28. December 2010

Vom reichsten Mann Russlands zum Lagerhäftling

Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski bleibt weiter hinter Gittern. Trotz internationaler Kritik befand ein Moskauer Gericht den früheren Chef des Yukos-Ölkonzerns der Unterschlagung und Geldwäsche für schuldig.

Von SZ-Mitarbeiter Ulrich Heyden

Moskau. Vor dem Gerichtsgebäude riefen 300 Chodorkowski-Unterstützer „Freiheit“.

Im Gerichtssaal begann die Urteilsverlesung mit einem Schuldspruch gegen den ehemaligen Chef des Ölkonzerns Yukos, Michail Chodorkowski, und Platon Lebedew, den Chef einer Yukos untergeordneten Bank. Das Strafmaß wird später bekannt gegeben.

Die Urteilsverlesung vor dem Moskauer Bezirksgericht begann gestern stürmisch. Gleich zu Beginn der Verhandlung wurde der Großteil der Reporter – darunter fast alle westlichen Korrespondenten – von der Urteilsverlesung ausgeschlossen. Die Videoübertragung aus dem Gerichtssaal wurde ohne Begründung eingestellt. Zwanzig Demonstranten, die vor dem Gericht Plakate hielten, wurden von Polizisten der Sondereinheit Omon festgenommen.

Nach dem Urteil der Richter haben Chodorkowski und Lebedew in der Zeit von 1999 bis 2003 insgesamt 218 Tonnen Öl unterschlagen. Außerdem seien bei dem Verkauf von Öl in Russland und im Ausland umgerechnet 23 Milliarden Dollar „gewaschen“ worden. Ein weiterer wichtiger Anklagepunkt, bei dem es um den Diebstahl von Aktien des sibirischen Ölunternehmens Tomskneft-WNK ging, erklärten die Richter für verjährt.

Während der Verlesung des etwa 300 Seiten dicken Urteils demonstrierten die beiden Angeklagten Gleichgültigkeit. Lebedew las ein Buch, Chodorkowski ordnete Papiere. Das Strafmaß für die beiden Unternehmer wird erst am Ende der Urteilsverlesung bekannt gegeben – und diese kann sich nach Meinung von Experten noch bis Anfang Januar hinziehen. Die Anwälte wollten jedoch nicht ausschließen, dass das Strafmaß noch in diesem Jahr, vielleicht sogar in der Silvesternacht verkündet wird.

Chodorkowski und Lebedew sitzen jetzt seit 2003 im Gefängnis. Ihr Fall hatte weltweit Aufsehen erregt, denn es war offensichtlich, dass der damalige Präsident und heutige Ministerpräsident Wladimir Putin an den beiden Unternehmern ein Exempel statuieren wollte, weil sie sich mit der Unterstützung von Oppositionsparteien in die Politik eingemischt hatten.

Im zweiten Prozess, der seit März 2009 läuft, hat die Staatsanwaltschaft eine Verlängerung der Haft bis 2017 gefordert. Beobachter halten es jedoch für möglich, dass die beiden Unternehmer nach den Präsidentschaftswahlen 2012 freigelassen werden.

Hoffnung auf ein mildes Urteil machte Präsident Dmitri Medwedew, der sich am Freitag in einer Gesprächsrunde mit den Chefs der staatlichen russischen Fernsehkanäle öffentlich von Putin abgesetzt hatte, indem er erklärte, vor der Urteilsverkündung dürfe „weder der Präsident noch ein anderer Funktionsträger“ seine persönliche Meinung zu dem Fall Chodorkowski äußern. Putin hatte in einer vom Fernsehen übertragenen Bürgersprechstunde erklärt, der ehemalige Yukos-Chef sei „schuldig“. Medwedews Wirtschaftsberater Igor Jürgens hatte erklärt, der Urteilsspruch könne eigentlich nur Freispruch lauten. Andernfalls seien für Russland „einige unangenehme Auseinandersetzungen“ vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu erwarten.

Vadim Kljuvgant, der die Gruppe von zehn Verteidigern leitet, erklärte, „das Gericht war in seiner Entscheidung nicht frei“. Das Urteil beruhe auf falschen Vorwürfen und sei „verbrecherisch“. Der Verteidiger sprach von Willkür und kündigte einen Revisionsantrag an. Zu dem angeblichen Öldiebstahl sagte der Chef-Verteidiger, man müsse Medwedew, der jahrelang Aufsichtsratsvorsitzender von Gasprom war, die Frage stellen, warum Gasprom in der russischen Provinz Öl kaufte und immer noch kauft, dessen Preis zehnmal geringer ist als an der Rohstoffbörse in Rotterdam.

Meinung

Ein Funken Hoffnung

Von SZ-Mitarbeiter Ulrich Heyden

Der erste Tag der Urteilsverlesung im Prozess gegen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew gibt nur wenig Anhaltspunkte dafür, wie das Strafmaß aussehen wird. Das Ganze wird zur Zitterpartie. Stärker noch als die Verjährung eines Anklagepunktes könnte die Äußerung des russischen Präsidenten Medwedew ins Gewicht fallen, nach der weder der Präsident noch ein anderer staatlicher Funktionsträger das Recht hat, sich vor der Urteilsverkündung zum Prozess zu äußern. Dass sich Medwedew von Putins voreiligem Schuldspruch im Fall Chodorkowski absetzt, könnte bedeuten, dass das Urteil nicht hart ausfällt. Möglicherweise sorgt sich Medwedew aber auch nur um Russlands Image, welches durch Putins Poltereien erneut Schrammen bekommt.

veröffentlicht in: Saarbrücker Zeitung

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