23. January 2012

Wo Vierbeiner das U-Bahn-Fahren lernen


In Russlands Hauptstadt leben elf Millionen Menschen und rund 35000 herrenlose Hunde. Ich ging gerade durch die unterirdischen Gewölbe in der U-Bahn-Station „Kiewskaja“ Richtung Ausgang. Vor mir schleppte ein kräftiger Mann drei schwere Taschen, aus denen es herzzerreißend jaulte. Als wir auf der Rolltreppe nach oben standen, stellte der Mann zwei Taschen ab. Und immer wenn es jaulte, ließ er die dritte Tasche auf eines der abgestellten Behältnisse fallen, als sei das die normalste Sache der Welt. Das Jaulen hörte dann eine Zeitlang auf.
Als ich einer Frau, die neben mir stand, entrüstet erklärte, ich würde oben sofort die Polizei informieren, stimmte mir die Blonde sofort zu. Der Mann sei wohl ein Hundehändler, meinte ich. Dann lief ich schnell zu einem der Polizisten, die dort immer die Passanten in Augenschein nehmen. „Da transportiert jemand Hunde in Taschen“, sagte ich ziemlich aufgeregt zu dem Ordnungshüter.
Der Polizist reagierte zu meiner Überraschung augenblicklich und rannte dem stämmigen Mann hinterher und stellte ihn zur Rede. Ich sah, wie der Mann eine der Taschen öffnete und ein junger Hund nach frischer Luft schnappte. Das Tier hatte aschgraues Fell und einen schönen Kopf. Billig sah dieser Vierbeiner nicht aus. Für mich war klar, dass es sich um einen Hundehändler handelte. Der Polizist beließ es bei einer Verwarnung und ging wieder auf seinen Posten. Ein Passant, mit dem ich über den Vorfall ins Gespräch kam, meinte philosophisch, „ein Hund wird einen Menschen niemals verraten, aber ein Mensch einen Hund schon“. Ich musste noch lange über diesen Satz nachdenken.
Es gibt in der Elf-Millionen-Stadt viele herzlose Hundezüchter, die in einer Zwei-Zimmer-Wohnung eine Zucht mit teuren afghanischen Windhunden aufziehen, wie ich selbst einmal gesehen habe. Doch die meisten Russen haben ein großes Herz für die zottigen Vierbeiner. So begreift eine Moskauer Hausfrau es als ihre heilige Pflicht, abgenagte Knochen aus der Küche nicht in den Müll zu werfen, sondern sie neben dem Müllcontainer in einer geöffneten Plastiktüte bereitzustellen. Die streunenden Hunde – Experten schätzen ihre Zahl auf 35000 – haben sich an diese Form der Nachbarschaftsversorgung gewöhnt. Die herrenlosen Vierbeiner leben meist in Rudeln am Rande von Freiluftmärkten und Müll-Containern. Häufig sieht man die Tiere auch in der Metro auf Rolltreppen und sogar in U-Bahn-Waggons. Und es kommt auch vor, dass es sich ein Vierbeiner auf der Sitzbank bequem macht. Das Erstaunliche: Die U-Bahn-Benutzer reagieren auf diese Art der Sitzplatznutzung meist belustigt und gelassen.
Die streunenden Hunde hätten inzwischen ein ausgezeichnetes Gedächtnis, berichtet der Ethnologe Andrej Neuronow. So würden die Vierbeiner in der U-Bahn nicht einfach nur mitfahren, sondern bei „ihrer“ Station aussteigen.
Trotz eines von der Stadtverwaltung organisierten Sterilisierungsprogramms bleibt die Zahl der Streuner in Moskau hoch. Die Maßnahmen der Stadt rufen immer wieder die Tierschützer auf den Plan. Es gibt herzzerreißende Videos über die kleinen Zwinger der Moskauer Hunde-Sammelstellen, wo die Tiere bei schmaler Kost und fehlender ärztlicher Versorgung nicht lange überleben. Die Bestrebungen der Stadtverwaltung, das Hunde-Problem durch Deportation zu lösen, stießen sofort auf Protest. 300 Tierschützer und bekannte Künstler demonstrierten deshalb im letzten Jahr vor dem Amtssitz des Bürgermeisters. Die Aktivisten kritisierten die Maßnahme als „völlig unzivilisiert“ und sinnlos. veröffentlicht in: Sächsische Zeitung
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