Ulrich Heyden (Moskau): Geht von Russland derzeit eine Kriegsgefahr aus? (Krass und Konkret)
Ulrich Heyden im Gespräch über die verhaltene Reaktion Moskaus auf die Ausweisung von russischen Botschaftsmitarbeitern, das bei der Aufklärung über den mutmaßlichen Täter des „Tiergartenmords“ behilfliche Medium The Insider und das Mordopfer, Russland und China sowie die angeblich von Russland ausgehende Kriegsgefahr.
Deutschland bzw. Außenministerin Baerbock hat zwei russische Diplomaten aus Deutschland als persona non grata in Verbindung mit dem Mordanschlag auf einen Georgier ausgewiesen, der früher im Tschetschenienkrieg mitgekämpft, aber angeblich jetzt friedlich in Berlin gelebt hat. Die These ist, die auch das Gericht bestätigt hat, dass staatliche Strukturen den Auftrag befohlen haben. Man kann sie aber nicht benennen, auch keine Hintermänner. Sofort kam diese Aktion von Annalena Baerbock, die nachträglich von Bundeskanzler Scholz unterstützt worden ist. Wie kam das denn in Russland an?
Ulrich Heyden: Ich habe den Eindruck, dass Russland das nicht groß kommentieren will. Es gibt nur eine trockene Erklärung des Außenministeriums und des russischen Botschafters in Berlin, dass man das zurückweist und dass man, wie Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, sagte, symmetrisch reagieren wird. In den russischen Zeitungen habe ich dazu keinen Artikel gefunden, im Internet gibt es nur diese trockene Erklärung.
Ich habe das Gefühl, dass man in dieser Phase, in der es möglicherweise Kompromisse mit den USA, was die Ukraine betrifft, geben kann, man jetzt nicht ein Konfliktthema beitreten will. Man will Deutschland auch noch nicht frontal angreifen. Das müsste man ja, wenn man von Staatsterrorismus spricht. Das ist eigentlich eine wunderbare Vorlage, wenn es solche Kräfte in Deutschland geben sollte, die Russland mit Militär drohen. Russland versucht, das jetzt nicht als großes Thema aufzuziehen.
Vor zwei Jahren, als der Georgier ermordet wurde, hat sich Putin schon mal auf einer Pressekonferenz zu dem Thema geäußert. Auf eine Frage von Christian Esch, dem Spiegel-Korrespondenten, sagte Putin eben, dass dieser Kangoshvili ein ganz schlimmer Terrorist gewesen sei, der im tschetschenischen Untergrund eine führende Rolle hatte und angeblich auch an einer Explosion in einer Moskauer Metro mit vielen Toten und auch bei der Geiselnahme in der Schule in Beslan beteiligt war.
Es gab bei den zweijährigen Ermittlungen keine konstruktive Zusammenarbeit der Justizorgane. Bellingcat und The Insider haben den Angeklagten, der offiziell Vadim Sokolov heißt, angeblich als Vadim Krasikov überführt. Die Hauptbelastungszeugen sind Leute wie Roman Dobrochotow, der Chefredakteur von The Insider, der im September aus Moskau geflüchtet ist, irgendwo im Ausland lebt und aktiv in der liberalen Opposition war. Er hat heute beim Telekanal Doschd gesagt, es wäre sehr wichtig, dass das deutsche Gericht festgestellt hat, dass auf staatlichen Befehl ein Mord ausgeführt wurde. Das sei auch bei Litwinenko 2006 passiert und würde wahrscheinlich auch im Fall der Boeing über Donezk festgestellt werden. Krasikow sei ein Mörder, der Unternehmer erschossen habe. Dann habe man ihm einen russischen Pass und den Mordauftrag gegeben. Das ist alles sehr merkwürdig.
Er hat auch gesagt, dass dieser Kangoshvili kein richtig harter al-Qaida-Kämpfer oder in einer anderen terroristischen Organisation war, sondern er habe in Tschetschenien gekämpft wie auch Ramsan Kadyrow, aber nicht besonders terroristisch. Wenn er ein al-Qaida-Kämpfer gewesen wäre, dann hätte man ja noch drüber reden können, ob das gerechtfertigt wäre, ihn umzulegen, wie das auch der Mossad macht. Aber er sei eben ein einfacher Kämpfer gewesen, wie viele tschetschenische Männer in den 2000er Jahren. Der FSB habe eine Todesliste, die Stück für Stück in Istanbul und anderen Städten abgearbeitet würde. Wie Kangoshvili auf diese Liste gekommen ist, könne er sich gar nicht erklären. Alles sehr merkwürdig. Wenn der FSB so eine Todesliste hat, was soll das Motiv dafür sein?
Nach dem deutschen Gericht Rache.
Ulrich Heyden: Na ja, Rache käme zum Beispiel bei einem russischen Soldaten oder Offizier in Frage, dessen Familie durch islamistischen Terror zu Tode gekommen ist, aber welchen politischen Zweck soll es haben, wenn der FSB einfach so Leute aus Rache tötet? Der FSB ist eine Struktur, die sich politisch verantworten muss, das muss doch irgendwie mit der russischen Außenpolitik koordiniert sein. Welches Interesse soll Russland daran haben, dass Menschen mit den Folgen umgelegt werden, wie wir sie jetzt sehen, mit Ausweisung von Botschaftern und so weiter. Gerade in Deutschland ist es besonders dramatisch, weil sich Deutschland bisher doch vor solchen Akten zurückgehalten hat. Aber jetzt nimmt das zu mit diesen Botschaftsausweisungen und jetzt auch noch mit einem Mord.
Bellingcat arbeitet häufig mit The Insider zusammen. Was ist denn das für ein Medium?
Ulrich Heyden: Das ist ein Medium, das dieser Roman Dobrochotow gegründet hatte. Er hat sich in den vergangenen 20 Jahren aktiv in der russischen liberalen Opposition gegen Putin, gegen Wahlfälschung und so weiter betätigt. Und er hat schon einmal einen anderen Fall aufgedeckt. Seit September ist er im Ausland, seine Organisation, dieses Internetportal, gilt in Russland als ausländischer Agent, das vom Ausland bezahlt wird. Das muss immer erwähnt werden, wenn russische Medien ihn zitieren.
Wird das Medium im Internet blockiert? Es kann überall in Russland gelesen werden?
Ulrich Heyden: Meduza zum Beispiel wird nicht blockiert, The Insider und Bellingcat auch nicht. Gestern hat Dobrochotow, der auch im Berliner Gericht als Zeuge aufgetreten ist, offen gesagt, dass er diese Daten zu Changoschwili gesammelt hat. Weil er im Ausland ist, kann er nicht belangt werden. Seine Beschuldigungen sind so hart, wie er jemals nach Russland zurückkehren kann, ist mir völlig schleierhaft. Mich wundert, dass dieser Mann sagt, er finde es sehr gut, dass das deutsche Gericht festgestellt hat, dass das ein staatlich organisierter Mord war, wie auch bei Litwinenko und wahrscheinlich auch bei MH17. Da hat man das Gefühl, dass die Arbeit von Bellingcat und The Insider politisch stark motiviert war, Russland Staatsterrorismus nachzuweisen. Wie die ihre Daten sammeln, Tattoos, angeblich fotografiert, Fotos aus dem Familienalbum und so. Wie kann ein deutsches Gericht so etwas akzeptieren?
Du hast ja schon erwähnt, dass möglicherweise eine Annäherung zwischen USA und Russland stattfinden könnte. Angeblich könnte wieder ein Gespräch zwischen Putin und beiden stattfinden soll. Dabei scheint es auch um die Anerkennung der russischen Sicherheitsanforderungen zu gehen. Die USA könnte ein Interesse daran haben, ein anderes Verhältnis zu Russland herzustellen. Vielleicht auch deswegen, weil Putin demonstrativ die Einigkeit mit China vorführt. Meine Vermutung ist, dass Russland sich überreden lassen könnte, die Bindung an China zu lösen, wenn die Sicherheitsvorstellungen Russlands anerkannt werden.
Ulrich Heyden: Das halte ich für ausgeschlossen. Putin hat gerade sein 37. Gespräch seit 2013 mit dem chinesischen Präsidenten gehabt. Er hat ihn in den höchsten Tönen gelobt. Das Vertrauen zu Chinaist in Russland groß. Die wollen jetzt Währungsfragen lösen, um aus dem Dollar auszusteigen. Das Bündnis ist in den letzten Jahren gewachsen und gewachsen. Warum sollte Putin sich daraus lösen? Der Westen müsste schon etwas ganz besonderes anbieten, ein reales juristisches Abkommen, in dem steht, dass der Westen keine Raketen an der Grenze aufstellt.
Das fordert ja Russland.
Ulrich Heyden: Nach sieben Jahren der Unterstützung der Regierung in Kiew, die ja durch einen Staatsstreich und die mediale und finanzielle Unterstützung der USA an die Macht gekommen ist, wird Washington jetzt nicht völlig davon Abstand zu nehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass es vielleicht so eine Art Verschnaufpause geben kann. Ganz logisch erscheint mir das alles noch nicht. Russland geht natürlich auf Nummer sicher, eine Hinhaltetaktik mit irgendwelchen Versprechungen oder Ankündigungen, das ist ja noch nichts.
Ein Abkommen könnte die Folge sein. Der ukrainische Präsident Selenskij scheint ja auch schon unruhig geworden zu sein und drängt darauf, jetzt unbedingt mit Putin selber zu sprechen und zu sagen, dass die Ukraine sich auf sich selber stützen müsse. Man merkt schon, dass da irgendwas im Busche ist. Seit George W. Bush war China zum großen Konkurrenten der USA erklärt worden. Dann kam 2001 und schließlich der Ukraine-Konflikt dazwischen. Auch Obama wollte sich stärker Asien zuwenden und aus Europa und dem Nahen Osten herausziehen. Strategisch sind die USA weiterhin auf China ausgerichtet, aus Afghanistan und Irak wurden schon die Kampftruppen abgezogen, man will sich vielleicht auch aus Europa mehr zurückziehen.
Ulrich Heyden: Es gibt Spekulationen, dass die USA möglicherweise mehr Druck in der Ukraine gegen Russland entfalten wollen und daran arbeiten, dass Deutschland und andere europäische Länder auch militärisch Verantwortung übernehmen. Es geht nicht um die Nato-Mitgliedschaft, sondern um eine stärkere Einbindung und noch mehr Waffen. Die deutsche Öffentlichkeit wird daran gewöhnt mit diesen bedrohenden Meldungen über Russland. Sie ist ja eher gegen solche Kriegsabenteuer wie in Afghanistan. Der Krieg ist gescheitert, und sich jetzt sozusagen vor der Haustür mit Russland anzulegen, dazu muss noch mehr von denjenigen gearbeitet werden, die so ein Risiko eingehen wollen.
So ein Prozess wie in Berlin ist wieder ein Baustein, um die große russische Gefahr Russland zu demonstrieren, ohne wirklich handfeste Beweise zu liefern. Selbst wenn ein FSB-Mann oder ein ehemaliger FSB-Agent so etwas gemacht hat, müsste man immer noch nachweisen, dass er diesen Auftrag bekommen hat. Es gibt ja auch ehemalige Sicherheitsleute, die ticken einfach aus. Jetzt gab es zum Beispiel in Moskau einen Mitarbeiter einer Sicherheitsstruktur, der zum Betreten einer Behörde eine Maske aufsetzen sollte. Das empfand er als Zumutung. Er ging nach Hause, hat sich eine Pistole geholt, ging wieder zurück hat dort jemanden umgelegt. Das ist für Deutschland vielleicht nicht so nachvollziehbar, aber in Russland gibt es durch ungünstige Umstände, durch Kriege wie in Tschetschenien, viele Leute, die traumatisiert sind. Das ist auch in der Ukraine so. Und da kommt sowas dann eben vor. Ich hoffe nicht, dass es in Deutschland auch solche Fälle geben wird, etwa von Soldaten, die in Afghanistan waren.
Das ist natürlich alles Spekulation. es wird hier weiterhin in den Medien und von den Politikern von dem Truppenaufmarsch der Russen an der Grenze zur Ukraine berichtet. Wenn der Winter kommt und die Böden gefroren sind, sollen dann die Panzer rollen. Ist es denn bekannt, wo diese Truppenkonzentrationen in Russland sein sollen und ob sie mehr werden?
Ulrich Heyden: Ich finde nichts darüber, bis auf die westlichen Medien, wo die Stadt Jelnja in der Oblast Smolensk genannt und ein Foto publiziert wurde, habe ich nichts gefunden. Natürlich ist es vorstellbar, dass Russland im westlichen Bereich Russlands Truppen konzentriert hat. Vor den letzten sieben Jahren gab es ja dort keine gefährdete Außengrenze, aber seit die Ukraine potenzieller Nato-Partner ist, muss natürlich Russland irgendwie agieren. Man kann davon ausgehen, dass Russland neue Garnisonen entlang dieser Grenze eingerichtet hat, weil es eben eine neue Außengrenze ist seit 2014. Aber dass da jetzt Angriffsstellungen eingenommen werden oder dass Truppen nahe an der Grenze sind, dafür gibt es keine Belege. Und solche Bilder, die man im März, April sah, als Truppenkontingente auf Eisenbahnwaggons Richtung Krim fuhren, gibt es bisher nicht.
Die sah man im Frühjahr auch in den russischen Medien?
Ulrich Heyden: Ja, jetzt sind sie mir noch nicht untergekommen. Russland weist nach wie vor offizielldiesen Vorwurf zurück, dass es ein Truppenaufmarsch gibt. Gleichzeitig wird aber auch gesagt: Wir haben das Recht, auf unserem Territorium Truppen zu verlegen, so viele, wie wir wollen. Das ist schwer zu beurteilen. Wenn Russland wirklich Angst hat vor der NATO und vor den amerikanischen Ausbildern, die in der Ukraine sind, und auch vor der Zunahme von ausländischen Waffen, wäre es natürlich schon möglich, dass sie sich auf einen Konflikt in der Ukraine vorbereiten, also dass sie in der Hinterhand Armeeeinheiten haben, die im Fall, wenn die Volksrepubliken angegriffen werden, dann dort einmarschieren.
Vor kurzem sagte Generalstabschef Waleri Gerassimow: Wir lassen keine, Provokationen der Ukraine zu. Das war eine total scharfe Äußerung. Journalisten und Politologen, die dem Kreml nah sind, sagten, Russland habe jetzt in den Volksrepubliken 800.000 Menschen mit russischen Pass. Um diese Menschen zu sichern, was Putin schon oft versprochen hat, wäre die einzige Möglichkeit, dass man diese Republiken anerkennt und dann russische Truppen an die Grenze zwischen den Volksrepubliken und der Ukraine schickt. Es wird dabei verwiesen auf Abchasien und Südossetien, die 2008 nach dem Krieg mit Georgien anerkannt und dann militärisch von Russland geschützt wurden.
Es gibt verstärkt kremlnahe Leute, die auch sozusagen nahe dem Kreml, die publizistisch die Stimmung dafür vorbereiten oder vielleicht einfach auch ihre persönliche Meinung zum Ausdruck bringen. Putin hat vor einer Woche in einer Talkshow gesagt, der Vorwurf des Genozids im Donbass sei sehr naheliegend, da dort schon mindestens 3000 Zivilisten in Folge des Kriegs gestorben sind, also Zivilisten, die russisch sprechen, sich russisch orientieren, russlandfreundlich sind. Das war wieder so ein hartes Wort, was militärische Folgen haben könnte.
Könnte sich denn Putin oder der Kreml leisten, den Donbass als Einflusszone aufzugeben?
Ulrich Heyden: Das könnte nur so sein, wenn das Minsker Abkommen praktisch umgesetzt wird, das heißt, dass erst einmal die militärische Bedrohung, die Beschießung aufhört, dass die schweren Waffen von der Ukraine abgezogen werden, dass Wahlen stattfinden unter Aufsicht der OSZE, dass die Polizei der Volksrepubliken bestehen bleibt. Dass diese eine gewisse Autonomie haben und Kiew auch bereit ist, sich mit den Volksrepubliken an einen Tisch zu setzen, um diese Details zu besprechen. Dann wäre Russland bereit und sogar sehr froh, wenn die Volksrepubliken in der Ukraine bleiben, weil dann, das muss man auch ganz offen sagen, gibt es sozusagen ein Vetorecht. Wenn die Ukraine zu scharf Richtung Nato geht, dann gibt es mindestens diese beiden Gebiete, die nicht mitmachen und die auch im ukrainischen Parlament Einfluss hätten.
Aber das ist eigentlich zurzeit unvorstellbar, weil die Ukraine so nationalistisch aufgeheizt ist, dass sehr viel Verständigungsarbeit geleistet werden müsste, um zu ermöglichen, dass Parlamentarier aus Donezk Lugansk in Kiew mit sitzen. Man müsste sich über eine Amnestie einigen und sicherstellen, dass ukrainische Nationalisten nicht Jagd machen auf Separatistenführer und die einfach umlegen, aus persönlicher Rache oder aus politischer Motivation. Wenn Selenskij in diese Richtung Politik machen, eine Versöhnung einleiten würde, wäre das natürlich toll. Aber das ist kaum vorstellbar.
Eine andere politische Kraft in der Ukraine könnte die Oppositionsplattform sein. Aber einer der wichtigsten Politiker, Viktor Medwedtschuk, sitzt seit Monaten im Hausarrest und seine Konten sind beschlagnahmt. Diese politische Kraft ist auch domestiziert und unterdrückt. Und zu dem Referendum, das Selenskij jetzt praktisch angekündigt hat, fragen ukrainische Oppositionelle, wie denn in der Ukraine ein faires, demokratisches Referendum abgehalten werden kann, ob man weiter Krieg führt oder nicht usw.. Das ist gar nicht möglich, weil alle oppositionellen Kanäle abgeschaltet sind und die Menschen Angst haben, offen ihre Meinung zu sagen. Wir machen ein Referendum in der Ukraine, das hört sich erst mal schön an, aber es passt mit der ukrainischen Realität leider nicht zusammen. Das muss man so sehen. Von daher ist ein Kompromiss, eine Friedenslösung, nach wie vor sehr, sehr weit weg.
veröffentlicht in: Krass und Konkret