Und wer kümmert sich um die Ostukraine?
Die Europäische Union muss die Aufklärung von Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung fordern. Die Mittel dazu hätte sie.
Immerhin das: Der 48 Jahre alte Unternehmer und Milliardär Petro Poroschenko wirkt im Vergleich zu seiner nächsten Konkurrentin Julia Timoschenko gemässigt. Der klare Sieger der Präsidentschaftswahl in der Ukraine verzichtet in seinen Reden auf plumpe Antirusslandrhetorik. Doch auch er setzt in der Auseinandersetzung mit den bewaffneten Separatisten im Osten des Landes auf Gewalt. Er wolle die sogenannte Antiterroroperation fortsetzen, hat er erklärt. Nur das «Format» wolle er ändern. Die Operation solle «effektiver» ablaufen.
Am Wahlabend sagte der Milliardär, nun stehe fest, dass «85 Prozent der Ukrainer den europäischen Kurs unterstützen» und «mehr als 90 Prozent» für eine «einige, unitäre und nicht föderative Ukraine» seien. Was ist denn mit den 6,5 Millionen Menschen, die in den Gebieten Lugansk und Donezk leben und beim Unabhängigkeitsreferendum am 11. Mai abgestimmt haben, bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag aber nicht?
Sicher war die Volksabstimmung vom 11. Mai, bei der angeblich 89 Prozent der Menschen für unabhängige Volksrepubliken in Donezk und Lugansk gestimmt haben, kein rechtlichen Standards genügendes Referendum, sondern bestenfalls ein symbolischer Akt.
Damals strahlte das Fernsehen in Moskau Bilder von Gedränge in Wahllokalen aus. Ganz anders war es an diesem Sonntag in Donezk. In der Millionenstadt war kein einziges Wahllokal geöffnet. Separatisten hatten die Abstimmungsorte in Donezk und vielen anderen Städten der Ostukraine blockiert und die Wahl zur Geisterwahl gemacht.
Doch die Bevölkerung blieb vermutlich auch deshalb zu Hause, weil sie nur wenig Interesse an diesem Urnengang hatte. Woher kommt das Misstrauen in der Ostukraine gegenüber Kiew? Wer sich in Donezk umhört, bekommt eine ganze Liste von Vorwürfen präsentiert:
Sehr viele wollen nicht in die Europäische Union. Sie wollen, dass Russland ihr Haupthandelspartner bleibt. Sie fürchten, die Ukraine solle in einen antirussischen Block eingebunden werden, und sind noch immer enttäuscht darüber, dass das Parlament in Kiew in einer der ersten Amtshandlungen nach dem Machtwechsel das Russische als Amtssprache abgeschafft hatte. Dass die Übergangsregierung dieses Gesetz nie in Kraft gesetzt hat, spielt für sie eine untergeordnete Rolle.
Sie sind wütend darüber, dass der Oligarch Rinat Achmetow seinen Reichtum mit den Kohle- und Stahlbetrieben in der Ostukraine gemacht hat und nun die Bewegung für eine Föderalisierung des Landes nicht unterstützt.
Sie haben Angst vor dem bereits unter Präsident Wiktor Janukowitsch eingefädelten und inzwischen angelaufenen Schiefergasprojekt des Shell-Konzerns im Donezk-Gebiet. Es könnte das Grundwasser verunreinigen und die Gesundheit gefährden.
Sie sind erschreckt darüber, dass gegen regierungskritische Bewegungen im Osten und im Süden Gewalt eingesetzt wird. Die 48 Menschen, die Anfang Mai in einem Gewerkschaftshaus in Odessa verbrannten, stehen dafür wie ein Fanal. Für viele in der Ostukraine steht ausser Zweifel, dass dieser Brand nur ausbrach, weil Militante des Rechten Sektors das Gebäude mit Molotowcocktails bewarfen.
Sie fürchten sich vor den Antiterroroperationen von ukrainischen Truppen und Sondereinheiten, bei denen Häuser von Unbeteiligten zerstört und Passanten verletzt oder getötet werden, wie das in Slawjansk und Mariupol vorgekommen ist.
Wenn der Wahlsieger erklärt, er wolle seinen ersten Besuch in der Ostukraine machen, klingt das nach Entspannung. Doch müsste er Orte nennen, die er besuchen, und GesprächspartnerInnen, mit denen er sich treffen will.
In den Gebieten Donezk und Lugansk läuft seit Mitte April 2014 eine sogenannte Antiterroroperation. Trotz des Einsatzes schwerer Waffen hat sie nur wenig Erfolg. Die Europäische Union schweigt dazu und feiert nun die Wahl als Hoffnungssignal. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sie die neue Macht in Kiew mit schwierigen Fragen verschonen will. Doch wenn die EU – wie behauptet – der Ukraine beim Aufbau einer wirklichen Demokratie helfen will, dann muss sie angesichts der Tötung von ZivilistInnen Fragen stellen und Aufklärung verlangen. Wenn Europa es mit den Menschenrechten ernst meint und nicht mit zweierlei Mass misst, muss genau so wie früher in Tschetschenien auch in der Ostukraine und in Odessa die Aufklärung von Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung gefordert werden.
Eine wichtige Rolle bei der Sammlung von Fakten, der Befragung von Zeugen und der Bewertung der Ereignisse in Slawjansk, Mariupol und Odessa kann die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) spielen. Sie müsste ihre Beobachtungen in der Ukraine endlich öffentlich machen, Bewertungen vornehmen und die Regierung in Kiew zum Handeln auffordern. Und westliche Regierungen müssten ihre Kredite an die Ukraine von der Aufklärung der möglichen Verbrechen abhängig machen.
veröffentlicht in: Die Wochenzeitung