Felicitas, die eigentlich aus Leipzig kommt, fühlt sich oft einsam. Sie hat eine kleine Wohnung in Hamburg-Ottensen, aber noch keine Freunde. Vor ihrem Fenster rattern die S-Bahn-Züge vorbei und Felicitas ist oft ratlos.
Mit den Jobs ist es sehr schwierig. Felicitas möchte in ihrem erlernten Beruf – sie ist Sozialpädagogin – arbeiten, am liebsten in der Kinder- und Jugendarbeit. Sie bekommt nur Angebote, umsonst zu arbeiten. Notgedrungen schlägt sie sich mit Jobs in der Marktforschung und der Werbung durch.
Felicitas ist die Schlüsselfigur in dem neuen Roman „Aus dem Takt“ von Katrin McClean. Das Leben von Felicitas ähnelt eine Boje auf der Elbe, die von den Wellen hin und her geworfen wird.
Die soziale Kompetenz der jungen Frau aus Ostdeutschland kommt nun der Marktforschung zugute. In einem Call-Center bekommt die Neu-Hamburgerin die Aufgabe, Krebs-Patienten nach ihrem Leben und der Wirkung der Medikamente zu befragen. Sie begleitet Menschen bei Testfahrten von neuen Autos und macht mit bei Video-Aufnahmen, bei denen Hausfrauen über die beste Waschmaschine streiten.
Überwachung
Wären da nicht die Kollegen im Call-Center, mit denen Felicitas gut auskommt, würde es die Sozialpädagogin aus Leipzig auf ihrer Arbeit nicht aushalten. Die Kollegen haben meist interessante Berufe. In gemeinsamen Zigarettenpausen sammelt sich die kreative Unterklasse im Zigaretten-Qualm. Man lästert und albert und schüttelt so den Druck der Supervisoren ab, welche die Mitarbeiter des Call-Centers konstant überwachen und zur „Effektivitätskontrolle“ beim Telefonieren belauschen.
Bei ihrer Arbeit im Call-Center wird Felicitas klar, dass der Kapitalismus in einem Endstadium angelangt ist. Denn es geht nicht mehr um die Befriedigung wirklicher Bedürfnisse. Unternehmen versuchen, mit Hilfe von Marktforschungsunternehmen herauszufinden, mit welchen Finessen man ein neues Produkt ausstatten muss, damit es auf dem schon gesättigten Markt einen Platz findet. Man verspricht die Befriedigung von Bedürfnissen, von denen der Kunde bisher noch nicht wusste, dass er sie überhaupt hat.
Manchmal ist es hart, die schonungslosen Schilderungen vom Leben einer Gelegenheits-Jobberin zu lesen. Aber in dem Roman gibt es immer wieder überraschende Wendungen.
Bei einer dieser Wendungen geschieht es, dass Felicitas auf einem Jazz-Konzert in ihrem Stadtteil den Schlagzeuger Mika sieht, sich in ihn verguckt und die beiden sich verabreden.
Ulrich Heyden im Gespräch mit Katrin McClean. Foto: Ulrich Heyden
Scham
Gegenüber Mika, der ein festes Einkommen aus einer Erbschaft hat, fühlt sich Felicitas nicht vollwertig. Dass sie, um Geld zu verdienen, auf der Straße in einem Drachen-Kostüm Werbezettel verteilt, verheimlicht sie gegenüber ihrem neuen Freund.
Der Job auf der Straße ist hart. Der schwere Kopf des Drachen drückt schmerzhaft auf den Schultern von Felicitas. Im Drachen-Kostüm schwitzt sie. Und es macht sie fast verrückt, dass sie auch noch den Schweiß ihrer Vorgänger im Drachen-Kostüm riechen muss.
Als sie dann plötzlich Mika auf der Straße sieht und sich einbildet, dass er sie beobachtet, bekommt sie fast eine Panik. Sie schwitzt noch mehr, schämt sich für ihren Job und flüchtet schließlich in ihrem Kostüm in eine Nebenstraße.
Mika ist ganz Ästhet aus der Bohème. Mit einem Gefühl der Überlegenheit führt er der Frau aus dem Arbeiter- und Bauernstaat vor, wie man richtig gut kocht, wie man in einer vermüllten Wohnung das Essen stilvoll im Bett serviert und wie man in Kneipen lautstark wildfremde Leute mit angelesenen philosophischen Erkenntnissen unterhält.
Still erträgt Felicitas die extreme Ich-Bezogenheit des Schlagzeugers, seine nächtelangen Kneipenbesuche und seinen Hang zum Alkohol.
Felicitas nimmt Mika, wie er ist. Sie versucht ihn nicht zu verstehen und versucht ihn auch nicht zu ändern. Felicitas liebt Mika. Sie hat Spaß am Sex und sie redet sich ein, dass es mit der Liebe zum Jazz immerhin etwas Gemeinsames gibt.
Doch immer wieder ärgert sie die Arroganz ihres Freundes. Als Mika bei einem gemeinsamen Urlaub in einer alten DDR-Ferienanlage an der Ostseeküste die Duschanlagen in kahlem Beton als „KZ-Duschen“ bezeichnet und über das vergammelte „Volkseigentum“ lästert, nimmt die Neu-Hamburgerin das ruhig hin. Selbst als Mika am Lagerfeuer einer anderen Ost-Frau sehr tief in die Augen guckt, bleibt sie ruhig. Doch in Felicitas Seele beginnt etwas zu zerbrechen.
Mika gibt sich selbstbewusst. Er scheint alles das zu haben, was er braucht. Doch plötzlich bricht er mit einem Herzinfarkt zusammen. Für Felicitas ist klar, dass Mika Opfer seines Perfektionismus wurde. Er habe sich abgerackert, sei nie mit sich zufrieden gewesen und habe nach immer neuen Klängen gesucht, um im heiß umkämpften Musikmarkt zu bestehen.
Der Infarkt ihres Freundes ist nicht der einzige Schock. Mika erklärt seine Beziehung zu Felicitas für beendet. An Mikas Krankenbett trifft Felicitas Gaby, die neue Geliebte des Musikers.
Stöhnen für das Gute
Die Neu-Hamburgerin aus Leipzig fühlt sich verraten. Sie hat weder Arbeit noch Freunde. In einem Antiquariat stößt sie auf ein Buch des sowjetischen Pädagogen Makarenko, der in den 1920er Jahren Straßenkinder wieder in die Gesellschaft integrierte. Felicitas ist fast elektrisiert über den Fund. Das Buch erinnert sie an die Werte, die sie als junge Pionierin in ihrer Jugend vermittelt bekam, anderen Menschen zu helfen und Gutes zu tun. Doch Felicitas weiß nicht, was sie machen soll. Sie beginnt zu trinken.
In einem Ton-Studio im Hamburger Rotlicht-Viertel lässt Felicitas sich auf einen Stöhn-Job ein. Phantasien mit Männern turnen sie nicht an. Sie stöhnt „für das Gute“ und treibt den Mann am Mischpult mit ihren gehauchten Wünschen nach „dem Guten“ zur Verzweiflung. Der Tontechniker schmeißt sie raus.
Felicitas vergräbt sich in ihrer Wohnung und beschließt, ihr Leben zu beenden. Doch als sie schon an den S-Bahn-Schienen steht, klingelt plötzlich ihr Handy. Sozialarbeiter, die ein Sorgentelefon für Kinder betreiben, wollen sie einstellen, allerdings erstmal ohne Gehalt.
Nun scheint es, dass Felicitas endlich Gutes tun kann. Doch sie ist enttäuscht von ihren Mitarbeitern, welche den Fall eines von ihrem Vater missbrauchten Mädchens dem Journalisten einer Hamburger Boulevardzeitung anbieten wollen. Davon versprechen sich die Mitarbeiter des Sorgentelefons mehr Publicity und mehr Einkommen.
Die Neu-Hamburgerin will sich ihre Hoffnung, endlich etwas Gutes zu tun, nicht vermasseln lassen. Sie durchkreuzt den Plan mit der Boulevardzeitung, „leiht“ sich ein Auto ihres Marktforschungsunternehmens und entführt das misshandelte Mädchen in eine ehemalige DDR-Ferienanlage an der Ostsee.
Auf der Fahrt nach Osten, am Steuer des ruhig surrenden Hybrid-Autos, das schlafende Kind auf der Rückbank, die alte Heimat vor Augen, fühlt sich Felicitas wie auf einer Wolke des Glücks.
Happy End
Nach so viel Verzweiflung wirkt das Happy End fast aufgesetzt. Aber Träumen ist ja nicht verboten. Felicitas bringt das misshandelte Kind zurück nach Hamburg, wo es in ein Kinderheim kommt. Niemand zeigt sie wegen Entführung an. Zusammen mit Gaby, der neuen Geliebten von Mika, auf die Felicitas so eifersüchtig war, schmiedet sie den Plan, an der Ostsee ein Ferien-Zentrum für Kinder aus schwierigen Verhältnissen zu starten.
Es scheint, dass die Werte, mit denen Felicitas damals in der DDR aufgewachsen sind, ihr immer noch Halt geben. Etwas Gutes zu tun, das fand sie schon als junge Pionierin toll. Und es begeistert sie noch heute, auch wenn es nicht immer einfach zu verwirklichen ist. Es ist wie mit der Boje auf der Elbe. Die wird zwar in den Wellen hin- und hergerissen, hat aber eine feste Verankerung.
Im Anhang des Buches schreibt die Autorin, ihr Ost-West-Roman „Aus dem Takt“ sei von allen ihren Büchern „das ehrlichste“. Da kein Verlag bereit war, das Buch herauszugeben, habe sie sich entschlossen, es über den Dienstleister tredition in Hamburg selbst herauszugeben.
Katrin McClean wurde als Katrin Dorn in Thüringen geboren. Sie studierte in Leipzig Psychologie und lebt sei 2001 als freie Autorin in Hamburg. Sie veröffentlichte Romane, Erzählungen und Krimis bei Aufbau Berlin, dtv München und anderen Verlagen. Außerdem schreibt sie Drehbücher für die Kinderhörspieleserie „Fünf Freunde“.
Lesetipp: „Aus dem Takt“ von Katrin McClean, Verlag: tredition, 320 Seiten
veröffentlicht in: Nachdenkseiten