22. August 2012

Unbequemes Schachgenie

Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau

Garri Kasparow, russischer Oppositionspolitiker und Ex-Schachweltmeister, soll bei seiner Festnahme einen Polizisten gebissen haben.

Schon mehrfach ist Garri Kasparow bei Aktionen der Opposition verhaftet worden. Aber vor dem Moskauer Chamowniki-Gericht, wo am Freitag das Urteil im Fall der Punkband „Pussy Riot“ gesprochen worden war, ging es besonders ruppig zu.

Der 49-jährige Oppositionspolitiker gab gerade ein Interview, als er von mehreren Polizisten umringt und abgeführt wurde. Auf einem Video ist zu sehen, wie mehrere Beamte den Oppositionspolitiker zu Boden werfen und ihn in einen Polizeibus stoßen. Bei einem Fluchtversuch soll der Oppositionspolitiker dann einen Polizisten gebissen haben. Wenn gegen den Ex-Schachweltmeister ein Strafverfahren eingeleitet wird, drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft.

Kasparow gehört mit dem von ihm 2007 ins Leben gerufenen „Marsch der Andersdenkenden“ zu den Vätern der Protestbewegung gegen Wladimir Putin. Ein Jahr später gründete der Oppositionspolitiker zusammen mit dem ehemaligen Vizepremier Boris Nemzow das rechtsliberale Oppositionsbündnis „Solidarnost“, welche sich führend an den Aktionen der Protestbewegung in der ersten Jahreshälfte 2012 beteiligte.

Berühmt war Kasparow schon lange vorher. Der Sohn einer jüdisch-armenischen Familie galt als einer der genialsten Schachspieler. Schon im Alter von fünf Jahren entdeckte er in seiner Geburtsstadt Baku die Leidenschaft für das königliche Spiel. Schnell blieb das Talent Kasparows auch Schachexperten im fernen Moskau nicht verborgen. Schon mit 17 erhielt er den Titel eines internationalen Schach-Großmeisters. Und nur fünf Jahre später wurde er jüngster Weltmeister aller Zeiten – gegen seinen Landsmann Anatoli Karpow, mit dem er sich immer wieder faszinierende Duelle lieferte. In den 90er-Jahren erregte Kasparow weltweites Aufsehen, als er gegen den vom US-Konzern IBM entwickelten Schachcomputer „Deep Blue“ gewann.

Das Schachgenie gilt als ein sehr rationaler Mensch. Nur eine „hysterische Dame“ würde einen Polizisten beißen, sagte die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Helsinki-Gruppe“ zu den jüngsten Vorwürfen gegen Kasparow. Das wird ihm aber ebenso wenig helfen wie die zahlreichen ironischen Kommentare, die im russischen Internet die Runde machen. Vizepremier Dmitri Rogosin, der Russlands Vertreter bei der Nato in Brüssel war und heute für die russische Rüstungsindustrie zuständig ist, schlug dem angeblich verletzten Polizisten in seinem Twitter-Blog vor, sich gegen Tollwut impfen zu lassen.

veröffentlicht in: Sächsische Zeitung

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