(Über)leben im Moloch Moskau
Ein Buch über den russischen Alltag
Moskau ist schneller und härter, als ich es mir vorgestellt hätte“, schreibt die Autorin Carmen Eller. In ihrem gerade erschienenen Buch „Ein Jahr in Moskau“ hat die 34-Jährige ihre Alltagserlebnisse in der russischen Metropole zu einem amüsanten Bericht zusammengefasst. Eller arbeitete ein Jahr als Redakteurin für die Moskauer Deutsche Zeitung.
Neben dem allgegenwärtigen Stress gibt es auch viel Angenehmes. Die Autorin genießt das russisches Dampfbad, die Banja, wo sie sich von einer Freundin mit einem Reisigbündel auspeitschen lässt und in St. Petersburg besucht sie ein Restaurant, indem jede Nacht das Neue Jahr gefeiert wird. Das kürzlich im Herder-Verlag erschienene Buch eignet sich vorzüglich für alle, die mit dem Gedanken spielen, einmal nach Russland zu fahren, aber noch etwas Angst haben, weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Die Autorin gibt dazu praktische Hinweise über Lebensgewohnheiten, so dass sich das Buch auch als Reiseführer lesen lässt.
Immer wieder wundert Eller sich über die russische Polizei. Wie können die Russen sich nur damit abfinden, dass die Polizisten, beim Verkauf von Konzert-Karten mitverdienen, fragt sie in ihrer russischen Wohngemeinschaft. Einer ihrer Mitbewohner erklärt, „das ist keine verkehrte Welt, meine Liebe, das ist Russland“. So lernt die Autorin allmählich, dass sie „in einer anderen Galaxis“ lebt.
Dass bei Männern und Frauen in Russland einiges anders läuft, erlebt die Autorin an eigener Haut. Als sie von einem jungen Mann ungefragt bis nach Hause begleitet wird, ist die Autorin zunächst verwirrt, verabschiedet sich dann aber von dem aufdringlichen Mitläufer an der Haustür. Den jungen Mann sieht sie nie wieder. Eller lernt, dass man in Russland entschieden handeln muss. Ein Theaterregisseur erzählt ihr, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion für die Russen ein unverarbeitetes „Geschichts-Trauma“ ist. Dieses Trauma habe zu einem Minderwertigkeitskomplex und „sehr viel aggressiver Energie“ geführt.
Wenn man so will, hat das Buch auch Botschaften. Eine Botschaft, die man zwischen den Zeilen findet, ist, dass man sich Russland erst einmal ansehen sollte, bevor man sich vor dem großen Land fürchtet. Die zweite Botschaft lautet, dass es gerade für Deutsche höchst amüsant ist, sich auf die Zufälle des russischen Lebens einzulassen. Die Autorin schildert ein typisches Beispiel. Als Eller mit dem Vorortzug an den Stadtrand von Moskau fährt, um die Datscha des Schriftstellers Boris Pasternak zu besuchen, kann ihr vor Ort niemand sagen, wo sich diese Datscha befindet. „Wie war es möglich, dass die Menschen den Weg zu einem ihrer berühmtesten Literaten nicht wussten?“ fragt die Autorin. Als sie das Haus des Schriftstellers dann aufspürt, wird sie spontan von Pasternaks Schwiegertochter Natalja zu einer Teegesellschaft eingeladen. Für die Literatur-Liebhaberin Eller geht ein Traum in Erfüllung. So etwas erlebe man eben nur in Russland, so ihr Resümee. (Von Ulrich Heyden)
Carmen Eller: „Ein Jahr in Moskau. Reise in den Alltag“; Herder-Verlag; 191 Seiten; 12,95 Euro.
veröffentlicht in: Märkische Allgemeine