15. June 2016

Zarenschlamm ist billig

Krim - Die Halbinsel wird wieder zum Magneten für Touristen. Sie kommen bei weitem nicht nur aus Russland
 
Wenn hinter den Bergketten bei Jalta die Sonne untergeht, ist an der Hafenpromenade noch viel los. Rollschuhfahrer, Kinder in Tret-Mobilen, Radfahrer und Flaneure bevölkern das Areal zwischen Hafenbecken und Lenin-Denkmal. Im Wasser dümpeln Yachten und Barkassen.

Wenn der Blick über die Bucht schweift, kann es sein, dass er an einer Fassade hängen bleibt. Jemand hat die Wand mit einem riesigen Gemälde versehen: Wladimir Putin mit verspiegelter Sonnenbrille und aufgekrempelten Ärmeln hinter einem mächtigen Schiffssteuerrad, daneben ein russischer Düsenjet, der einen Schweif in den Farben der russischen Trikolore durch die Luft zieht. Der Präsident ist auf der Krim allgegenwärtig und zeigt auf allen Plakaten einen freundlichen Blick, darunter findet sich zumeist der Slogan: „Krim – Russland – für immer“. Putins einzige Konkurrenz sind Poster von Wladimir Schirinowski, dem Ultrapatrioten und Chef der Liberaldemokratischen Partei.

Phantomschmerz

Im Hafenviertel fallen die vielen frisch renovierten Häuser auf, darunter das Hotel Oreandа, Baujahr 1907, mit seinen langgezogenen Balkonen. Vor dem Portal erinnert ein Denkmal an den 1993 verstorbenen Schriftsteller Julian Semjonow, der auf der Krim viele seiner Romane schrieb, weil es sich hier „so leicht und mit Freude“ arbeiten lasse, soll er einmal gesagt haben. Das Haus Oreanda zählte zu Semjonows geschätzten Refugien, doch ist nicht überliefert, ob er dort sein bekanntestes, in den 70er Jahren verfilmtes Buch 17 Augenblicke des Frühlings schrieb, die Geschichte des sowjetischen Spions Max-Otto von Stierlitz, der – getarnt als SS-Standartenführer – im Berliner Reichssicherheitshauptamt ein- und ausging.

Unterwegs zum Strand komme ich mit einem jungen Bauarbeiter ins Gespräch, der Säcke mit Zement auf eine Schubkarre lädt. Er verdiene 800 Rubel am Tag und 24.000 (320 Euro) im Monat, sagt der gut 30-Jährige, das Doppelte des durchschnittlichen Branchenlohns drüben in der Ukraine. Er besitze zwar noch einen ukrainischen Pass, wolle aber ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht auf der Krim und nicht zurück in die alte Heimat. Von seinen Eltern wisse er, dass es dort keine Arbeit gebe und junge Soldaten in ihren Panzern eingeschweißt würden, damit sie im Donbass kämpfen, anstatt zu fliehen.

Es ist noch früh. Touristen sind erst wenige zu sehen. Ich gehe das Steilufer hinunter zum Strand, wo die Wellen auf einen Kieselstrand treffen. Wie sich herausstellt, ist auch der Besitzer eines Cafés in den Dünen gebürtiger Ukrainer, der sich darüber beklagt, dass die russische eine bürokratische Ordnung sei. Es dauere länger als früher, wolle man die Lizenz erneuern lassen, außerdem kämen nur noch wenige ukrainische Touristen. Als ich ungläubig nachfrage, meint er, ja, durchaus, reiche Ukrainer würden weiter auf die Krim reisen.

Stimmt die offizielle Tourismusstatistik, sieht die Lage besser aus, als sie der Cafétier beschreibt. Den Rückgang von Reisen aus der Ukraine kompensieren Touren, die von Russland aus angetreten werden. 2015 waren 4,2 Millionen Touristen auf der Halbinsel, in diesem Jahr sollen es 4,9 Millionen werden. Zu Sowjetzeiten erholten sich hier bis zu zwölf Millionen Menschen im Jahr. Auf eine Rückkehr zu solchen Zahlen hofft man auf der Krim, falls die Türkei als Urlaubsland weiter boykottiert wird und Ägypten seit dem Attentat auf eine russische Passagiermaschine Ende Oktober 2015 als Reiseziel gemieden wird.

Oleg, Portier im Hotel Sosnowaja Roscha, ist aufgefallen, dass „die ukrainischen Touristen sehr viel politisieren. Sie schimpfen auf Russland und denken, dass hier auf der Krim alle mit Maschinenpistolen rumlaufen. Sie kommen hierher, sind überzeugt, auf eine Diktatur zu treffen, und wundern sich, wenn die ihnen erspart bleibt“. Viele würden denken, „dass Russland in drei Tagen zusammenbricht und die Ukraine dann auf die Krim zurückkehren kann. Offenbar wird ihnen das zu Hause erzählt.“ Letzten Sommer seien viele ukrainische Touristen in ihren Wischiwankis (Hemden im ukrainischen Stil) und mit ukrainischen Flaggen herumgelaufen. „Sie saßen abends in den Bars und sangen die ukrainische Nationalhymne. Irgendwie schien das kein normales Verhalten zu sein“, meint Oleg.

Keine Visa

Als krimtatarische Nationalisten vergangenen November alle vier Stromleitungen aus der Ukraine in Richtung Krim sprengten, hätten seine Verwandten in der Ukraine gesagt, „ohne uns überlebt ihr nicht“. Panik habe es nicht gegeben. Stromsperren, sagt Oleg, kenne man auf der Krim noch aus der Zeit, als Julia Timoschenko in Kiew Ministerpräsidentin war. „Damals wurde der Strom an manchen Tagen bis zu fünf Stunden abgeschaltet.“ Nach dem Strom-Blackout habe das russische Notstandsministerium Feldküchen und Wärmezelte aufgestellt.

Ob es während des Blackouts Witze über Putin gab? „Nein, die meisten sind für ihn. Aber Sie wissen ja, so viele Leute, so viele Meinungen. Natürlich wird auch auf ihn geschimpft. Aber ich bin der Meinung, wir werden alles überleben. Wir sind nach Hause gekommen, nach Russland. Man hört oft, wir hätten im März vor zwei Jahren beim Referendum unter Gewehrläufen abgestimmt. Die Wahrheit ist das nicht. Es war ein windiger Tag, und alle gingen zu den Wahllokalen.“

Ich bin neugierig, was das Haus Sosnоwajа Roscha so bietet. Oleg führt mich durch die Wandelhalle, das Schwimmbad, in die Sauna und dann zu Lidia. Die Krankenschwester arbeitet im Gesundheitstrakt mit Zarskaja Grjas (Zarenschlamm), ein heilender, weltweit bekannter schwarzer Schlamm, der an der Westküste gewonnen wird. Es ist Vormittag, noch werden keine Patienten behandelt. Der Schlamm liegt bei knapp 40 Grad Celsius in dicken Klumpen im Wärmeofen. Pensionäre aus Deutschland kämen nur wegen dieser warmen Schlammpackungen hierher und blieben oft mehrere Wochen lang , versichert Lidia und zeigt als Beweis ein Schild mit der Aufschrift „Moorbäder“, das sie bei Bedarf an die Tür hängt. Die Preise für Schlammpackungen sind nicht sonderlich hoch.

Alteingesessene Bewohner der Krim erregen sich über zu viel Bürokratie. Sie müssen nach einer Übergangszeit ihre Autos mit russischen Nummernschildern ausrüsten lassen. Zwar behalten ukrainische Urkunden über Wohnungseigentum ihre Gültigkeit, doch wer sein Haus oder seine Wohnung verkaufen will, muss das nach russischem Recht abwickeln. Neben diesen Umstellungen sind die westlichen Sanktionen für die Krim weiter spürbar. Die Botschaften der EU-Staaten stellen für die Bewohner der Halbinsel keine Schengen-Visa aus. Westliche Investoren meiden die Region sowieso, selbst russische Großbanken ziehen ab. Großprojekte wie den Bau eines neuen Flughafenterminals für Jalta übernehmen regionale Geldhäuser. Wer mit dem Linienbus über die Halbinsel tourt, sieht viele Minarette und von Krimtataren geführte Restaurants. Was die größte Änderung im Leben dieser Volksgruppe in den vergangenen zwei Jahren war, will ich von Edip Gafarow, dem Vorsitzenden des Krim-Parlamentskomitees für zwischennationale Beziehungen wissen. „Wir haben die Rehabilitierung erhalten, auf die wir 25 Jahre gewartet haben“, sagt Gafarow, der als Krimtatare im usbekischen Samarkand geboren wurde. Im Mai 1944 waren etwa 180.000 Angehörige aus dieser Volksgruppe als „Verräter“, die der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg schaden könnten, nach Zentralasien deportiert worden.

Welche Auswirkungen die Rehabilitierung heute habe, will ich wissen. „Sie verhilft jedem Krimtataren zu sozialen Vergünstigungen“, sagt Gafarow. „Alle rehabilitierten Pensionäre erhalten einen monatlichen Rentenzuschlag von 500 Rubel (etwa sieben Euro). Die Rehabilitierten haben außerdem das Recht, kostenlos Land und eine Wohnung zu bekommen.“

Der 63-jährige Gafarow vertritt als Vorsitzender seines Komitees in der Legislative von Simferopol nicht nur die Interessen der 232.000 Krimtataren, die man 2015 bei einer Volkszählung auf der Krim ermittelte, sondern auch die anderer Minderheiten wie Armenier und Bulgaren. „Wir haben 175 Nationalitäten auf der Krim“, rechnet Gafarow vor. Angesprochen auf die Spaltung zwischen gemäßigten und radikalen Krim-Tataren meint er: „Wer arbeiten und sich einrichten will, der tut das. Wer nicht arbeiten und sich nicht einrichten will, für den ist es egal, an welchem Ort er lebt. Der wird auch anderswo nicht finden, was er sucht.“ Führt der neue krimtatarische Fernsehsender Millet in Simferopol auch Debatten mit den Tataren, die Kiew unterstützen? Der Kanal habe gerade begonnen, ein Programm auszustrahlen, meint Gafarow. „Vermutlich gibt es solche Diskussionen.“ Sehr bestimmt klingt das nicht.
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 22/16.

veröffentlicht in der Freitag

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