt des Verstorbenen.

Magnitzki hatte für Browder angeblich ein System zur Steuerhinterziehung entwickelt. Da Browder sich bereits 2005 nach London abgesetzt hatte, war Magnitski der Einzige, den die russischen Justizorgane im Fall der Steuerhinterziehung von Hermitage Capital noch habhaft werden konnten. „Ich fühle mich wie eine Geisel“, erklärte der Häftling.

Vorverurteilt, weil er einer Investmentgesellschaft diente


Die Schauspieler, welche Richter, Gefängnisärzte und Krankenschwestern spielen, zeigen eindrucksvoll die weit verbreitete Herzlosigkeit in Gefängnissen und im Gesundheitswesen. Und sie zeigen Verachtung und Hass, welche viele Russen gegenüber Oligarchen und Steuerhinterziehern empfinden.

Menschenrechte gelten nicht für Leute, die das Volk ausrauben, so eine weit verbreitete Meinung. Ob Jemand vor Gericht verurteilt wurde, spielt dabei keine Rolle. „Er ist selbst schuld, dass er im Gefängnis sitzt. Er war Rechtsanwalt von Dieben“, sagt der Schauspieler, der den Ermittler Oleg Siltschenko spielt.

Auf der Bühne liegt Magnitzki in Embryo-Haltung. Er stöhnt vor Schmerzen. Die Ärztin überlässt Magnitzki acht Gefängniswärtern, die den Häftling in eine gestreckte Position bringen und ihm Handschellen anlegen. In dieser Position stirbt der Häftling dann an Herzversagen.

Schauspieler treten unter den Namen von noch lebenden Personen auf


Heikel ist, dass die Schauspieler unter den Namen von noch lebenden Personen auftreten. Doch Michail Ugarow, der Regisseur des Stückes, hat keine Angst vor einer Klage. Man lade die Richter und Ärzte ins Theater ein. „Sie könnten ja Anzeigen erstatten.“

Doch Regisseur und Schauspieler fürchten offenbar keine Anzeige, weil der gesamte Text, den die Schauspieler sprechen, auf Vernehmungsprotokollen von Richtern und Ärzten sowie Briefen und Tagebuchaufzeichnungen des verstorbenen Häftlings basiert.

Das Stück endete mit einer brutalen Racheaktion. Der Richter ist gestorben – eine Fiktion. Nun bittet er um heißes Wasser. Es wird ihm in einem Teekessel gebracht, allerdings ohne Becher. Der Richter hält die Hände auf, um das Wasser zu trinken, schreit dann aber vor Schmerz. Das Ende sei „hart, aber verdient“, meint Regisseur Ugarow.

Die Vorstellung kostet keinen Eintritt. Interessenten müssen sich jedoch telephonisch anmelden. Die Gästelisten für die nächsten drei Vorstellungen am 5. und 20. Juli sind schon komplett gefüllt.

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