13. April 2019

Von oben herab

Foto: Olesya Kuprina/Shutterstock.com
Foto: Foto: Olesya Kuprina/Shutterstock.com

Der Dokumentarfilm „Russland von oben“ verfehlt die Lebenswirklichkeit der Menschen im Land.

Deutsche Drohnen über Russland — das klingt schlimmer als es ist. Denn es geht dabei nur um Filmaufnahmen für eine Arbeit des Regisseurs Freddie Röckenhaus. Dennoch ist das konsequent aus der Adlerperspektive gefilmte Werk problematisch. Denn es zeigt symbolisch, wie abgehoben das Russlandbild der Deutschen mittlerweile geworden ist. Es ist wahrscheinlicher in einem „Russlandfilm“ einen Sibirischen Tiger zu sehen als wirklich etwas über die Nöte und den Alltag der Menschen zu erfahren, die auf dem Boden der Tatsachen ihr Leben bewältigen müssen. Schade, denn es gibt wirklich sehenswerte Dokumentarfilme, die etwa den Russland-Ukraine-Konflikt beleuchten.

Vom 3. bis zum 8. April fand in Moskau das internationale „Doker“-Filmfestival statt. Der große Saal des Moskauer Oktjabr-Kinos war brechend voll. In dem 90-Minuten-Film „Moskau von oben“ von Regisseur Freddie Röckenhaus sah man Landschaftsaufnahmen aus verschiedenen Regionen des Riesenlandes, aufgenommen mit Drohnen. Gezeigt werden vor allem Winter-Landschaften und immer wieder sah man Bären in freier Wildbahn.

Russland — Winter — Bären

Russland, Winter, Bären — da sind im deutschen Fernsehen hohe Einschaltquoten garantiert. Im Schnitt 4,98 Millionen Menschen sahen eine der Folgen der fünfteiligen Serie „Russland von oben“, die im Dezember und Januar im ZDF ausgestrahlt wurde. Die Besucher im Moskauer Oktjabr-Kino fanden die Kurzfassung von „Russland von oben“ interessant. Es gab Beifall. Aber einen Begeisterungssturm gab es nicht.

Ich fand den 90-Minuten-Film mit aneinandergereihten Landschaftsaufnahmen langweilig. Dem Film fehlte meiner Meinung nach Dynamik.

Außerdem frage ich mich, ob es angesichts der zunehmenden Entfremdung zwischen Russland und Deutschland nicht wichtiger wäre, das reale Leben der Menschen in Russland zu zeigen und endlich einmal mit Russen zu sprechen.

Zeigt ein Film wie „Russland von oben“ nicht in erschreckender Weise, wie das Fernsehen in Deutschland seine Aufgabe, Menschen aufzuklären und Brücken nach Russland zu bauen, vernachlässigt?

In Westdeutschland setzten in dieser Hinsicht Fernseh-Korrespondenten wie Gerd Ruge, Klaus Bednarz und Gabriele Krone-Schmalz Maßstäbe. Sie ließen die einfachen Menschen in der Tiefe des Landes zu Wort kommen und zeigten ihr Lebensumfeld.

Doch diese Art Russland-Berichterstattung wollen die Chefredakteure in Deutschland nicht mehr. Sie wollen Russland nicht in weichen, sondern harten Tönen zeigen. Wenn ein Russe oder eine Russin mal vor einer deutschen Fernsehkamera sprechen darf, dann nur, um einen Missstand anzuprangern oder Putin zu kritisieren. Die große Masse der Russen, die abseits der Politik lebt, kommt im deutschen Fernsehen nicht vor.

Bevor der Film „Moskau von oben“ gezeigt wurde, hielt der deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch, auf Englisch eine Rede, in welcher er den Dialog verschiedener Kulturen pries. Die Rede wurde ins Russische übersetzt. Das Lob des Botschafters auf die Völkerverständigung empfand ich — angesichts täglicher Russland-Hetze im deutschen Mainstream — als heuchlerisch. Aber das Publikum blieb ruhig. Es gab höflichen Applaus.

Nachdenklicher Filmbeitrag aus der Ukraine

Das Festival „Doker“, welches bereits das fünfte Mal stattfand, wurde von Botschaften und Kultureinrichtungen westlicher Staaten unterstützt und lief gleichzeitig in fünf russischen Großstädten. Gezeigt wurden 30 Filme aus aller Welt. In den Filmen ging es um Alltags-Themen. Politische Fragen standen nicht im Vordergrund. Die Veranstalter zählten 40.000 Besucher.

„Doker“ bot unter anderem einen Film, der mich tief berührte. Es handelt sich um den Film „Ohne eindeutige Zeichen“, einen Beitrag aus der Ukraine. Der 62 Minuten lange Streifen bekam 2018 auf dem Leipziger Dokumentarfilm-Festival den MDR-Preis „bester europäischer Film“. „Ohne eindeutige Zeichen“, ukrainischer Titel „Yavnykh proyaviv nemaye“, handelt von Oksana, einer Majorin der ukrainischen Streitkräfte, die nach drei Jahren von der Front in der Ost-Ukraine nach Hause zurückkommt und in tiefe Depressionen verfällt.

Das Interesse des Festivalpublikums an diesem Film hielt sich leider in Grenzen. Von 200 Plätzen im Saal waren nur 30 besetzt. Der Grund für das geringe Zuschauer-Interesse ist wohl eine gewisse Ermüdung der Russen, was Filme über den Krieg in der Ukraine betrifft.

Die Ukraine-Berichterstattung im russischen Fernsehen ist oft sehr einfach gestrickt; so stumpfen die Zuschauer allmählich ab.

Was zeigt der Film? Durch die romantischen Straßen von Kiew mit ihren schönen Kastanien geht eine Frau. Sie stützt sich mit dem Arm immer wieder an Wänden ab. Ihr Gesicht ist wie aus Stein. Sie spricht mit eintöniger Stimme. Nein, es ist keine Obdachlose, keine Alkoholabhängige. Es ist eine etwa 50 Jahre alte Frau in einem eleganten Kleid, mit einer teuren Tasche. Diese Frau hat in Kiew eine schöne Wohnung in einem Neubau.

Mit einem Gebet im Ohr durch U-Bahn-Tunnel

Oksana, die Majorin der ukrainischen Armee, kann, nach Hause zurückgekehrt, fünf Tage lang nicht schlafen. Sie sitzt auf ihrem Sofa und trinkt unaufhörlich Tee. Sie findet keinen Kontakt zu ihrem Sohn und ihrem Mann und fühlt sich alleine gelassen. Das ist merkwürdig, weil Oksana sich nach eigenen Angaben selbst entschlossen hatte, an die Front zu gehen — einer aus der Familie musste es tun. Sie war der Meinung, Ehemann und Sohn seien nicht ausreichend für einen solchen Einsatz vorbereitet gewesen.

Die Kamera begleitet Oksana während der Rehabilitation in einem modernen Kiewer Krankenhaus. Sie bekommt Bäder und verschiedene Bewegungstherapien. Werden gewöhnliche ukrainische Soldaten mit dem posttraumatischen Syndrom in solchen modernen Kliniken behandelt? Ich habe meine Zweifel.

Dass es Oksana so schlecht geht, hängt eindeutig mit ihrer Arbeit zusammen. Sie war an der Front zuständig für die Gefallenen. Nach dem Tod eines Soldaten musste sie Ehefrauen oder andere Verwandte anrufen. Der Zustand von Oksana verbessert sich während der Rehabilitierung im Krankenhaus nicht wesentlich. Trotzdem entschließt sie sich nach einigen Wochen, nach Hause zu fahren.

Man sieht, wie sie noch einmal in ihren braun-beige gefleckten Kampfanzug steigt und mit grünem Militärrucksack an die Front fährt, um sich von den Kameradinnen zu verabschieden und den Dienst in der Armee zu quittieren. Am Bahnhof wird sie von einer Freundin in Militär-Grün mit einer kräftigen Umarmung empfangen. Die Freundin — in guter Stimmung — fragt: „Weißt du noch, dass wir auf den Kreml-Mauern Can-Can tanzen wollten?“ Oksana antwortet mit monotoner Stimme: „Ja, wir wollten in Donezk unsere Fahne hissen und dort bei McDonalds Hamburger essen.“ Man spürt, dass sie an einen Sieg der ukrainischen Armee nicht mehr glaubt.

Oksana fängt wieder an zu arbeiten. Wir sehen, wie sie im ukrainischen Finanzministerium in der Militärabteilung in einem Großraumbüro am Computer sitzt. Aber der Weg zur Arbeit ist nicht einfach. In der Kiewer U-Bahn wird Oksana wieder von Depressionen befallen. Erst als sie sich die Kopfhörer ihres Smartphones ins Ohr stöpselt und ein orthodoxes Gebet hört, kann sie ihren Weg zur Arbeit fortsetzen.

Was tun gegen das posttraumatische Syndrom?

Für die Diskussion nach dem Film stand eine Psychologin bereit, die von der Leitung des Festivals eingeladen worden war.

Gibt es überhaupt wirksame Methoden gegen das posttraumatische Syndrom, wollten mehrere Zuhörerinnen wissen. Die Psychologin sagte, dass es in den russischen Sicherheitsstrukturen — selbst bei den Feuerwehrleuten — viele erprobte Methoden gibt. Sie selbst halte es für wichtig, ein Gespräch mit dem Opfer aufzubauen, besonders aufmerksam zu sein und mit dem Geschädigten einen Teil der Alltags-Routine fortzusetzen, die er aus dem Zivilleben kennt.

Eine Besucherin in mittlerem Alter sagte, das Leiden von Oksana sei auf die Sinnlosigkeit des Bruderkriegs im Donbas zurückzuführen. Russen und Ukrainer hätten immer friedlich zusammengelebt. Und während des „Großen Vaterländischen Krieges“ von 1941 bis 1945 hätten die Soldaten gewusst, dass sie für eine gute Sache kämpfen.

Die Psychologin antwortete, solche Kriege wie im Donbass, in denen das Ziel nicht klar ist, habe es auch schon früher gegeben, in Tschetschenien und Afghanistan. Belastend für die Soldaten sei damals gewesen, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung diese Kriege nicht unterstützte. Außerdem — merkte die Psychologin an — seien viele russische Soldaten, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkahmen, dem Alkohol verfallen.

Ich bin froh, dass es Filme wie „Ohne eindeutige Zeichen“ gibt. Wie die Leser meiner Texte wissen, halte ich den Widerstand der Menschen in Donezk und Lugansk gegen die „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Armee für legitim. Das bedeutet jedoch auf keinen Fall, dass mir die Ukrainer dabei gleichgültig wären. Der Film zeigt: Krieg ist immer die schlechteste Option!

Der Film „Ohne eindeutige Zeichen“ kann denjenigen Menschen in der Ukraine, die sich im Nationalismus verfangen haben, die Augen öffnen. Allerdings glaube ich nicht, dass der Streifen in der Ukraine einem größeren Publikum gezeigt wird. Er könnte Zweifel am Sinn des Krieges in der Ostukraine verstärken.

Ulrich Heyden

veröffentlicht in: Rubikon

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