Umfassende Informationen über Russland zu erhalten, ist in Deutschland sehr schwierig. Denn seit Wladimir Putin in Russland an der Macht ist und insbesondere seit der Ukraine-Krise, haben die großen deutschen Medien den Informationskorridor aus Russland eingeengt auf die Themen Putin, Navalny und Proteste der Liberalen.
Fast völlig unberücksichtigt bleiben in der Medien-Berichterstattung die sozialen Probleme in Russland sowie die Aktivitäten von linken Parteien und Organisationen zum Schutz sozialer Rechte, die Proteste gegen Zusammenlegung von Krankenhäusern und wissenschaftlichen Instituten, die Schließung von Ambulanzen auf den Dörfern, die Abschaffung von kostenlosen Nachhilfe- und Spielkursen an den Schulen und die Benachteiligung von normalen Schulen im Vergleich zu den Schulen für Kinder aus wohlhabenderen Elternhäusern.
Wer nichts weiß, stellt auch keine Fragen
Auch die Bundesregierung äußert sich nicht zu sozialen Fragen in Russland und zu der Verfolgung von linken Aktivisten in Russland. Die großen deutschen Medien haben zu diesen Fragen kein Material geliefert, die deutsche Öffentlichkeit ist nicht informiert und stellt keine Fragen. Und warum – so könnte man sagen – soll die Bundesregierung kritische Fragen zur Kommerzialisierung im russischen Bildungs- und Gesundheitsbereich stellen, wo sie diese Kommerzialisierung doch im eigenen Land betreibt? Also alles gut?
Nein. Bundestagsabgeordnete der Partei Die LINKE haben die Bundesregierung am 9. Dezember in einer Kleinen Anfrage aufgefordert, Stellung zu nehmen zur Repression gegen russische Linke und soziale Menschenrechte in Russland.
Eingereicht wurde die Kleine Anfrage von den Abgeordneten Andrej Hunko, Zaklin Nastic, Alexander S. Neu, Eva-Maria Schreiber und Heike Hänsel. Die Abgeordneten schreiben, „mit dieser Anfrage soll das Augenmerk auf die Situation der linken Opposition in Russland gerichtet werden, ohne die aktuelle Relevanz und Brisanz etwa des Falls Navalny in Frage zu stellen.“
Sprachkunststücke der Bundesregierung
Die Linken-Abgeordneten fragten ausdrücklich nach dem „linken Spektrum“ und „der linken Opposition in Russland“. Doch auf dem linken Ohr scheint die Bundesregierung taub. In ihrer Antwort vom 15. Januar bringt die Bundesregierung das Kunststück fertig, die Begriffe „linkes Spektrum“ und „linke Opposition“ kein einziges Mal zu benutzen. So ein Herangehen hat eine gewisse Logik. Es entspricht der verbreiteten Auffassung, dass es seit dem Ende der Sowjetunion auch mit dem Sozialismus und Kommunismus vorbei ist und es eine Linke im Vaterland des realen Sozialismus eigentlich gar nicht geben kann.
Um den Begriff „links“ nicht benutzen zu müssen, führt die Bundesregierung in ihrer Antwort eine eigene politische Klassifikation ein. Das oppositionelle Spektrum Russland teilt sich nach Auffassung der Bundesregierung in eine „System-Opposition“ und eine „nicht systemische Opposition“. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) gehört nach Meinung der Bundesregierung zur „System-Opposition“, weil sie „in der Vergangenheit die grundsätzliche Linie der Politik der russischen Regierung mitgetragen und den Führungsanspruch der Regierungspartei ´Einiges Russland´ nicht in Frage gestellt“ hat.
Doch entspricht diese Klassifikation überhaupt der Realität? Nein. Die Abstimmungsergebnisse der Duma sind öffentlich zugänglich. Doch die Bundesregierung scheint nicht über die Arbeit der Oppositionsparteien im russischen Parlament informiert zu sein.
Wer die Arbeit des russischen Parlaments verfolgt, kommt nicht umhin festzustellen, dass die KPRF und auch andere Parteien der sogenannten „System-Opposition“ sehr häufig gegen Gesetze stimmen, die von der Partei „Einiges Russland“ und dem Kreml eingebracht wurden.
So stimmte die KPRF 2018 gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Bei der Abstimmung über die russische Verfassungsreform im März 2020, enthielten sich die 43 anwesenden KPRF-Abgeordneten der Stimme.
Am 23. Dezember 2020 stimmten die Abgeordneten der KPRF, Gerechtes Russland und die Liberaldemokraten gegen das Gesetz, welches „üble Nachrede“ im Internet unter Strafe stellt. Das Gesetz wurde von einer Mehrheit der Duma-Abgeordneten angenommen. „Üble Nachrede“ im Internet kann jetzt mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.
Repression gegen drei bekannte Linke
Die Abgeordneten der Partei Die LINKE wollten in ihrer Kleinen Anfrage wissen, welche Meinung die Bundesregierung zu der staatlichen Repression gegen drei bekannte russische Linke hat. Die LINKE-Abgeordneten führten drei Fälle an:
Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass die Repressionen gegen die drei bekannten russischen Linken der Bundesregierung zwar bekannt sind, man aber keinen Anlass für öffentliche Erklärungen sieht. Die Aktivitäten der Bundesregierung in diesen Fällen beschränken sich auf Informationsbeschaffung und gelegentliche Prozessbesuche.
Immerhin erfahren wir aus der Antwort der Bundesregierung, dass der deutsche Botschafter in Moskau, Géza Andreas von Geyr, „im Rahmen der Kontakte mit gesellschaftlichen und politischen Kräften in Russland (…) zuletzt am 21.Januar 2020 ein Gespräch mit Pawel Grudinin geführt“ hat. Grudinin habe „sich kritisch zu verschiedenen Aspekten der Politik des russischen Staatspräsidenten und der russischen Regierung“ geäußert.
Zum Fall des unter Hausarrest stehenden linken Oppositionspolitikers und ehemaligen Diplomaten Nikolai Platoschkin heißt es, der Bundesregierung sei der Fall „bekannt.“ Über eine mögliche Beobachtung des Prozesses gegen Platoschkin „werde die Bundesregierung kurzfristig und abhängig von der lokalen pandemischen Lage“ entscheiden.
Die LINKEN-Abgeordneten wollten wissen: „Zählt die Bundesregierung die Organisation ´Linke Front´ zur politischen und gesellschaftlichen Opposition, die um eine Verbesserung der bürger- und menschenrechtlichen und sozialen Situation in der Russischen Föderation kämpft?“
Einer Antwort über die „Linke Front“ weicht die Bundesregierung aus. Sie tut so, als ob nicht nach der „Linken Front“, sondern nach deren Leiter, Sergej Udalzow, gefragt wurde. Die Bundesregierung erklärt, Udalzow sei Mitglied des außerparlamentarischen „Koordinationsrates der russischen Opposition“ gewesen. Er habe aber auch die Kandidatur von Pawel Grudinin für die Kommunistische Partei unterstützt. Ob Udalzow und die „Linke Front“ nun zur „System-Opposition“ oder zur „nicht-systemischen Opposition“ gehören, erfährt man aus der Antwort der Bundesregierung nicht. Immerhin erfährt man aus der Antwort, dass ein Vertreter der deutschen Botschaft in Moskau bei einer Urteilsverkündung gegen Sergej Udalzow anwesend war.
Ob es Gespräche von Mitarbeitern der deutschen Botschaft in Moskau mit den linken Oppositionellen Platoschkin und Udalzow gegeben hat, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort nicht. Die LINKEN-Abgeordneten erhielten stattdessen die Auskunft, „der Einsatz der Bundesregierung für Menschenrechte geschieht mit einer Vielzahl von Instrumenten, unter anderem der öffentlichen und nichtöffentlichen Ansprache von Einzelfällen, der Beobachtung laufender Gerichtsverfahren sowie des vertraulichen Austauschs mit Betroffenen.“
Dürre Aussagen zu den sozialen Menschenrechten
Die LINKEN-Abgeordneten wollen auch wissen, inwieweit seit 2013 die sozialen Menschenrechte in Russland Thema bilateraler Regierungstreffen und Thema von Erklärungen von Vertretern der Bundesregierung waren.
Die Antworten auf diese Fragen sind sehr allgemein. Leider wurden die Fragen auch zu allgemein formuliert. So fragen die LINKEN-Abgeordneten nicht ausdrücklich nach den klassischen gewerkschaftlichen Themen wie Entwicklung der Reallöhne, Arbeitsschutz, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzsicherung, Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, Kurzarbeit und Arbeitslosengeld.
Die Bundesregierung teilt mit, dass es im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie „zahlreiche Gespräche zwischen Regierungsvertretern zum Thema Gesundheit“ gab. Mit dem Vorsitzenden des Rates beim russischen Präsidenten für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte, Walerij Fadejew, sei bei dessen Besuch in Berlin „eine verstärkte Zusammenarbeit zu sozialen Menschenrechten erörtert“ worden. Um welche Menschenrechte es da ganz genau ging, wird nicht mitgeteilt.
Geht das: Solidarität mit Stalin-Anhängern?
Von dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko wollte der Autor dieser Zeilen wissen, ob es für die Linksfraktion problematisch ist, sich für linke russische Politiker einzusetzen, die ein positives Bild von Stalin haben, einen konfrontativen Kurs gegen die russische Regierung fahren und den politischen Kampf auf der Straße für wichtiger halten als den im Parlament?
Der Abgeordnete Hunko antwortete, “nein. Grundsätzlich unterstütze ich linke und fortschrittliche Politiker, wenn sie Repressionen ausgesetzt sind. Das heißt nicht, dass ich mich mit jedem Weltbild oder jeder politischen Strategie gemein mache. Für Die LINKE sind die Werte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte unverhandelbar und eine Lehre aus der Geschichte. Diese Debatte muss aber politisch geführt werden, nicht durch Repression.“
Die zweite Frage, die ich Hunko stellte, war, ob sich Die LINKE auch für radikale Marxisten/Leninisten in Deutschland einsetzt, wie beispielsweise die MLPD? Dazu Hunko: „Ob man die MLPD wirklich als marxistisch oder leninistisch beschreiben kann, sei einmal dahingestellt. Sollten ihre Mitglieder jedoch morgen ins Gefängnis geworfen werden, würde ich mich für die Freilassung einsetzen. Auch etwa in der Türkei gibt es zahlreiche linke Akteure mit ähnlichem Geschichtsbild, gleichwohl wenden wir uns seit Jahren gegen deren Repression.”
Die Kleine Anfrage der LINKEN-Abgeordneten verdient Respekt. Und es ist zu hoffen, dass das deutsche Nichtwissen über die Linke in Russland endlich abgelöst wird von politischem Austausch und grenzüberschreitender Debatte.
Ulrich Heyden
veröffentlicht in: Nachdenkseiten