11. October 2021

„Wir sind Staub auf dem Schachbrett“ – Der Brief einer in der Ukraine lebenden Russin (Nachdenkseiten)

10. Oktober 2021 um 11:45 Ein Artikel von: 

In einem persönlichen Brief schildert eine in der Ukraine lebende Russin die politischen und sozialen Verwerfungen, die die Ukraine seit dem Maidan-Umsturz 2014 im Griff haben. Die Schilderungen wurden übersetzt von Ulrich Heyden, Moskau.

Vor kurzem erhielt ich von einer Frau aus der Ukraine einen Brief, in dem sie ihre Situation als Russin schildert. Den Namen der Briefeschreiberin kann ich nicht veröffentlichen, da sie sonst womöglich Repressionen ausgesetzt wäre. Ich habe die Ukraine seit 1992 vielmals besucht, dort mehrere Monate gelebt und ich habe dort Freunde. Die Russin, die den Brief schrieb, kenne ich schon viele Jahre.

Hier folgt der von Ulrich Heyden übersetzte Brief:

Hallo!

Ich habe versucht, zu analysieren, inwieweit der ukrainische Faschismus dem deutschen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ähnlich ist.

Es scheint, dass wir zurückgekehrt sind in einen Zustand, der in den dreißiger Jahren in Deutschland herrschte.

Alle Medien werden vollständig von denen kontrolliert, die die Macht im Land ergriffen haben. Man hat die Menschen unterteilt in Richtige und Nicht-Richtige. Wenn Du „richtig“ bist, kannst Du eine Person töten und Dir wird nichts passieren. Die Hauptsache ist, laut zu rufen: „Ehre sei der Ukraine – Ehre den Helden“. Der Gruß der ukrainischen Aufstandsarmee aus den 1940er Jahren ist jetzt der offizielle Gruß der ukrainischen Streitkräfte. Man ruft auch: „Ukraine über alles“. Im Dritten Reich hieß es „Deutschland über alles“.

Die russische Literatur wird zerstört. Es kam vor, dass man russische Bücher öffentlich verbrannt hat. Erinnert das an etwas? Dissidenten werden ins Gefängnis gesteckt und sogar getötet – so geschehen mit dem Schriftsteller Oles Busina und mit den Einwohnern von Odessa, die im Gewerkschaftshaus starben. Diese Morde wurden demonstrativ durchgeführt und nicht aufgeklärt.

Es ist sehr schade, dass die Medien im Westen nichts über die tatsächliche Lage in der Ukraine berichten. Deshalb glauben viele Bürger in den Ländern des Westens, dass es bei uns einen Krieg mit Russland gibt. Uns glauben die Menschen in den Ländern des Westens nicht. Sie sehen nur das, was die Medien ihnen erzählen … Das kann man in den sozialen Netzwerken sehen.

Die russischen Medien machen einen großen Fehler, wenn sie absolute Idioten aus der Ukraine in ihre Sendungen einladen. Daher meint die Mehrheit der Russen, dass in der Ukraine alle zu Idioten geworden sind. Viele wollen nicht verstehen, dass alles das, was passiert ist, kein Zufall ist. Ich führte Fakten an von allen revolutionären Aufständen in Russland seit Beginn des 19. Jahrhunderts und zog Parallelen zu den farbigen Revolutionen des 21. Jahrhunderts. Man hört nicht auf mich. Sowohl von den Vereinigten Staaten als auch vom kollektiven Westen gibt es für das Regime in der Ukraine umfassende Unterstützung.

Viele Bürger der Russischen Föderation schreiben in Kommentaren, dass uns in der Ukraine alles gefällt und wir deshalb nicht kämpfen. Aber wie kann man kämpfen?

Unter der jetzigen Macht in der Ukraine wurden alle Gesetze umgeschrieben. Nach den neuen Gesetzen kann ein Mensch wegen einer anderen Meinung ins Gefängnis kommen. Wenn du anders denkst, dann heißt das, dass du mit deinen Gedanken die territoriale Integrität der Ukraine verletzt. Hier ist der Artikel im Strafgesetzbuch! Geh’ ins Gefängnis!

Die Drecksarbeit für den Geheimdienst erledigen Pseudo-Patrioten und streunende Aktivisten wie Sergej Sternenko. Für jede ihrer illegalen Handlungen, sogar für Morde, werden sie von den ukrainischen Gerichten freigesprochen.

In Odessa gab es am 23. August dieses Jahres einen Vorfall mit einem Bürger der USA. Dieser Amerikaner ging durch die Stadt. Er trug ein T-Shirt mit den Farben der russischen Flagge und der Aufschrift „Russland“. Na und?

Im Polizeirevier erlaubte die Polizei den Radikalen, mit dem US-Bürger „Aufklärungsarbeit zu leisten“. Sie rissen ihm sein T-Shirt vom Leib und warfen es in den Mülleimer. Die Radikalen fotografierten den Pass des Amerikaners. Und das alles vor den Augen der Polizei, direkt in der Wache! Die Polizisten standen, wie am 2. Mai 2014, als das Gewerkschaftshaus brannte, als Zuschauer und guckten zu.

Alles wurde von den Radikalen fotografiert. All diese Fotos kursieren jetzt in den sozialen Netzwerken. Sie posteten die Fotos sogar auf der Website der Mutter des Festgenommenen. Die Radikalen veröffentlichten im Internet sogar die Wohnadresse des Festgenommenen in den USA! Die Fotos des Amerikaners wurden auch auf der Website „Mirotworets“ gepostet, auf der „Feinde der Ukraine“ an den Pranger gestellt werden.

Die Vereinigten Staaten haben sich zu dem Vorfall nicht geäußert. Das T-Shirt des US-Bürgers war ja in den Farben der russischen Flagge und mit der Aufschrift „Russland“. Das widerspricht ihrer Idee. Man muss allen den Glauben einflößen, dass Russland der Feind ist.

Soll ich die Ukraine verlassen? Wohin soll ich fahren? Viele Ukrainer halten die Kreise der Hölle nicht aus, die man durchlaufen muss, um eine Aufenthaltserlaubnis in Russland zu bekommen. Sie kehren zurück, wenn es in der Ukraine noch einen Ort gibt, an den sie zurückkehren können.

Und es gibt solche, die hier alles verkauft haben, aber in Russland keine Arbeit finden konnten. Sie können nirgendwohin zurückkehren … Also riskiere ich es nicht. Ja und warum sollte ich meine Heimatstadt verlassen?

Um ehrlich zu sein, habe ich vor den Ereignissen auf dem Maidan 2013-2014 noch nicht mal über das Thema Auswanderung nachgedacht, so wie die meisten Sowjetbürger, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion außerhalb von Russland befanden. Wir wurden Ausländer … das war ungemütlich. Ich musste mich damit abfinden.

Ab 1991 wurde langsam die Idee vorangetrieben, „Die Ukraine ist nicht Russland“. Sie erfanden die Holodomor-Hungersnot, die Russland vorgeworfen wird. Und so wurde der Hass auf Russland und die Russen eingepflanzt und genährt. Künstlich. Und dieser Hass explodierte und führte im rasanten Tempo zum Februar 2014.

Da fingen alle an, nachzudenken. Bis dahin haben wir gearbeitet, Kinder großgezogen, es gab etwas, was uns nicht gefiel. Aber wir haben uns damit abgefunden. Meine Kinder wurden in der Sowjetunion geboren. Und plötzlich war dieses Land weg.

Irgendwie war es notwendig, zu leben und seinen Lebensunterhalt zu verdienen, Kinder großzuziehen, zu ernähren und zu unterrichten. Wir konnten das Leben nicht aufhalten.

Wer hätte gedacht, dass sich alles umdreht? Und was hätte man damals tun können? Oft kehre ich in Gedanken in diese Zeit zurück. NICHTS! Und was hätten wir 2014 tun können? Selbst da, als auf dem Maidan Menschen zu sterben begannen, konnten die Menschen es immer noch nicht glauben.

Wir gingen zum Anti-Maidan. Wir protestierten. Wir glaubten, dass man alles friedlich lösen kann, mit friedlichen Protesten. Aber während all der Jahre der Unabhängigkeit wurde das vorbereitet. Wir konnten nicht verhindern, dass dieses Szenario zu Ende gespielt wurde.

Ich bin ein gewöhnlicher, einfacher Mensch. Wie können wir gewöhnlichen Menschen eine Maschine aufhalten, die uns unterdrückt und reichlich vom Westen finanziert wird? Alle Medien im Westen berichten nur über das, was passt, um Russland für alles verantwortlich zu machen.

Wir sind nicht einmal Bauern, wir sind Staub auf dem Schachbrett, wo der kollektive Westen gegen Russland spielt.

Die Krim ist weg. Der Donbass revoltierte … Das achte Jahr ist schon Hölle. Friedliche Menschen sterben, darunter auch Kinder. Als normale Frau, als Mutter und Großmutter kann ich nicht anders, als daran zu denken.

Ich habe im Donbass viele Freunde, die dort leben. Manche verließen den Donbass. Sie hielten es nicht mehr aus.

Jetzt sind wir nach Nationalität, Sprache und Religion gespalten. Und auf staatlicher Ebene wird entschieden, welche richtige Menschen sind und welche nicht.

Die russischsprachigen Regionen wurden zu Separatisten erklärt. Hier lebten meine Vorfahren. Hier wurde ich geboren, hier wuchs ich auf. Hier war Russisch immer die Sprache im Alltag. Das ist unsere Muttersprache. Warum wurde uns eines Tages gesagt, dass wir eine andere Muttersprache haben?

Dann verbot man unsere Sprache im Kino, in den Behörden, in den Geschäften … überall. Man verbietet, die Kinder in ihrer Muttersprache zu unterrichten. Unsere Muttersprache wird zum Feind ernannt. Auf staatlicher Ebene wird der Hass zwischen den Nationalitäten angestachelt. Vom Rednerpult der Werchowna Rada hört man Beleidigungen gegen russische und russischsprachige Bürger der Ukraine. Familien zerfallen, Freunde werden zu Feinden. Wozu das Ganze? Und was ist mit dem geeinten Land?

Aber das Schlimmste ist, dass viele Leute es einfach nicht sehen wollen. Sie fühlen sich heute wohl, niemand berührt sie … HEUTE … Sie sehen Fernsehen und glauben an den ausgedachten Feind.

Ein Klassiker:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
(Martin Niemöller)

Aber so wird es kommen

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