20. October 2010

Tödliche Schüsse im Zentrum der Macht

Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau

ES waren nur drei Angreifer. Gestern Morgen um 8:45 überfielen sie das Parlamentsgebäude im Zentrum der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Einer der Angreifer sprengte sich gleich vor dem Parlamentsgebäude in die Luft, zwei andere Untergrundkämpfer drangen dann in das Gebäude ein und, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit einheimischen Sicherheitskräften, bevor sie sich selbst – ebenfalls mit Sprengsätzen – töteten.
Die tschetschenischen Parlamentsabgeordneten, die aus der Erfahrung solcher Überfälle eine geplante Geiselnahme fürchteten, flüchteten in den zweiten Stock. Russische Parlamentarier, die aus der Ural-Region Swerdlowsk angereist waren, wurden von Sicherheitskräften evakuiert, während tschetschenische Polizisten mit zum Teil blutenden Köpfen aus dem Gebäude flüchteten.
Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei weitere Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein Zivilist. Weitere 17 Personen, sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt.
Ramsan Kadyrow, das von Wladimir Putin eingesetzte Oberhaupt Tschetscheniens, rühmte hernach, seine tschetschenischen Sicherheitskräfte hätten nur 20 Minuten gebraucht, um den Angriff abzuwehren. Dabei versuchte Kadyrow selbstverständlich den Eindruck zu vermeiden, dass man die Situation im Lande nicht unter Kontrolle habe. Und Russlands Innenminister Raschid Nurgalijew, der sich zum Zeitpunkt des Überfalls ebenfalls in Grosny aufhielt, stand Kadyrow bei dankte den tschetschenischen Sicherheitskräften für ihr „professionelles Handeln“ und die „Vernichtung der Angreifer“. Obwohl in den Büroräumen des Parlamentes viel zerstört war, kamen die Abgeordneten nach dem Selbstmordanschlag demonstrativ zu der geplanten Sitzung zusammen.
Unklar ist blieb jedoch, wie es der Terrorgruppe überhaupt gelang, in das schwer bewachte Gelände des Parlaments einzudringen. Mit dem Anschlag wollte der bewaffnete Untergrund in Tschetschenien offenbar seine ungebrochene Stärke demonstrieren. Behauptet doch Ramsan Kadyrow immer wieder gerne, die Terroristen seien bis auf eine Gruppe von 50 „Schaitany“ („Teufel“) zerschlagen. Das Oberhaupt Tschetscheniens erklärte gestern, man werde sich weiter bemühen, „verirrte Jugendliche“ vom Weg des Terrorismus zurückzuholen. Unversöhnliche Terroristen aber würden „vernichtet“.
Die Anschläge des islamistischen Untergrunds im Nordkaukasus, die nach Meinung russischer Sicherheitskräfte aus dem arabischen Ausland finanziert werden, hatten sich in den letzten Jahren in benachbarte Republiken wie Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien verlagert. In Kabardino-Balkarien waren im Juli ein Anschlag auf ein Wasserkraftwerk und Anfang September ein Anschlag auf einen Markt verübt worden. Der Leiter des russischen Ermittlungsstabes, Aleksandr Bastyrkin, hält die Situation im Nordkaukasus auch weiterhin für äußerst angespannt. „Das ist fast ein Krieg“, erklärte der Chef-Ermittler.
Und in letzter Zeit nahm der bewaffnete Kampf auch in Tschetschenien wieder zu. Am 30. August überfielen 30 tschetschenische Untergrundkämpfer mit einer spektakulären Aktion den Ort Zentoroj, das Heimatdorf von Ramsan Kadyrow. Bei Feuergefechten kamen dort sechs tschetschenische Polizisten und zwölf der Untergrundkämpfer ums Leben.
Kadyrow selbst bezeichnet sich gern als Freund von Wladimir Putin. Dieser empfing ihn tatsächlich bereits viele Male im Kreml und lässt seinem Statthalter in Tschetschenien weitgehend freie Hand. In Moskau ist man schon zufrieden, wenn in Tschetschenien einigermaßen Ruhe herrscht. Und dafür führt Kadyrow ein brutales Regime.
Häuser von Familien, deren Söhne als „Bojewiki“ (Kämpfer) in die Berge gegangen sind, werden abgebrannt. Immer noch verschwinden spurlos Menschen. Zugleich präsentiert sich Kadyrow oft in tschetschenischer Nationaltracht und trägt ein schwarzes Käppchen. Alkohol wird auf seine Anweisung hin in Grosny nur noch zwei Stunden am Tag an Nicht-Tschetschenen verkauft. Für die Frauen hat Kadyrow eine strenge Kleidervorschrift erlassen. Sie dürfen sich nur noch in langen Röcken und mit Kopftuch auf der Straße zeigen. Mit der Berufung auf tschetschenische Traditionen versucht er damit, dem radikal-islamistischen Untergrund zu begegnen, der wiederum von sich behauptet, die wahren Werte des Islams zu vertreten.
Doku Umarow, der bisher den bewaffneten Widerstand führte und sich mit dem Titel eines Emirs des Kaukasus schmückte, soll laut Gerüchten Anfang Oktober von den Untergrundkämpfern abgesetzt worden sein. Die Bojewiki, so hieß es, hätten Chusejn Gakajew als neuen Führer gewählt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger gehört der Tschetschene zwar angeblich nicht dem bislang dominierenden islamistisch-fundamentalistischen Flügel an. Doch wie der gestrige Anschlag zeigt, ist er kaum weniger radikal als seine Vorgänger..
erschienen in: Sächsische Zeitung
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