Über den Tod hinaus
"Anja! Ich hoffe, Ihre Seele hört mich. Ich danke Ihnen für alles, was Sie getan haben, indem Sie sich geopfert haben. Entschuldigen Sie, dass wir Sie nicht schützen konnten." Diese Worte spricht Waleri, ein ehemaliger Militär, ins Telefon. Die Redaktion der Nowaja Gaseta hat zum Todestag von "Anja", wie die Journalistin von Freunden genannt wird, noch einmal das Handy der Journalistin angestellt. Einige Anrufe veröffentlichte das Blatt.
Die Anruferin Jelena Aleksandrowna meint, sie hoffe, dass sie noch den Tag erlebt, an dem in Moskau eine Metro-Station "Anna Politkowskaja" eingeweiht wird. Und der Anrufer Oleg Rasko meint: "Sie haben in mir die Hoffnung geweckt, dass ich und meine Kinder noch in diesem Leben erleben, wie Menschen leben sollen, normale Menschen, die nicht eng verbunden sind mit Wladimir Putin und seinen Beratern."
Anna Politkowskaja wurde durch ihre Reportagen aus dem Tschetschenien-Krieg weltberühmt. Sie berichtete über Folter in der Kaukasusrepublik und über Korruption in Russland. Ihre Berichte waren menschlich. Ihr Interesse und Mitgefühl galt den "kleinen Menschen", misshandelten Tschetschenen aber auch jungen russischen Soldaten, die in den Krieg geschickt wurden.
Politkowskaja war weit über die politisch aktive Szene hinaus bekannt. Und sie hatte viele Freunde. Viele Russen hielten sie aber auch für eine "Landesverräterin". Politkowskaja hielt sich nicht an die ungeschriebenen Regeln des russischen Journalismus. Sie fing dort an zu schreiben, wo andere schon der Mut verlassen hatte. Politkowskaja erhielt Droh-Anrufe. Als sie zum Geiseldrama in Beslan fliegen wollte, wurde sie im Flugzeug vergiftet und überlebte nur knapp.
Vor einem Jahr wurde die Journalistin in ihrem Hausflur von einem Killer erschossen. Eine Kugel traf sie ins Herz, eine andere in den Kopf. Mit einem Paukenschlag gab die russische Generalstaatsanwaltschaft Ende August die Verhaftung von zehn Verdächtigen bekannt. Unter den Verhafteten sind mehrere Tschetschenen, unter anderem der ehemalige Leiter der Verwaltung des Bezirks Atschchoi-Martan in Tschetschenien, Schamil Burajew, sowie der FSB-Oberstleutnant Pawel Rjagusow. Nach den bisherigen Ermittlungen hat der Geheimdienstmann Rjagusow dem Tschetschenen Burajew bei der Ermittlung der Wohnadresse der Journalistin geholfen.
Dmitri Muratow, der Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", für welche die Ermordete arbeitete, glaubt, dass die Journalistin durch ihre Recherchen eine kriminelle Vereinigung im Kaukasus störte. Der Auftraggeber des Mordes befinde sich in Russland.
Der russische Generalstaatsanwalt Juri Tschaika dagegen behauptete, der Auftraggeber säße im Ausland. Dabei spielte Tschaika auf den nach London geflüchteten Oligarchen Boris Beresowski an. Dieser, so kremlnahe Politologen, habe Kreml-Chef Putin mit dem Mord schaden wollen. Ein Beweis für die zynische These wurde bisher nicht vorgelegt.
Kritische Journalisten in Moskau sind skeptisch, ob die wirklichen Auftraggeber jemals gefunden werden. Auch sei nicht sicher, ob sich unter den Verhafteten wirklich die Mörder befinden. Der Chefredakteur der Nowaja Gaseta kritisierte, dass die Behörden die Namen der Verhafteten preisgegeben hätten. Dadurch hätten sich weitere Verdächtige und Hintermänner in Sicherheit bringen können.
An vielen Orten in Russland wird morgen der Journalistin gedacht. Gedacht wird in Nasran, im Nordkaukasus, in Moskau und in Nischni Nowgorod. Oppositionspolitiker Michail Kasjanow hat in Moskau zu einer Kundgebung und einem "Marsch der Nichteinverstandenen aufgerufen". Der "Marsch" wurde allerdings nicht erlaubt. Im Moskauer Haus des Journalisten findet ein Gedenkkonzert statt.
In Nischni Nowgorod war eigentlich eine Konferenz zum Gedenken an die Journalistin geplant. Eingeladen waren Menschenrechtler und Musiker aus dem Ausland. Doch einen Tag vor der für gestern geplanten Eröffnung gab es für die Veranstalter - die "Stiftung für Toleranz" - plötzlich große Probleme. Die Bank "BTB-24", über welche die Finanzierung der Konferenz laufen sollte, erklärte, das Konto der "Stiftung für Toleranz" stehe auf einer "schwarzen Liste". Eine Zusammenarbeit mit der Stiftung sei nicht möglich. Die Organisatoren der Konferenz erwarteten 25000 Dollar von dem US-Fonds "Nationale Stiftung zur Unterstützung der Demokratie".
Doch das war noch nicht alles. Die Verwaltung des Hotels "Oktjabrskaja", indem die ausländischen Gäste untergebracht werden sollten, erklärte plötzlich, die Zimmer stünden "unter Wasser". Die Verwaltung des Hotels "Zentralnaja", indem die Pressekonferenz stattfinden sollte, zog ihre Zusage für den Konferenz-Saal zurück. Die ausländischen Gäste erklärten, sie würden trotz der Probleme anreisen.
"Südkurier"