Ukrainer aus Donbass-Region sollen nach Russland übersiedeln (Telepolis)
10. August 2021 Ulrich Heyden
Präsident Selenski fordert prorussische Bewohner zum Verlassen des Landes auf. Telepolis präsentiert zentrale Aussagen eines Interviews, über das im Westen nicht berichtet wird
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hat einen Teil der Bürger der östlichen Donbass-Region in seinem ersten Interview für den neuen ukrainischen Fernsehkanal "Dom" (Haus) zur Übersiedlung nach Russland aufgefordert. Der Fernsehkanal wurde geschaffen, um die Menschen in den angeblich von Russland "zeitweilig okkupierten Gebieten", enger an die Ukraine zu binden.
Das 45-minütigem russischsprachige Interview provozierte bei oppositionellen Ukrainern und Russen Empörung, denn der ukrainische Präsident bezeichnet in dem Interview die Bürger der Ukraine, "die Russland lieben", als "Gäste", die so bald wie möglich "nach Russland übersiedeln müssen".
Der russische Musik-Produzent Maxim Fadejew, der einer jüdischen Familie entstammt, fühlte sich bei den Worten von Selenski an den NS-Propagandaminister Joseph Goebbels erinnert.
Der Propaganda-Chef der Hitler-Diktatur habe in seinem Artikel Der Jude 1929 die Meinung vertreten, die Juden könnten "in deutschen Fragen nicht mitreden". Wer dem Judentum angehöre, sei "Ausländer, Volksfremder, der nur Gastrecht unter uns genießt".
Wenn man das Wort "Jude" mit "Russe" austausche, so Fadejew, erhalte man ein Zitat aus dem Interview mit Selenski.
Der ukrainische Präsident gab sein Interview in einem Studio des Fernsehkanals "Dom" in der Stadt Kramatorsk, direkt an der Grenze zur "Volksrepublik Donezk". Der im März 2020 gegründete Fernsehkanal sendet nach eigenen Angaben rund um die Uhr in russischer Sprache.
Seine Aufgabe sieht der Sender "Dom" darin, "die Bürger der zeitweilig okkupierten Gebiete zur Kultur, dem politischen und gesellschaftlichen Leben der Ukraine zurückzuführen".
2020 hatte der Kanal ein staatlich finanziertes Budget von umgerechnet acht Millionen Euro. Direktorin des Fernsehkanals ist Julia Ostrowskaja, die zuvor die Produktion des Komiker-Kollektivs "Kwartal 95" leitete, in dem Selenski Karriere machte.
Der Fernsehkanal "Dom" hat Ähnlichkeiten mit dem 1946 im amerikanischen Sektor von Berlin gegründeten Radiosender Rias Berlin und dem Deutschlandfunk, die im Kalten Krieg die Aufgabe hatten, die "Brüder und Schwerstern" in der DDR auf den "richtigen" westdeutschen Weg zu bringen.
Dieser Vergleich scheint weit hergeholt? Selenski selbst hat in dem Interview erklärt, die "Okkupation" des Donbass werden enden, wie der Fall der Berliner Mauer:
Der Donbass wird nie russischen Territorium. Wirklich niemals. Egal wie lange das Gebiet okkupiert wird. Das ist wie mit der Mauer in Deutschland. In jedem Fall werden die Menschen und die Geschichte einen Moment nutzen und die Mauer bricht.
Das Interview von Selenski mit den deutlichen Worten zu den Bürgern in der Ukraine, "die Russland lieben", kam nicht zufällig. Am 12. Juli hatte Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er Russen, Belarussen und Ukrainer zu "einem Volk" erklärte.
Selenski-Interview spielt in westlichen Medien keine Rolle
Putin legte damit erneut deutlich seinen Standpunkt zum Verhältnis von Russen und Ukrainern dar, offenbar nicht nur, um die Führer der westlichen Staaten von einer weiteren Ost-Ausdehnung der Nato abzuhalten, sondern auch, um die Menschen in der Ukraine, die ein gutes Verhältnis mit Russland befürworten, moralisch zu unterstützen.
Doch schauen wir uns genau an, was Selenski gesagt hat. Um Missverständnisse zu vermeiden habe ich die besonders umstrittenen Aussagen in dem Interview ins Deutsche übersetzt. Das ist notwendig, weil deutsche Medien über das Selenski-Interview bislang nicht berichtet haben.
Noch nicht einmal die ukrainische Präsidialverwaltung hat bisher eine Transkription des Interviews auf Englisch veröffentlicht.
Offenbar will man den scharfen Ton, den Selenski in dem Interview gegenüber prorussischen Bürgern angeschlagen hat, vor einer breiteren Öffentlichkeit in Westeuropa verbergen.
Das Interview beginnt harmlos. Die besonders brisanten Aussagen kommen erst ab Minute 41:10. Zu Beginn erinnert sich Selenski an seinen letzten Besuch in Donezk am 15. April 2014.
Damals trat er mit seinem Komiker-Kollektiv "Kwartal 95" im Zentrum von Donezk in dem neuen, zur Fußballeuropameisterschaft 2012 erbauten Fußballstadion, der "Donbass Arena", auf. Der Saal sei voll und die Stimmung gut gewesen.
Aber der ukrainische Präsident, der im März 2019 von den Ukrainern wegen seines Friedensversprechens gewählt wurde, erzählt weiter, dass er sich im April 2014 in Donezk "nicht wohl" gefühlt habe.
Er scheint sich an die politischen Rahmenbedingungen damals nur noch nebulös zu erinnern. Er habe nur gespürt, dass in Donezk "irgendetwas passiert". Aktivisten in Donezk hätten "Geld für Demonstrationen und Streiks bekommen", behauptet Selenski. "Sie wussten wohl nicht, dass es mit einer Okkupation endet".
Der ukrainische Präsident verschweigt in dem Interview, dass der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow bereits am 14. April Truppen zur Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegungen in Donezk und Lugansk auf den Weg geschickt hatte.
Mit dem Wort "Okkupation" ist gemeint, dass Russland 2014 angeblich einen Teil des Industriegebiets Donbass besetzt hat. Ich will nicht bestreiten, dass russische Freiwillige in den Truppen der "Volksrepubliken" kämpfen
Tatsache ist auch, dass Russland seit 2015 viel Geld für die Renten, Sozialleistungen und für die humanitäre Hilfe in den Volksrepubliken zahlt.
Doch Belege für die Behauptung, russische Truppen hätten den Donbass okkupiert, hat die Ukraine bis heute nicht vorgelegt. Es wurden keinen Namen russischer Kommandeure veröffentlicht, die angeblich im Donezk und Lugansk die Befehle geben. Und es gibt auch keine Fotos oder Videos von russischen Truppen oder Militärgerät in Donbass
Selenski: "Der Frieden hängt zu 90 Prozent von Putin ab"
Im Interview erklärt, Selenski:
Ich will den Frieden sehr. Aber es hängt nicht alles von mir ab. Dass im Donbass Frieden herrscht und die Region de-okkupiert wird, hängt zu 90 Prozent von einem Mann ab.
Und dieser Mann sei Putin.
Dass ukrainische Kampfflugzeuge bereits am 26. Mai 2014 den Flughafen von Donezk und am 2. Juni 2014 die Gebietsverwaltung von Lugansk bombardierten und zahlreiche Menschen töteten, erwähnt Selenski nicht.
Stattdessen sagt der ukrainische Präsident, "dass wir - wie man in Donezk behauptet - auf friedliche Menschen schießen, das ist alles Lüge. Die andere Seite schießt auf friedliche Menschen".
Ein Rückblick: Am 7. April 2014 wurde die "Volksrepublik Donezk" und am 27. April 2014 wurde die Volksrepublik Lugansk ausgerufen. Am 12. Mai 2014 wurden die Unabhängigkeitserklärungen in beiden "Volksrepubliken" in Referenden bestätigt.
Mit der Entscheidung in den Referenden wurde offengelassen, ob die nun unabhängigen "Volksrepubliken" sich in Zukunft mit einem Autonomiestatus der Ukraine oder Russland anschließen. In der "Volksrepublik Donezk" leben heute 2,2 Millionen Menschen. In der Volksrepublik Lugansk leben heute 1,4 Millionen Menschen.
Da die Ukraine keine Anstalten machte, die im Minsker Abkommen vorgesehene Autonomie für den Donbass umzusetzen, unterschrieb der russische Präsident am 24. April 2019 einen Erlass, nachdem Bürger der "Volksrepubliken" russische Pässe beantragen können.
Im Juli 2021 hatten nach Angaben des russischen Innenministeriums bereits 620.000 Bürger des Donbass einen russischen Pass. Die Gebiete um Donezk und Lugansk befinden sich nun in einem paradoxen Zustand. Sie sind nicht von russischem Militär besetzt, sie sind aber politisch und wirtschaftlich sehr eng mit Russland verbunden.
Am Ende seines Interviews redet Selenski den Bürgern des Donbass ins Gewissen, die Sympathien für Russland haben. Um seinen Worten mehr Durchschlagskraft zu geben, geht der ukrainische Präsident zum "Du" über:
Du bist ein Russe. Du hast für dich diesen Weg gewählt. Oder bist du Ukrainer? Das ist dein Boden. Das ist sehr wichtig. Warum? Die Menschen auf dem okkupierten Gebiet müssen das verstehen. Das bedeutet nicht, das wir Jemanden wegjagen wollen. (…) Noch einmal. Ist es deine Heimat oder bist du Gast? Ich meine, wenn du heute im Gebiet Donbass lebst, das zeitweise okkupiert ist, und du meinst, dass unsere Sache richtig ist, dass wir zu Russland gehören, und wir Russen sind, dann ist es ein großer Fehler weiter im Donbass zu leben. Das wird nie russisches Territorium. Wirklich, niemals. Egal wie lange es okkupiert wird. (…)
Wenn Du auf ukrainischem Territorium lebst und fühlst, dass das zu Russland gehört, wenn du so fühlst dann musst du dir - deinen Kinder und Enkeln zuliebe - einen Platz in Russland suchen. Das ist richtig. Denn ohne die Ukraine, wird es auf diesem Territorium keine Zivilisation geben. Die Ukraine wird sich entwickeln, wird alles bauen, das ist klar. Der Donbass, in dieser Art abgeschnitten, wird sich nicht entwickeln. Glück für diese Menschen wird es nicht geben.
Wolodymyr Selenski
Offenbar hofft Selenski, dass ein Teil der Bevölkerung der "Volksrepubliken" diese freiwillig verlässt.
Spagat zwischen Nationalisten und Donbass-Bewohnern
Der ukrainische Präsident verspricht den Menschen im Donbass, dass man bei der Wiedereroberung behutsam vorgehen wird. Nicht alle, die einen russischen Pass haben, könne man als Unterstützer der Macht in Donezk und Lugansk bezeichnen.
"Man muss mit dem Verstand an die Frage der Pässe herangehen. Manchmal sind die Menschen in einer ausweglosen Situation. Viele Menschen nutzen einen russischen Pass, um Geld zu verdienen, wo es ohne russischen Pass nicht geht. Man sollte die Menschen nicht nach Pässen unterteilen."
Auch forderte Selenski diejenigen, die sich als Ukrainer fühlen und ihren ukrainischen Pass versteckt haben, zum Durchhalten auf:
Sie sollten den Unabhängigkeitstag (am 24. August) feiern. Nicht laut. Nicht mit der Flagge auf dem Balkon. Schützen sie ihr Leben. Aber man muss es den Kindern erzählen. Die Lehrer in der Schule müsse versuchen, objektive Informationen zu vermitteln. Das ist wichtig. Das ist die Aufgabe. Und das ist der Informations-Sieg. Und das ist wichtiger als jede Kugel.
Selenski musste in seiner Rede einen Spagat schaffen. Zum einen galt es, den Menschen im Donbass, die bei einer Rückeroberung durch die ukrainische Armee Vergeltung fürchten, zu beruhigen. Zum anderen musste der ukrainische Präsident die Nationalisten in den Schaltstellen der Kiewer Macht und ihre Anhängerschaft in der West- und Zentral-Ukraine zufriedenstellen.
Seit sieben Jahren schon träumen diese Nationalisten davon, die "Volksrepubliken" im Handstreich zurückzuerobern. Von der Seite der Radikalen, die von den Medien und auch vom Geheimdienst unterstützt werden, wird großer Druck auf Selenski ausgeübt.
Es gibt zahlreiche Äußerungen von ukrainischen Nationalisten-Führern, die erklärt haben, dass man nach der Rückeroberung der Krim und des Donbass "Lager" einrichten werde.
In diesem Sinne äußerte sich zum Beispiel 2018 der ehemalige für Ermittlungsarbeit zuständige General des ukrainischen Geheimdienstes SBU, Wasili Wowk, der seine Ausbildung noch beim KGB gemacht hat.
In diesen Lagern soll geprüft werden, "wer an terroristischer Tätigkeit beteiligt war". Man muss wissen: Die "Volksrepubliken" sind für die Macht in Kiew "terroristische Gebilde".
Selenski versucht eine nationalistische Politik positiv darzustellen. Im Interview erklärt er, "das Territorium ist sehr wichtig. Aber in erster Linie sind die Menschen wichtig."
Nach jahrelangen Bombardierungen durch die ukrainische Armee und rechtsradikale Bataillone haben viele Bewohner des Donbass aber den Eindruck, dass es Kiew nur um das Territorium geht und nicht um die Menschen.
veröffentlicht in: Telepolis