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Gleich zu Beginn der Sprechstunde kam ein Feuerwehrmann aus dem Gebiet Kaliningrad zu Wort. Er beschwerte sich, dass er nur umgerechnet 213 Euro im Monat verdiene. Da er von dem Geld nicht leben könne, habe er drei verschiedene Jobs. Putin erklärte, die niedrige Bezahlung bei der Feuerwehr sei ihm bekannt. Er habe sich darum gekümmert, dass es bereits in diesem Jahr eine Erhöhung geben werde.
Das Vertrauen der Russen in Wladimir Putin war nach der umstrittenen Erhöhung des Renteneintrittsalters deutlich gesunken. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums, sank das Vertrauen in Putin von 59 Prozent im November 2017 auf 41 Prozent im März 2019.
In der Bürgersprechstunde warb der russische Präsident für Verständnis wegen unpopulärer Maßnahmen, wie der Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent. Diese Maßnahmen seien nötig, um die Staatskasse zu stabilisieren und um Straßen und Brücken zu bauen.
Der russische Präsident beantwortete ruhig die Fragen von kritischen Bloggern und war sich auch nicht zu schade, zu harter Kritik Stellung zu nehmen. Putin las eine Äußerung eines Bürgers - offenbar von Jemandem aus dem liberalen Lager - vor. "Wohin führt uns die Bande von Patrioten von Einiges Russland?", fragte der Bürger. Putin erklärte, die Mitglieder der Regierungspartei "Einiges Russland" "nehmen Verantwortung auf sich für nicht sehr populäre, aber für das Land nötige Entscheidungen, das heißt, das sind mutige Leute, welche es sich zum Ziel gesetzt haben, das Leben der Bürger zu verbessern".
Doch damit hatte Putin noch nicht alles gesagt. Er machte einen Exkurs in die 1990er Jahre. "Ich will nicht die eine Bande nennen, welche in den 1990er Jahren am Steuerruder standen, aber ich möchte daran erinnern: In der Zeit wurde die Sozialversorgung und die Armee zerstört. Das Land wurde an den Rand des Bürgerkrieges gebracht, es gab Blutvergießen im Kaukasus."
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Putin weiß, dass die Rentenreform und Einkommenseinschränkungen den Russen nicht passen, und er weiß auch, dass die hohe Zahl von Menschen, die am Rande der Armutsgrenze leben, viele besorgt und wütend macht.
Tatsächlich waren die chaotischen 1990er Jahre wesentlich schlimmer, als das, was die Russen heute an sozialen Einschränkungen erleben. Bei Erwachsenen wird der Vergleich Putins zu den 1990er Jahren vielleicht Wirkung zeigen, ob dieser Vergleich aber auch Jugendliche beruhigt, ist fraglich. Sie brauchen konkrete Ziele und Perspektiven für ihre berufliche Zukunft.
So volksnah war die Bürgersprechstunde von Putin noch nie. Korrespondenten des Fernsehkanals Rossija hatten sich in Krankenhäusern im Gebiet Smolensk und Pskow schlau gemacht und erfahren, dass es dort lange Wartezeiten gibt. Sie habe drei Wochen auf einen Arzttermin gewartet, erzählte eine ältere Frau aus dem Gebiet Pskow vor der Kamera.
Doch Schlangen vor der Registratur der Krankenhäuser konnten die Kameraleute des Kanals Rossija nicht filmen. Offenbar waren die Krankenhäuser informiert worden, dass aus ihren Gebäuden live in die Bürgersprechstunde des Präsidenten nach Moskau berichtet werden sollte. Die Dame in der Registratur des Krankenhauses im Gebiet Smolensk behauptete glatt, die Menschen könnten sich ohne lange Wartezeit zu Arzt-Sprechstunden registrieren.
In anderen Krankenhäusern, welche die Reporter für die Live-Schaltung mit Putin aufsuchten, stellte sich heraus, dass es zwar eine Erhöhung der finanziellen Mittel und eine Verbesserung der Ausrüstung, aber einen Mangel an Medizinern gibt, die bereit sind, in kleinen Städten oder Dörfern zu arbeiten.
In der Live-Schaltung wurde auch deutlich, dass es bei der Verteilung von verbilligten Medikamenten für Rentner und andere sozial Benachteiligte in der Provinz Probleme gibt. Zu diesem Thema wurde sogar die russische Gesundheitsministerin zugeschaltet. Sie erklärte, die Medikamente seien in die Provinz geliefert worden. Es gäbe aber Probleme mit der Verteilung vor Ort.
Die von der russischen Regierung bei jeder Gelegenheit gepriesene Digitalisierung in der russischen Verwaltung scheint sich in der Provinz noch nicht durchgesetzt zu haben.
Soviel ist sicher: Putins Bürgersprechstunde hat auch einen erzieherischen Aspekt. Den Beamten in der russischen Provinz will man signalisieren, dass das Auge des Präsidenten überall hinguckt und dass man nie sicher sein kann, ob man nicht irgendwann einmal in einer Bürgersprechstunde beim Präsidenten Rede und Antwort stehen muss.
Der Präsident ließ zu seiner Sprechstunde mehrere russische Blogger mit Millionenpublikum zuschalten. Der patriotische Blogger Dmitri Putschkow forderte von Putin Maßnahmen gegen Fake-News. Putin meinte, man solle zunächst einmal abwarten, wie sich das neue Internet-Gesetz auswirkt.
Der Blogger Amiran Sardarow wollte wissen, ob das russische Internet mit dem neuen Internet-Gesetz vom Rest der Welt abgekoppelt werden soll. Das russische Internet sei von Servern im westlichen Ausland abhängig, erklärte Präsident Putin. Das neue Gesetz für ein "souveränes russisches Internet" solle die Funktionsfähigkeit des russischen Internets aufrechterhalten für den Fall, dass Server im Ausland ausfallen. Er hoffe natürlich, dass das nicht passiert.
Der Blogger Robert Panschwidse zeigte sich besorgt, dass vor einigen Tagen sechs Bürger aus dem Gebiet Archangelsk wegen im russischen Netzwerk vkontakte geäußerter Kritik an Beamten Ärger mit den Sicherheitsorganen bekamen. Darauf antwortete der Präsident, das neue Internet-Gesetz verbiete nicht Kritik an der Macht. Das Gesetz solle ausschließlich sicherstellen, dass die Staatsflagge und das Staatswappen nicht geschändet werden. Das Gesetz dürfe kein Mitteln von Beamten sein, Kritiker mundtot zu machen.
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Wladimir Putin nahm die vom Blogger Panschwidse geäußerte Besorgnis zum Anlass, sich zum Fall des Journalisten Iwan Golunow zu äußern. Dieser war am 6. Juni von Polizisten im Zentrum von Moskau grob wegen angeblichem Drogenhandel verhaftet worden aber am 11. Juni wegen mangels an Beweisen für ein Vergehen wieder freigelassen worden.
Der russische Präsident erklärte, man müsse dafür sorgen, dass keine Personen wegen angeblichen Drogenvergehen ins Gefängnis kommen wie im Fall Golunow. Der Präsident erwähnte in diesem Zusammenhang, dass er am 13. Juni zwei Polizeigeneräle aus dem Dienst entlassen habe, die für die Verhaftung des Journalisten die Verantwortung trugen.
Putin schlug vor, in der Polizei einen speziellen Sicherheitsdienst zu schaffen, der die Tätigkeit der Polizeibeamten kontrolliert und Missstände aufdeckt.
Der Journalist Golunow, der für das in Riga ansässige Kreml-kritische Internetportal Meduza arbeitet, hatte zu einem kriminellen Netzwerk von Beamten und Moskauer Bestattungsunternehmen publiziert. Seine Verhaftung hatten liberale und linke Aktivisten und Zeitungen in Russland als Schlag gegen einen kritischen Journalismus bezeichnet. In Moskau hatte sich gleich drei liberale Zeitungen mit einem gleichlautenden Slogan auf der Titelseite - "Wir sind Golunow" - mit dem Verhafteten solidarisiert.
Putins Bürgersprechstunde am Donnerstag war als äußerst aufwendige Multimedia-Show aufgezogen, in der nicht nur über Probleme sondern auch über schöne, emotionale Momente berichtet wurde. So gab es eine Live-Reportage aus dem fernöstlichen Primorje, wo "zufällig" gerade eine große Rettungsaktion für 100 in kleinen Becken gefangene Schwertwale und Beluga-Wale anlief.
Die Wale hatten gewinnsüchtige Geschäftsleute fangen lassen, um sie nach China und andere Länder zu verkaufen. Umweltschützer hatten wegen dem "Wal-Gefängnis" Alarm geschlagen und seitdem ist das Schicksal der Wale von Primorje immer wieder Thema in den russischen Medien. Nun sollen die Wale in Wannen auf Lastern über eine Strecke von 1.000 Kilometern zu ihren ursprünglichen Lebensbereich zurückgebracht werden.
Putins Bürgersprechstunde endete mit einer Erzählung, die den Präsidenten fast zum Weinen brachte. Ob er sich schon einmal für etwas geschämt habe, wollte ein Bürger wissen. Der Präsident erinnerte sich an eine Begebenheit Anfang der 2000er Jahre, als ihm eine alte Frau auf Knien einen Zettel überreicht habe. Sie bat den gerade gewählten Präsidenten um Hilfe für einen Verwandten. Er habe den Zettel an einen Mitarbeiter weitergereicht, erzählte der Präsident. Doch dann sei der Zettel verloren gegangen. Dafür schäme er sich bis heute. Man sah, dass Putin mit den Tränen kämpfte.
Wirklich Zufälle gibt es in der Bürgersprechstunde des Präsidenten wohl kaum. Alles wirkt ziemlich geplant. Auffällig ist, dass nur Fragen vorgelesen werden, auf welche Putin eine Antwort geben kann, Fragen, die Hoffnung machen oder die klar machen, dass die Schuld für einen Missstand nicht bei Putin, sondern bei einem Mitglied der Regierung oder einem Beamten liegt.
Die Bürgersprechstunde ist nicht nur eine Art Dialog zwischen Macht und Volk, sondern auch ein Mittel, um einzelnen, korrupten oder untätigen Politikern und Spitzenbeamten zu signalisieren, dass sie sich nicht zu sicher fühlen sollen.
Ulrich Heyden
veröffentlicht in Telepolis