23. August 2022

Wie ein Krater (Junge Welt)

»Sie fragten: ›Mama, was ist? Lebst du?‹« – Trümmer vor dem Haus in der Leninstraße 60 in Perwomajsk - Foto Ulrich Heyden
Foto: »Sie fragten: ›Mama, was ist? Lebst du?‹« – Trümmer vor dem Haus in der Leninstraße 60 in Perwomajsk - Foto Ulrich Heyden

Aus: Ausgabe vom 23.08.2022, Seite 6 / Ausland

Nach Raketenbeschuss eines achtstöckigen Hauses: Verstreute Mauersteine und Zementbrocken. Ein Besuch in der »Volksrepublik Lugansk«

Von Ulrich Heyden, Perwomajsk

Ich stand zusammen mit anderen Journalisten auf dem Dach eines achtstöckigen Wohnhauses in der Stadt Perwomajsk in der »Volksrepublik Lugansk (VRL)« und blickte in den von einer Rakete zerstörten Teil des Hauses wie in einen Krater. Auf dem Flachdach lagen verstreut Teile von Mauersteinen und Zementbrocken. Wir mussten vorsichtig sein, denn es war unklar, wie stabil das Dach noch ist.

In der Nacht zum 17. August hatte eine Rakete in einem Teil des Hauses in der Leninstraße Nummer 60 die obersten drei Etagen zerstört. Es war nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen eine von ukrainischen Truppen abgefeuerte US-amerikanische Himars-Rakete. Insgesamt seien drei abgefeuert worden. Wo die anderen beiden Raketen niedergingen und ob sie von der »VRL«-Luftabwehr zerstört wurden, teilten die Agenturen nicht mit. Eine ukrainische Website berichtete, der Beschuss mit Himars-Raketen am 16. August habe »Verrätern« gegolten.

Bei dem Raketenbeschuss am 16. August wurden drei Personen verletzt. Ein Hausbewohner aus der zweiten Etage starb an Herzschlag. Sein Name war Pawel Frolow, wie mir Viktoria, eine Anwohnerin, erzählte. »Pascha« sei Besitzer des Lebensmittelladens »Gurman« gewesen. Er sei ein »ausgezeichneter Mensch« gewesen. Im Krieg 2014 habe er Lebensmittel an die Bevölkerung verschenkt, damit die Ware nicht verdirbt.

Der Beschuss vom 16. August forderte nicht mehr Opfer, weil viele Bewohner des Hauses mit seinen 110 Wohnungen schon in sichere Gebiete im südlichen Teil der »Volksrepublik« oder nach Russland emigriert waren. Nur noch 20 Wohnungen waren bewohnt.

Die Situation auf dem Dach des Hauses war unwirklich. Es war absolut ruhig. Die Sonne schien heiß. Keine Wolke war am Himmel. Man hatte einen weiten Blick über die Wohnviertel der Stadt und die umliegenden Felder.

Militärische Stellungen sah ich weder in diesem Wohnviertel noch im Rest der Stadt Perwomajsk. Doch russische Soldaten sind offenbar nicht die Ziele dieser grausamen Raketenattacken auf Wohnviertel. Seit acht Jahren geht es dem ukrainischen Militär darum, die Bevölkerung in den »Volksrepubliken« Lugansk und Donezk zu zermürben und zu vertreiben. So will man die Territorien »befreien«. Menschenleben spielen keine Rolle.

Hass auf Kiew

Unten vor dem Haus liefen die Aufräumarbeiten. Arbeiter schoben zerborstene, weiße Mauersteine und Glasscherben zusammen. Ich hatte mit Anwohnern gesprochen, die in kleinen Gruppen auf der gegenüberliegenden Seite der Leninstraße standen und beobachteten, wie vor dem Haus aufgeräumt wird.

Ein älterer hagerer Mann von hoher Statur schimpfte und sagte, er werde mir kein Interview geben. Er habe Fernsehjournalisten schon viele Interviews gegeben, aber was habe sich geändert an den Beschießungen durch die ukrainische Armee? Nichts. Das einzige Mittel, »die Ukras« zu stoppen, sei, wenn man auf »das Weiße Haus« in Kiew »zwei, drei Bomben schmeißt«. Mit »weißem Haus« meinte der Mann offenbar den Amtssitz von Präsident Wolodimir Selenskij. Ich antwortete auf diese emotionale Äußerung nicht.

Der Hass der Menschen in der Stadt Perwomajsk auf die Regierung in Kiew ist groß. Die Stadt mit ihren 36.000 Einwohnern wurde schon 2014/15 schwer durch die ukrainische Armee zerstört, konnte damals aber von Aufständischen – unter ihnen viele Kosaken – gegen die angreifenden ukrai­nischen Truppen gehalten werden.

Bis Februar 2022 war Perwomajsk Frontstadt. Am Rande der Stadt verlief die »Kontaktlinie«, hinter der die ukrainischen Truppen standen. Dann wurde die Front nach Westen verschoben. Aber Perwomajsk wird weiter beschossen. In der Nacht zum 1. August prasselten dann zwölf Himars-Raketen auf die Stadt nieder. Die Raketen wurden offenbar aus 35 Kilometer Entfernung aus dem nördlichen Donezk-Gebiet abgeschossen, das sich noch unter Kontrolle der ukrainischen Armee befindet.

Einfach durchhalten

Viktoria Kejaschenko, eine Musiklehrerin, hat den Angriff auf das Wohnhaus in der Leninstraße Nummer 60 überlebt. Sie erzählte mir einen Tag nach dem Angriff, sie sei »im totalen Stress. Mir zitterten die Knie, gestern und heute morgen. Gestern abend um zehn Uhr hat mich mein Mann gepackt, mich auf den Boden geworfen und mich mit seinem Körper bedeckt. Das war, als die Explosion passierte. Wir lagen auf dem Bett und guckten Fernsehen. Wir haben niemandem etwas getan. Mein Mann sagte zu mir, zieh dich an und schleiche in den Keller. Wo kann man in dem Moment sonst noch hin? Leute aus der Russischen Föderation haben mir Wasser, etwas zu essen und ein Beruhigungsmittel für das Herz gebracht. Bis um halb zwei Uhr nachts haben wir im Keller gesessen. Dann sind wir in unsere Wohnungen gegangen.«

Ob sie keine Angst vor einem zweiten oder dritten Raketenschlag gehabt habe? »Was hätten wir denn tun sollen? Sehr gut ist, dass meine älteren Kinder in Moskau und die jüngeren Kinder in Lugansk mit mir gesprochen haben. Sie haben große Angst gehabt. Sie fragten, Mama, was ist? Lebst du? Ich habe gesagt, wenn ich mit euch spreche, dann lebe ich doch.«

Ob ihre Kinder ihr nicht anboten, zu ihnen überzusiedeln, fragte ich Viktoria. Darauf sagte sie, »bei mir sind es nur noch fünf Jahre bis zur Pension«. Was sie den Menschen in der »Volksrepublik« rate, will ich wissen. »Einfach durchhalten. Wir haben 2014 und 2015 durchgehalten, und wir werden weiter durchhalten.« Ob sie für die Unabhängigkeit der »Volksrepublik Lugansk« ist, fragte ich. Darauf antwortete sie: »Was gibt mir denn die Ukraine? Das hier?« Dabei zeigte sie auf die Trümmer vor ihrem Haus.

veröffenticht in: Junge Welt

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