Unter den Fenstern der mehrgeschossigen Wohnhochhäuser der Lenin-Sowchose am Südrand von Moskau flattern rote Stoffstücke im Wind. „Damit protestieren die Leute gegen das Vorgehen des Gerichts und der Grundstücksfirma Rota-Agro“, sagt Pawel Grudinin, als ich ihn am vergangenen Sonnabend auf der Sowchose besuche.
Erdbeeren, Äpfel, Saft und Milch – ohne Chemie
Die Lenin-Sowchose liegt am Südrand von Moskau, sehr verkehrsgünstig, nicht weit vom Moskauer Autobahnring. Der landwirtschaftliche Betrieb mit seinen 2.000 Hektar ist seit den 1990er Jahren als Aktiengesellschaft organisiert. Pawel Grudinin, der in dem Betrieb als gelernter Ingenieur die Werkstatt leitete, wurde 1995 zum Sowchos-Vorsitzenden gewählt. Die Sowchose gilt vielen Russen wegen ihrer sozialen Leistungen als „Insel des Sozialismus“.
Schon zu Sowjetzeiten war die Lenin-Sowchose für ihre großen Erdbeerfelder bekannt. In diesem Jahr habe man 1.100 Tonnen Erdbeeren geerntet, erzählt der Sowchos-Chef. Außerdem baue man Kartoffeln und anderes Gemüse an. Es gibt Äpfel- und Birnenplantagen sowie eine Saft-Produktion. In einem Milchbetrieb sind automatische Melkanlagen im Einsatz. „Die Melker wurden bei gleichem Lohn in andere Abteilungen versetzt“, sagt der Sowchos-Chef. Wegen der Automatisierung und Rationalisierung wurde die Belegschaft von 800 auf 300 gesenkt. Während der Erntesaison erhöht sich die Zahl der Arbeitskräfte um 500. „Rationalisierung, das ist nun mal internationaler Trend in der Landwirtschaft“, sagt der Sowchos-Chef. Da komme man nicht drumherum.
Es gibt auch eine Käserei und man beliefert einen deutschen Joghurthersteller, der in Russland ein Tochterunternehmen hat, mit Milch. Die Milch hat ein Zertifikat, welches den Export des Joghurts nach China erlaubt.
Igor Schamonin, ein Agronom, der für die Erdbeerfelder der Sowchose zuständig ist, zeigt mir eines der Felder, das gerade von einer Gruppe von Arbeitern und Arbeiterinnen aus Usbekistan abgeerntet wird. Igor sagt, dass man bei der Düngung keine Chemie, sondern nur natürlichen Dünger benutzt.
Ich komme mit Schasor, einem 26 Jahre alten usbekischen Pflücker, ins Gespräch. Er erzählt, dass für die Saisonarbeiter Wohnen und Essen auf der Sowchose kostenlos ist. Man wohnt zu viert in einem Zimmer. Im Monat verdiene er 480 Euro. Er sei zufrieden und komme schon seit sechs Jahren zur Saisonarbeit auf die Lenin-Sowchose.
Sowjetischer Mikrokosmos auf hohem Niveau
Auf den sanften Hügeln am Südrand von Moskau ist ein sowjetischer Mikrokosmos auf hohem Niveau entstanden. An mehreren Stellen des Sowchos-Dorfes gibt es Kreisverkehr. Und in der Mitte dieser Kreise hat man renovierte sowjetische Traktoren und Personenwagen der Marke Pobeda aufgestellt. Man merkt sofort, hier regiert jemand, der einen Faible für die Sowjetunion hat und heimatverbunden ist. Grudinin hat sein ganzes Leben auf der Lenin-Sowchose verbracht. Schon seine Eltern arbeiteten hier. In jungen Jahren schleppte er Obst-Kisten.
Wenn man am Rand des Sowchos-Dorfes über die Felder guckt, sieht man am Horizont die hochgeschossigen Häuser der Zwölf-Millionen-Metropole Moskau. Der Sowchos-Chef erzählt, vor 30 Jahren habe es noch hunderte von landwirtschaftlichen Betrieben rund um Moskau gegeben, welche die Stadt ernährten. Bis auf die Lenin-Sowchose seien alle diese Betriebe geschlossen worden. „Raider“ hätten dafür gesorgt, dass die landwirtschaftlichen Betriebe pleite gingen.
Was sind Raider? Das sind Firmen, die Unternehmen mit Gewalt und Betrug in ihren Besitz bringen und dabei auch mit bestochenen Richtern und Polizisten zusammenarbeiten. Die Lenin-Sowchose ist wegen ihrer Lage – am Südrand von Moskau und nicht weit vom Autobahn-Ring – für Raider interessant. Sie wollen auf dem Boden der Sowchose Häuser bauen.
„Wir haben in den letzten 20 Jahren schon sechs Raider-Attacken gehabt. Die sechste läuft seit zweieinhalb Jahren. Und diese Attacke ist die schlimmste“, sagt der Sowchos-Direktor mit ruhiger Stimme. „Auf der Seite der Raider stehen die Polizei und die Gerichte. Alle Aktivitäten der Raider zielen darauf, die Sowchose zu zerstören, die Arbeiter zu entlassen und sich den Boden anzueignen.“
Erstaunlich ist, dass der Sowchos-Chef trotz der jahrelangen Attacken unaufgeregt wirkt. Offenbar spürt er die Unterstützung seiner Sowchose. Die Atmosphäre im Sowchos-Dorf ist familiär. Gelegentlich bleibt Grudinin beim Gang durch den Ort stehen, schüttelt Hände und erkundigt sich, was es Neues gibt.
Ein Märchen-Park für die Kinder
Der Ort am Südrand von Moskau ist schon ziemlich einzigartig. Es gibt keine aggressive Reklame, Auto-Staus und Abgas-Wolken wie in Moskau. Die Straßen sind von Bäumen gesäumt und schmal. Straßen-Schwellen zwingen die Autofahrer zum Langsamfahren. Überall sieht man Blumenbeete. Alles wirkt gepflegt und sauber.
Sowchos-Direktor Grudinin führt mich durch einen Park für Kinder. Stolz zeigt er, wie man per Knopfdruck elektrisch betriebene russische Märchen-Figuren in Bewegung setzt. Um den Park stehen große Ritter-Figuren mit Helmen und Schildern, die das Areal symbolisch bewachen.
Die Lenin-Sowchose setzt zweifellos Maßstäbe. Neue Parks, Kinderspielplätze mit ausgefallenem Spielgerät, ein neues Schwimmbad, eine neue Schule und zwei Kindergärten, die mit ihren spitzen, bunten Türmen aussehen wie Märchenschlösser aus dem Mittelalter, „all das hat die Sowchose selbst finanziert“, sagt der Sowchos-Chef.
Ich komme mit einer Rentnerin ins Gespräch, die aus Moskau in die Sowchose übergesiedelt ist. Sie erzählt mit vor Freude strahlendem Gesicht, sie bekomme von der Sowchose einen Zuschlag auf die Rente, obwohl sie nicht in der Sowchose gearbeitet hat.
Kapitalismus geht auch anders
Grudinin macht in der Lenin-Sowchose vor, dass Kapitalismus auch anders geht. Mit sarkastischem Unterton sagt der Sowchos-Chef, „es gibt ein zu gutes Beispiel. Das muss man vernichten.“
Auf dem Gelände der Sowchose wurden in den letzten 15 Jahren moderne hochgeschossige Mehrfamilienhäuser gebaut, die sich von ihrem Design in weiß-orange und ihren nach außen gewölbten Fassaden angenehm von den Moskauer Einheits-Wohntürmen unterscheiden.
Die Mahlzeiten und die Spielgruppen in der Schule sind für Kinder aus der Sowchose kostenlos. Auch die medizinische Versorgung in der Sowchose ist kostenlos. All das ist in Russland heutzutage nicht mehr selbstverständlich. Bei Operationen verlangen die Ärzte, die selbst sehr bescheiden verdienen, Geld unter der Hand, obwohl alle Russen pflichtversichert sind und offiziell gar nichts zu bezahlen brauchen. In den gewöhnlichen Schulen sind Spiel- und Lern-Kurse für die Schüler seit acht Jahren kostenpflichtig.
Grudinin sagt im Gespräch, die Sowchose arbeite nach „sozialistischen Prinzipien“. „Alle müssen arbeiten“. Wer nicht arbeiten kann, bekommt von der Sowchose einen Zuschlag auf die Rente.
Der Durchschnittslohn in der Lenin-Sowchose liegt mit 930 Euro dreimal höher als der Lohn in anderen landwirtschaftlichen Betrieben. Nach 15 Jahren Betriebszugehörigkeit können Mitarbeiter mit einer Eigenbeteiligung von 50 Prozent Eigentümer einer Wohnung werden.
„Alle Gewinne haben wir in die Sowchose investiert“, sagt der Agrar-Unternehmer. Doch seit der Kandidatur von Grudinin zu den Präsidentschaftswahlen 2018 läuft von Seiten russischer Medien eine Schmutzkampagne gegen den Sowchos-Chef. Regierungsnahe Zeitungen behaupten, der Agrar-Unternehmer habe Konten und Häuser im Ausland. Dass seine Söhne Anton und Artjom Häuser in Spanien und Lettland haben, sei Sache der Söhne, die „ihr eigenes Einkommen haben“, und nicht Sache der Sowchose, sagt der Sowchos-Chef. Er sei doch 2018 nach Prüfung der Einkommensverhältnisse durch die Zentrale Wahlkommission zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen worden. Wozu die immer wiederkehrenden Verdächtigungen?, fragt der Sowchos-Chef.
Grudinin sagt, er habe die Gewinne nicht wie russische Oligarchen in Jachten und ausländische Immobilien investiert, sondern in die „Insel des Sozialismus“, die Lenin-Sowchose. Er selbst lebe nicht in einer Villa, sondern im gleichen Wohnhochhaus wie die Arbeiter der Sowchose. Später zeigt mir der Agronom Igor dieses Haus. Es ist ein gewöhnliches, mehrgeschossiges Wohnhaus.
Gericht verhängte eine Strafe von 12 Millionen Euro
Nach den angeblichen Häusern und Konten im Ausland haben die Gegner von Grudinin noch einen weiteren Strick gefunden, mit dem sie hoffen, den landesweit populären Agrar-Unternehmer zu Fall zu bringen. Sechs der insgesamt 30 Aktionäre klagten 2018 gegen den Sowchos-Chef. Sie warfen ihm vor, ein vor elf Jahren getätigter Verkauf von neun Hektar Sowchos-Boden an ein bekanntes schwedisches Möbelhaus habe nicht den maximalen Gewinn eingebracht. Man hätte das Gelände vor dem Verkauf als Gewerbefläche neu klassifizieren müssen.
Am 6. Juli 2020 gab das Schiedsgericht des Moskauer Gebiets den Klägern recht. Gegen Pawel Grudinin wurde „wegen schlechter Wirtschaftsführung“ eine Strafe von umgerechnet zwölf Millionen Euro verhängt. Weil er dieses Geld nicht habe, hat Grudinin nun alle seine Unterstützer und Wähler in einer Videobotschaft gebeten, Geld zu spenden. Eine halbe Million Euro sei schon zusammen, erklärte er letzte Woche.
Die Ehefrau übergab ihre Sowchos-Aktien umstrittener Immobilien-Firma
Über seine ehemalige Frau, Irina Grudinina, die im Kampf um die Sowchose auf die andere Seite übergelaufen ist, spricht der Sowchos-Chef ruhig.
2018 hatte Irina Grudinina gerichtlich eine Eigentumstrennung mit ihrem Ex-Mann Pawel Grudinin durchgesetzt. Dann ging alles in atemberaubendem Tempo. Am 1. Februar 2019 reichte Frau Grudinina bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderte ein. Dem Antrag wurde erstaunlicherweise noch am gleichen Tag stattgegeben. Normalerweise werden solche Anträge wochenlang bearbeitet.
Weil Irina Grudinina nun als Schwerbehinderte registriert ist, sprach ihr ein Moskauer Gericht im April 2019 nicht die Hälfte, sondern 66 Prozent des gemeinsamen ehelichen Eigentums zu. Pawel Grudinin verwaltete bis zu dieser Gerichtsentscheidung den Großteil der Sowchos-Aktien.
Für den Sowchos-Chef wurde es mit der Gerichtsentscheidung vom April 2019 richtig unangenehm. Denn Irina Grudinina übergab 42 Prozent der Sowchos-Aktien der Immobilien-Firma Rota-Agro. Im Gegenzug bekam Irina Grudinina 19,3 Prozent der Aktien von einer der Rota-Firmen.
Durch diesen Eigentumstausch wurde der politische Hintergrund der Kampagne gegen den Agrar-Unternehmer Grudinin überdeutlich. Die Immobilien-Firma Rota gehört dem bekannten Duma-Abgeordneten Dmitri Sablin. Dieser sitzt für die regierungsnahe Partei „Einiges Russland“ im russischen Unterhaus.
Die nächsten Wochen sind entscheidend
Ob die Lenin-Sowchose als „Insel des Sozialismus“ weiter bestehen wird, werden die nächsten Wochen zeigen. Sowchos-Chef Grudinin hat wegen des Vorgehens des Moskauer Schiedsgerichts zwei Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht.
Es gibt öffentliche Solidaritätsaktionen. Zahlreiche russische Politologen, Aktivisten und Journalisten beteiligten sich letzte Woche an einer mehrere Stunden langen Solidaritäts-Talk-Show des linkspatriotischen russischen Youtube-Kanals „Spez“.
Und am Dienstag weihte Grudinin zusammen mit KPRF-Chef Gennadi Sjuganow das neue Schwimmbad der Sowchose ein. Die großen russischen Medien haben die Eröffnung – wen wundert es – verschwiegen.
veröffentlicht in: Nachdenkseiten