1. July 2009

Wodka-Debatte mit politischer Färbung

Russland. Vom Alkoholmonopol über die Budgetsanierung bis zur gescheiterten Internetüberwachung von Produktion und Verkauf.

ULRICH HEYDEN Moskau (SN, n-ost). Der Vorsitzende des russischen Parlaments, der Duma, forderte die Wiedereinführung des staatlichen Alkoholmonopols. Mit den Einnahmen aus dem Spirituosenverkauf könne der Staatshaushalt jährlich bis zu neun Milliarden Euro erhalten, betonte Boris Gryslow in einem Gespräch mit Regierungschef Wladimir Putin, der den Vorschlag prüfen will. Schon zu Zaren- und Sowjetzeiten habe der Staat 30 bzw. 20 Prozent seiner Einnahmen aus dem Alkoholverkauf bestritten, behauptete der Duma-Vorsitzende.

Experten halten dies allerdings für weit übertrieben. Als neuer Staatsmonopolist kommedas Unternehmen „Rosspirtprom“ in Frage, meinte die Zeitung „Nesawissimaja Gazeta“. Die Staatsfirma kontrolliert 40 Prozent der Produktion von reinem Alkohol. In Wirklichkeit richtet der Wodka in Russland gewaltigen Schaden an. Mehr als die Hälfte der Todesfälle im Alter zwischen 15 und 54 Jahren sind auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen. Das berichtet das Fachjournal „Lancet“ in seiner am Samstag erscheinenden Ausgabe. Jeder vierte Tote – in Zahlen: eine halbe Million Menschen im Jahr – ist den Folgen des Wodka-Konsums erlegen. Die Lebenserwartung der russischen Männer liegt bei knapp 62 Jahren. Ohne Gastarbeiter würde in Russland mit seinen 142 Millionen Einwohnern gar nichts mehr laufen.
Die „Gesellschaftskammer“, ein weitgehend machtloses Expertengremium zur Lösung nationaler Probleme, beziffert den wirtschaftlichen Schaden durch den Alkoholrausch auf umgerechnet rund 39 Milliarden Euro pro Jahr – etwa für die kostspielige Behandlung von Alkoholkranken. Russische und ausländische Wissenschafter haben für ihre Studie im Auftrag der Kammer mehr als 60.000 Todesfälle in drei russischen Provinzstädten untersucht.
Um die Volksseuche in den Griff zu bekommen, wurde 2006 noch unter der Präsidentschaft von Wladimir Putin das internetgestützte System „EGAIS“ eingeführt, mit dem der Staat Produktion und Verkauf von Alkohol landesweit mit Hilfe von Strichcodes, Scannern und Internet kontrollieren und illegale Produktion und Import unterbinden wollte. Doch das System, das von der Firma „Atlas“ – einem Unternehmen des russischen Geheimdiensts – entwickelt wurde, stürzte immer wieder ab und erfasst wegen Programmfehlern bis heute nur die Produktion von Alkohol, nicht aber den Verkauf.
Die „EGAIS“-Einführung führte 2006 zum landesweiten Zusammenbruch des Alkoholverkaufs. Zwischen Kaliningrad und Wladiwostok konnte man über Wochen weder Wein noch Wodka kaufen. In ihrer Not griffen viele Russen zu Reinigungsmitteln und anderen alkoholhaltigen Flüssigkeiten. Die Zahl der Toten schnellte drastisch in die Höhe. Präsident Dmitrij Medwedew erklärte vor Kurzem, er sei von Anfang an überzeugt gewesen, dass „EGAIS“ nichts bringe. Indirekt kritisierte er damit auch Putin, dessen ehemalige Geheimdienstkollegen bis heute an den „EGAIS“-Programmfehlern tüfteln.

"Salzburger Nachrichten"

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